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Schiller an Herzog v. Augustenburg, 3. Dezember 1793

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Ludwigsburg am 3. Dez. [Dienstag] 93.

Durchlauchtigster Prinz,

Mit einem gemischten Gefühl von Verlegenheit und Muth ergreife ich heute die Feder. Ich habe die Frage zu beantworten, wieviel die Tugend durch den Geschmack gewinnt, und fürchte daher in einen noch ernsthafteren, und für eine schriftliche Unterhaltung noch weniger schicklichen Ton, als bisher, zu verfallen. Doch ich erinnere mich zugleich, an wen ich schreibe, und wenn auch vielleicht die Wahl meines heutigen Gegenstandes den delikaten Geschmack des Weltmanns beleidigen sollte, so werde ich an dem Herzen des Tugendfreundes und an der Wahrheitsliebe des philosophischen Denkers, dem kein Gegenstand der Untersuchung, am wenigsten ein solcher, gleichgültig ist, desto nachdrücklichere Vertheidiger finden.

Ich bekenne gleich vorläufig, daß ich im Hauptpunkt der Sittenlehre vollkommen kantisch denke. Ich glaube nemlich und bin überzeugt, daß nur diejenigen unsrer Handlungen sittlich heißen, zu denen uns blos die Achtung für das Gesetz der Vernunft und nicht Antriebe bestimmten, wie verfeinert diese auch seyen, und welch imposante Nahmen sie auch führen. Ich nehme mit den rigidesten Moralisten an, daß die Tugend schlechterdings auf sich selbst ruhen müsse, und auf keinen von ihr verschiedenen Zweck zu beziehen sey. Gut ist (nach den Kantischen Grundsätzen, die ich in diesem Stück vollkommen unterscheide) gut ist, was nur darum geschieht, weil es gut ist.

Wenn ich also dem Geschmack das Verdienst zuschreibe, zu Beförderung der Sittlichkeit beyzutragen, so kann meine Meinung gar nicht seyn, daß der Antheil, den der gute Geschmack an einer Handlung nimmt, diese Handlung zu einer sittlichen machen könne. Das Sittliche darf nie einen andern Grund haben, als sich selbst. Der Geschmack kann die Moralität des Betragens begünstigen, wie ich in dem gegenwärtigen Brief zu erweisen hoffe, aber er selbst kann durch seinen Einfluß nie etwas moralisches erzeugen.

Es ist hier mit der innern und moralischen Freiheit ganz derselbe Fall wie mit der äußern und physischen. Frey in dem letztern Sinne handle ich nur alsdann, wenn ich, unabhängig von jedem fremden Einfluß, blos meinem Willen folge. Aber die Möglichkeit, meinem eigenen Willen uneingeschränkt zu folgen, kann ich doch zuletzt einem von mir verschiedenen Grund zu danken haben, sobald angenommen wird, daß der letztere meinen Willen hätte einschränken können. Ebenso kann ich die Möglichkeit, gut zu handeln, zuletzt doch einem von meiner Vernunft verschiedenen Grunde zu danken haben, sobald dieser letztere als eine Kraft gedacht wird, die meine Gemüthsfreiheit hätte einschränken können. Wie man also gar wohl sagen kann, daß ein Mensch von einem andern Freiheit erhalte, obgleich die Freiheit selbst darin besteht, daß man überhoben ist, sich nach andern zu richten; ebenso gut kann man sagen, daß der Geschmack zur Tugend verhelfe, obgleich die Tugend selbst es ausdrücklich mit sich bringt, daß man sich dabey keiner fremden Hülfe bediene.

Eine Handlung hört deswegen gar nicht auf, frey zu heißen, weil glücklicherweise derjenige sich ruhig verhält, der sie hätte einschränken können; sobald wir nur wissen, daß der Handelnde dabey blos seinem eigenen Willen folgte, ohne Rücksicht auf einen fremden. Ebenso verliert eine innere Handlung deswegen das Prädikat einer sittlichen noch nicht, weil glücklicherweise die Versuchung fehlen, die sie hätten rückgängig machen können; sobald wir nur annehmen, daß der Handelnde dabey blos dem Ausspruch seiner Vernunft, mit Ausschließung fremder Triebfedern, folgte. Die Freiheit einer äußern Handlung beruht blos auf ihrem unmittelbaren Ursprung aus dem Willen der Person; die Sittlichkeit einer innern Handlung blos auf der unmittelbaren Bestimmung des Willens durch das Gesetz der Vernunft.

Vergönnen mir Ew. Durchl., daß ich diese Analogie noch weiter ausführe. Es kann uns schwerer oder leichter werden, als freie Menschen zu handeln, je nachdem wir auf Kräfte stoßen, die unserer Freiheit entgegenwirken, und bezwungen werden müssen. In so fern giebt es Grade der Freiheit. Unsere Freiheit ist größer, sichtbarer wenigstens, wenn wir sie bei noch so heftigem Widerstand feindseeliger Kräfte behaupten, aber sie hört darum nicht auf, wenn unser Wille keinen Widerstand findet, oder wenn eine fremde Gewalt sich ins Mittel schlägt, und diesen Widerstand ohne unser Zuthun vernichtet.

Ebenso mit der Moralität. Es kann uns mehr oder weniger Kampf kosten, unmittelbar der Vernunft zu gehorchen, je nachdem sich Antriebe in uns regen, die ihren Vorschriften widerstreiten, und die wir abweisen müssen. In so fern giebt es Grade der Moralität. Unsere Moralität ist größer, hervorstechender wenigstens, wenn wir bey noch so großen Antrieben zum Gegentheil, unmittelbar der Vernunft gehorchen; aber sie hört deswegen nicht auf, wenn sie keine Anreitzung zum Gegentheil findet, oder wenn etwas anderes als unsere Willenskraft diese Anreitzung entkräftet. Genug, wir handeln sittlich gut, sobald wir blos darum so handeln, weil es sittlich ist, und ohne uns erst zu fragen, ob es auch angenehm ist – gesetzt auch, es wäre die größte Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß wir anders handeln würden, wenn es uns Schmerz machte oder ein Vergnügen entzöge.

Zur Ehre der menschlichen Natur läßt sich annehmen, daß kein Mensch so tief sinken kann, um das Böse blos deswegen, weil es böse ist, vorzuziehen, sondern daß jeder ohne Unterschied das Gute vorziehen würde, weil es das Gute ist, wenn es nicht zufälligerweise das Angenehme ausschlösse, oder das Unangenehme nach sich zöge. Alle Unmoralität in der Wirklichkeit scheint also aus der Kollision des Guten mit dem Angenehmen, oder was auf eines hinausläuft, der Begierden mit der Vernunft zu entspringen, und einer Seits die Stärke der sinnlichen Antriebe, andrer Seits die Schwäche der moralischen Willenskraft zur Quelle zu haben. Moralität kann also auf zweyerlei Weise befördert werden, wie sie auf zweyerlei Weise gehindert wird. Entweder man muß die Parthey der Vernunft und die Kraft des guten Willens verstärken, daß keine Versuchung ihn überwältigen könne, oder man muß die Macht der Versuchungen brechen, damit auch die schwächere Vernunft und der schwächere gute Wille ihnen noch überlegen sey.

Zwar könnte es scheinen, als ob durch die letztere Operation die Moralität selbst nichts gewänne, weil mit dem Willen, dessen Beschaffenheit doch allein eine Handlung moralisch macht, keine Veränderung dabey vorgeht. Das ist aber auch in dem angenommenen Fall gar nicht nöthig, wo man keinen schlimmen Willen, der verändert werden müßte, nur einen guten, der schwach ist, voraussetzt. Und dieser schwache gute Wille kommt auf diesem Weg doch zur Wirkung, was vielleicht nicht geschehen wäre, wenn starke Antriebe ihm entgegengearbeitet hätten. Wo aber ein guter Wille der Grund einer Handlung wird, da ist wirklich Moralität vorhanden.

Ich trage also kein Bedenken, Gnädigster Prinz, den Satz aufzustellen, daß dasjenige die Moralität wahrhaft befördere, was den Widerstand der Neigung gegen das Gute vernichtet.

Der gefährlichste innere Feind der Moralität ist der sinnliche Trieb, der sobald ihm ein Gegenstand vorgehalten wird, nach Befriedigung strebt, und sobald die Vernunft etwas ihm anstößiges gebietet, ihren Vorschriften sich entgegensetzt. Dieser sinnliche Trieb ist ohne Aufhören geschäftig, den Willen in sein Interesse zu ziehen, der doch unter sittlichen Gesetzen steht, und die Verbindlichkeit auf sich hat, sich mit den Ansprüchen der Vernunft nie im Widerspruche zu befinden. Der sinnliche Trieb aber erkennt kein sittliches Gesetz, und will sein Objekt durch den Willen realisiert haben, was auch die Vernunft dazu sprechen mag. Diese Tendenz unserer Begehrungskraft, dem Willen unmittelbar und ohne alle Rücksicht auf höhere Gesetze zu gebieten, steht mit unserer sittlichen Bestimmung im Streite, und ist der stärkste Gegner, den der Mensch in seinem moralischen Handeln zu bekämpfen hat.

Rohen Gemüthern, denen es zugleich an moralischer und an ästhetischer Bildung fehlt, giebt die Begierde unmittelbar das Gesetz, und sie handeln blos, wie ihren Sinnen gelüstet. Moralischen Gemüthern, denen aber die ästhetische Bildung fehlt, giebt die Vernunft unmittelbar das Gesetz, und es ist blos der Hinblick auf die Pflicht, wodurch sie über Versuchungen siegen. In ästhetisch verfeinerten Gemüthern ist noch eine Instanz mehr, welche nicht selten die Tugend ersetzt, wo sie mangelt, und da erleichtert, wo sie ist.

Diese Instanz ist der Geschmack. Der Geschmack fordert Mäßigung und Anstand, er verabscheut alles, was eckigt, was hart, was gewaltsam ist, und neigt sich zu allem, was sich leicht und harmonisch zusammenfügt. Daß wir auch im Sturm der Empfindung die Stimme der Vernunft anhören, und den Ausbrüchen der Natur eine Grenze setzen, dies fordert schon bekanntlich der gute Ton, der nichts anderes ist als ein ästhetisches Gesetz, von jedem civilisierten Menschen. Dieser Zwang, den sich der civilisierte Mensch bei Aeußerung seiner Affekte auflegt, verschafft ihm über diese Affekte selbst einen Grad von Herrschaft, erwirbt ihm wenigstens eine Fertigkeit, den blos leidenden Zustand seiner Seele durch einen Akt von Selbstthätigkeit zu unterbrechen, und den raschen Uebergang der Gefühle in Handlungen durch Reflexion aufzuhalten. Alles aber, was die blinde Gewalt der Affekte bricht, bringt zwar noch keine Tugend hervor (denn diese muß immer ihr eigenes Werk seyn), aber es macht dem Willen Raum, sich zur Tugend zu wenden.

Der Geschmack ist also als der erste Kämpfer anzusehen, der in einem ästhetisch verfeinerten Gemüth gegen die rohe Natur heraustritt, und, ehe die Vernunft noch nöthig hat, sich als Gesetzgeberin ins Mittel zu schlagen, und in Forma zu sprechen, diesen Angriff zurücktreibt. Dieser Sieg des Geschmacks über den rohen Affekt ist aber ganz und gar keine sittliche Handlung, und die Freiheit, welche der Wille hier durch den Geschmack gewinnt, noch ganz und gar keine moralische Freiheit. Der Geschmack befreit das Gemüth blos darum von dem Joch des Instinkts, um es in seinen Fesseln zu führen, und indem er den ersten und offenbaren Feind der sittlichen Freiheit entwaffnet, bleibt er selbst nicht selten als der zweyte noch übrig, der unter der Hülle des Freundes nur desto gefährlicher seyn kann. Der Geschmack nemlich regiert das Gemüth auch blos durch den Reiz des Vergnügens – eines edleren Vergnügens freilich, weil die Vernunft seine Quelle ist – aber wo das Vergnügen den Willen bestimmt, da ist noch keine Moralität, da ist blos ein Tausch der Ketten vorgegangen.

Etwas Großes ist aber doch bey dieser Einmischung des Geschmacks in die Operationen des Willens gewonnen worden. Alle jene materielle Neigungen und rohe Begierden, die sich der Ausübung des Guten oft so hartnäckig und stürmisch entgegensetzen, sind durch den Geschmack aus dem Gemüthe verwiesen, und an ihrer Statt edlere und sanftere Neigungen darin angepflanzt worden, die sich auf Ordnung, Harmonie und Vollkommenheit beziehen, und wenn sie gleich selbst keine Tugenden sind, doch ein Objekt mit der Tugend theilen. Wenn also jetzt die Begierde spricht, so muß sie eine strenge Musterung vor dem Schönheitssinn aushalten; und wenn jetzt die Vernunft spricht, und Handlungen der Ordnung, Harmonie und Vollkommenheit gebietet, so findet sie nicht nur keinen Widerstand, sondern vielmehr den lebhaften und feurigen Beyfall der Natur.

Wenn wir nemlich die verschiedenen Formen durchlaufen, unter welchen sich die Sittlichkeit äußern kann, so werden wir sie alle ohne Mühe auf diese zwey zurückführen können. Entweder macht die Sinnlichkeit (die Natur) die Motion im Gemüth, daß etwas geschehe oder nicht geschehe, und der Wille verfügt darüber nach dem Vernunftgesetz; oder die Vernunft macht die Motion, und der Wille gehorcht ihr, ohne Anfrage bey den Sinnen.

Die griechische Prinzessin Anna Komnena erzählt uns von einem gefangenen Rebellen, den ihr Vater Alexius, da er noch General seines Vorgängers war, den Auftrag gehabt habe, nach Konstantinopel zu eskortieren. Unterwegs, als beide zusammen ritten, bekömmt Alexius Lust, unter dem Schatten eines Baumes Halt zu machen, und sich da von der Sonnenhitze zu erhohlen. Bald übermannte ihn der Schlaf, nur der Andre, dem die Furcht des ihn erwartenden Todes keine Ruhe ließ, blieb munter. Indem jener nun in tiefem Schlafe lag, erblickte der letztere des Alexius Schwerdt, das an einem Baumzweige aufgehangen war, und geräth in Versuchung, sich durch Ermordung seines Hüters in Freiheit zu setzen. Anna Komnena giebt zu verstehen, daß sie nicht wüßte, was geschehen seyn würde, wenn Alexius nicht glücklicherweise sich noch ermuntert hätte. Hier, Gnädigster Prinz, war nun ein moralischer Rechtshandel der ersten und heraufsteigenden Gattung, wo der sinnliche Trieb den ersten Antrag machte, und die Vernunft erst darüber als Richterin erkannte. Hätte jener nun die Versuchung aus bloßer Achtung für die Gerechtigkeit besiegt, so wäre kein Zweifel, daß er moralisch gehandelt hätte.

Als der verewigte Herzog Leopold von Braunschweig an den Ufern der reißenden Oder mit sich zu Rathe ging, ob er sich mit Gefahr seines Lebens dem stürmischen Strom überlassen sollte, damit einige Unglückliche gerettet würden, die ohne ihn hülflos waren – und als er (ich setze diesen Fall) einzig aus Bewußtseyn dieser Pflicht in den Nachen sprang, den kein anderer besteigen wollte, so ist wohl niemand, der ihn absprechen wird, moralisch gehandelt zu haben. Der Herzog befand sich hier in dem entgegengesetzten Fall von dem vorigen. Die Vorstellung der Pflicht ging hier vorher, und dann erst regte sich der Erhaltungstrieb, die Motion der Vernunft zu bekämpfen. In beiden Fällen aber verhielt sich der Wille auf dieselbe Art: er folgte unmittelbar der Vernunft, daher sind beide moralisch.

Ob aber beide Fälle es auch noch dann bleiben, wenn wir dem Geschmack darauf Einfluß geben?

Gesetzt also der erste, welcher versucht wurde, eine schlimme Handlung zu begehen, und sie aus Achtung für die Gerechtigkeit unterließ, habe einen so gebildeten Geschmack, daß alles Schändliche und gewaltthätige ihm einen Abscheu erweckte, den nichts überwinden kann, so wird in dem Augenblick, als der Naturtrieb sein Anliegen vorbringt, schon der bloße Geschmack es verwerfen – es wird also gar nicht einmal vor das moralische Forum, vor das Gewissen, kommen, sondern schon in einer früheren Instanz fallen. Nun regiert aber der Geschmack den Willen blos durch Gefühle, nicht durch Gesetze. Jener Mensch versagt sich also das angenehme Gefühl des geretteten Lebens, weil er das widrige Gefühl, eine Niederträchtigkeit begangen zu haben, nicht ertragen kann. Das ganze Geschäft wird also schon im Forum der Empfindung und im Gebiet der leidenden Kraft verhandelt, und das Betragen dieses Menschen, so legal es ist, ist moralisch indifferent; eine bloße schöne Wirkung der Natur.

Gesetzt nun der Andere, dem seine Vernunft vorschrieb, etwas zu thun, wogegen sich der Naturtrieb empörte, habe gleichfalls einen so reitzbaren Schönheitssinn, den alles, was groß und vollkommen ist, entzückt, so wird in demselben Augenblick, als die Vernunft ihren Ausspruch thut, auch die Sinnlichkeit zu ihr übertreten, und er wird das mit Neigung thun, was er ohne diese zarte Empfänglichkeit für das Schöne gegen die Neigung hätte durchsetzen müssen. Werden Sie ihn aber, Gnädigster Prinz, deswegen im zweyten Fall für minder vollkommen, als im ersten halten? Gewiß nicht, denn er handelte ja im zweyten so gut als im ersten nach einer Vorschrift der Vernunft, und daß er diese Vorschrift mit Freuden befolgte, das kann der sittlichen Reinheit seiner That keinen Abbruch thun. Er ist also moralisch ebenso vollkommen, physisch hingegen ist er bey weitem vollkommener, denn er ist ein weit zweckmäßigeres Subjekt für die Tugend.

Der Geschmack giebt also dem Gemüth eine für die Tugend zweckmäßige Stimmung, weil er die Naturbewegungen entfernt, die sie hindern, und diejenigen erweckt, die ihr günstig sind. Der Geschmack kann der wahren Tugend keinen Eintrag thun, wenn er gleich in allen denen Fällen, wo der Naturtrieb die erste Anregung macht, dasjenige schon vor seinem Richterstuhl abthut, was sonst das Gewissen hätte ausmachen müssen, und also Ursache ist, daß sich unter den Handlungen derer, die durch ihn regiert werden, weit mehr indifferente als wahrhaft moralische befinden. Denn die Vortrefflichkeit der Menschen beruht ganz und gar nicht auf der größern Summe moralischer Handlungen, sondern auf der größern Fertigkeit des Gemüths, solche Handlungen ausüben zu können; ja vielleicht wird man in der Epoche des erfüllten sittlichen Ideals ebenso wenig von Moralität und moralischen Thaten als in dem goldenen Alter der Natur und der Kindheit hören, und höchstens nur bey außerordentlichen Fällen daran erinnert werden, daß die Vernunft und nicht die Neigung das Ruder führt. Der Geschmack kann hingegen der wahren Tugend in allen denen Fällen positiv nützen, wo die Vernunft die erste Anregung macht, und in Gefahr ist, von der stärkern Beredsamkeit der Natur überstimmt zu werden. In diesen Fällen nemlich stimmt er unsre Sinnlichkeit zum Vortheil der Pflicht, und macht also auch ein geringeres Maaß moralischer Willenskraft der Ausübung der Tugend gewachsen.

Wenn nun der Geschmack der wahren Moralität in keinem Falle schadet, in mehreren aber offenbar nützt, so muß der Umstand ein großes Gewicht erhalten, daß er der Legalität unsers Betragens im höchsten Grade beförderlich ist.

Gesetzt, daß die schöne Kultur ganz und gar nichts dazu beytragen könnte, uns besser gesinnt zu machen, so macht sie uns wenigstens geschickt, auch ohne eine wahrhaft sittliche Gesinnung also zu handeln, wie eine sittliche Gesinnung es würde mit sich gebracht haben. Nun kömmt es zwar vor einem moralischen Forum ganz und gar nicht auf unsere Handlungen an, als insofern sie ein Ausdruck unserer Gesinnungen sind; aber vor dem physischen Forum und im Plane der Natur kommt es, gerade umgekehrt, ganz und gar nicht auf unsre Gesinnungen an, als insofern sie Handlungen veranlassen, durch die der Naturzweck befördert wird.

Nun sind aber beide Weltordnungen, die physische, worin Kräfte, und die moralische, worin Gesetze regieren, so genau auf einander berechnet, und so innig in einander verwebt, daß Handlungen, die ihrer Form nach moralisch zweckmäßig sind, durch ihren Inhalt zugleich eine physische Zweckmäßigkeit in sich schließen; und so wie das ganze Naturgebäude nur darum vorhanden zu seyn scheint, um den höchsten aller Zwecke, der das Gute ist, möglich zu machen, so läßt sich das Gute wieder als ein Mittel gebrauchen, um das Naturgebäude aufrecht zu erhalten. Die Ordnung der Natur ist also von der Sittlichkeit unserer Gesinnungen abhängig gemacht, und wir können gegen die moralische Welt nicht verstoßen, ohne zugleich in der physischen eine Verwirrung anzurichten.

Wenn nun von der menschlichen Natur – so lange sie menschliche Natur bleibt – nie und nimmer zu erwarten ist, daß sie ohne Unterbrechung und Rückfall gleichförmig und beharrlich als reine Geisternatur handle, daß sie nie gegen die sittliche Ordnung verstoße, wie mit den Vorschriften der Vernunft sich im Widerspruch befinde – wenn wir, bey aller Ueberzeugung sowohl von der Nothwendigkeit als von der Möglichkeit reiner Tugend, uns gestehen müssen, wie sehr zufällig ihre wirkliche Ausübung ist, und wie wenig wir auf die Unüberwindlichkeit unsrer besten Grundsätze bauen dürfen – wenn wir uns bey diesem Bewußtseyn unsrer Unzuverlässigkeit erinnern, daß das Gebäude der Natur durch jeden unsrer moralischen Fehltritte leidet – wenn wir uns alles dieses ins Gedächtniß rufen, so würde es die frevelhafteste Verwegenheit seyn, das Beßte der Welt auf dieses Ohngefähr unsrer Tugend ankommen zu lassen. Vielmehr erwächst hieraus eine Verbindlichkeit für uns, wenigstens der physischen Weltordnung durch den Inhalt unsrer Handlungen Genüge zu leisten, wenn wir es auch der moralischen, durch die Form derselben nicht recht machen sollten – wenigstens als vollkommenere Instrumente dem Naturzweck zu entrichten, was wir als unvollkommene Person der Vernunft schuldig bleiben, um nicht in beiden Weltordnungen zugleich mit Schande zu bestehen. Wenn wir deswegen, weil sie keinen moralischen Werth hat, für die Legalität unsers Betragens keine Anstalten treffen wollten, so könnten alle Bande der Gesellschaft zerrissen seyn, ehe wir mit unsern Grundsätzen fertig würden. Je zufälliger aber unsre Moralität, um desto nothwendiger ist es, Vorkehrungen für die Legalität zu treffen, und eine leichtsinnige oder stolze Versäumniß der letzteren würde uns moralisch zugerechnet werden können. Ebenso wie der Wahnsinnige, der seinen nahen Paroxismus ahndet, alle Messer entfernt, und sich freiwillig den Banden darbietet, um für die Verbrechen seines kranken Gehirnes nicht im gesunden Zustand verantwortlich zu seyn – ebenso sind auch wir verpflichtet, uns in den freien Intervallen durch Religion und durch ästhetische Tugend zu binden, damit unsre Leidenschaft nicht in den Perioden ihrer Herrschaft gegen die Weltordnung rase.

Ich habe hier nicht ohne Absicht Religion und Geschmack in Eine Klasse gesetzt, weil beide das Verdienst gemein haben, zu einem Surrogat der wahren Tugend zu dienen, und die Gesetzmäßigkeit der Handlungen da zu sichern, wo die Pflichtmäßigkeit der Gesinnungen nicht zu hoffen ist. Obgleich derjenige im Range der Geister unstreitig eine höhere Stelle verdiente, der weder die Reize der Schönheit noch den Glauben an eine Vorsehung und Unsterblichkeit nöthig hätte, um sich in allen Vorfällen des Lebens der Pflicht gemäß zu betragen, so nöthigen doch die bekannten Schranken der Menschheit selbst den rigidesten Ethiker, von der Strenge seines Systems in der Anwendung etwas nachzulassen, wenn er demselben gleich in der Theorie nichts vergeben darf, und das Wohl der Welt, das durch unsre zufällige Tugend gar übel besorgt seyn würde, noch zur Sicherheit an den beiden starken Ankern, der Religion und dem Geschmack, zu bevestigen.

Und zwar scheinen sich beide, wenn ich anders meinen Erfahrungen trauen darf, in den Menschen und in das Menschengeschlecht so zu theilen, daß die Religion demjenigen ihre Arme öffnet, an dem die Schönheit verlohren ist. Da nemlich, wo keine ästhetische Kultur den innern Sinn aufgeschlossen, und den äußern beruhigt hat, und die edleren Empfindungen des Verstandes und Herzens die gemeinen Bedürfnisse der Sine noch nicht eingeschränkt haben, oder in Lagen, wo auch die größte Verfeinerung des Geschmacks den sinnlichen Trieb nicht verhindern kann, auf eine materielle Befriedigung zu dringen – da ist es die Religion, die auch dem sinnlichen Trieb noch ein Objekt anweist, und ihm für die Opfer, die er der Tugend zu bringen hat, hier oder dort eine Entschädigung zusichert. In diesen Fall aber kommen wir alle, nur mit dem Unterschied, daß der rohe Mensch sich unaufhörlich, der verfeinerte nur momentweise darin befindet.

Eine Seele nemlich, welche angefangen hat, das edlere Vergnügen an Formen zu kosten, und aus dem reinen Quell der Vernunft ihre Genüsse zu schöpfen, scheidet ohne Kampf von den gemeinen Freuden des Stoffs, und hält sich für die Entbehrungen des äußern Sinns durch die Vergnügungen des innern unendlich entschädigt. Aber Einen Fall giebt es doch, wo wir alle, verfeinert oder roh, unter die Gewalt des Instinkts zurückkehren, und wo die Natur, aller Kunst zum Trotze, ihre Rechte geltend macht. Keine ästhetische Kultur geht so weit, daß sie den Naturtrieb auch da zurückweisen könnte, wo er sich für Leben und Daseyn wehrt. Alles was der Geschmack vermag, ist, das Objekt unsrer Begierden zu verändern, und gröbere Empfindungen gegen feinere auszutauschen. So lange also die Vernunft, bey ihrer moralischen Gesetzgebung, blos das Opfer einzelner Empfindungen fordert, so kann der Geschmack dem innern Sinn erstatten, was dem äußern entzogen wird; sobald aber die Vernunft das Opfer der Kraft selbst verlangt, und den letzten Grund aller, auch der geistigsten Empfindung, antastet, so hat der Geschmack nichts mehr zu ersetzen, weil er – als ein zur Hälfte sinnliches Vermögen – in das Schicksal der Sinne sich selbst mit verwickelt sieht, und mit der Existenz auch seine Herrschaft sich endigt. Wo das Vermögen der Empfindungen aufhört, da ist kein Tausch der Empfindungen möglich, und den Trieb zu unterdrücken, den wir nicht mehr befriedigen können, ist alles was uns übrig bleibt. Dies ist aber nur durch die gewaltsamste aller Abstraktionen und durch eine Kraftäußerung möglich, deren die gemischte Natur des Menschen kaum fähig ist. Dazu würde ein Sprung vom Bedingten ins Unbedingte hinüber, und eine völlige Verzichtleistung auf alles, was an uns der Materie gehört und unter Naturbedingungen stehet, also auf Daseyn und Bewußtseyn und Wirken erfordert werden. Blos die reine Form der Vernunft, in ihre unwandelbare Identität eingehüllt, würde, von allem Stoff abgesondert, zurückbleiben, und selbst diese Idee des Absoluten und Nothwendigen würde, weil sie nicht ohne Zeitbedingungen und Stoff gedacht werden kann, in den allgemeinen Verlust mit eingeschlossen werden. Da nun zu Dieser Gemüthsoperation eine Kraft erfordert wird, deren nur die wenigsten Menschen, und diese Wenigen auch nur in ihren glücklichsten Momenten, fähig sind, so werden wir wohl thun, für diesen äußersten Fall Religionsideen in Bereitschaft zu halten, um dem unabweisbaren Lebenstrieb in einer andern Ordnung der Dinge eine Befriedigung versichern zu können. Soll ich es frei heraussagen, Gnädigster Prinz? Die Religion ist dem sinnlichen Menschen, was der Geschmack dem verfeinerten, der Geschmack ist für das gewöhnliche Leben, was die Religion für die Extremität. An eine dieser beiden Stützen aber, wo nicht lieber an beide, müssen wir uns halten, so lange wir keine Götter sind.

Schon ein flüchtiger Blick in die gegenwärtige moralische Verfassung der Welt bestätigt mir meine Bemerkung. Betrachten wir die Masse des Volks; seine Religion ist das Gegengewicht seiner Leidenschaften, wo kein äußrer Widerstand ihre Stärke bricht. Der gemeine Mann wird sich vieles nur als Christ verbieten, was er als Mensch sich erlaubt hätte. Betrachten wir die feineren Klassen, sie sind gesittet, aber nicht sittlich. Die Gesetze des Anstandes, des guten Tons und der Ehre können sie allein vermögen, Rechte ungekränkt zu lassen, die sie weit entfernt sind, zu respektieren. Wo das Interesse ein zu schwacher Zügel für sie seyn würde, da ist es blos der Geschmack, der uns die Gesetzmäßigkeit ihres Betragens verbürgt. Ich zweifle nicht, daß es unter beiden Klassen Beyspiele wahrer Tugend giebt, aber ich fürchte sehr, daß sie zu den Ausnahmen und nicht zu der Regel gehören. In Frankreich hat jetzt eine Erschütterung zugleich die Religion umgestürzt und den Geschmack der Verwilderung preisgegeben, und es fehlt viel, daß der Karakter der Nation so weit aufgebaut wäre, um dieser Stützen zu entbehren. Die Zeit wird lehren, was geschehen wird.

Darf ich, Vortrefflichster Prinz, wegen der freimüthigen Wendung, mit der ich diesen Brief beschloß, Ihre Verzeihung hoffen? Ich gestehe, daß mir daran gelegen war, mich auch in diesem Stück Ihnen ganz zu zeigen, wie ich bin, denn vor Personen, die ich in diesem Grade respektiere und liebe, möchte ich gern so vollständig und unverhüllt erscheinen, wie vor meinem eigenen Herzen.

In tiefster Devotion ersterbe ich

Eurer Hochfürstlichen Durchlaucht
unterthänigster Diener und dankbarster Verehrer
Friedrich Schiller.