HomeDie Horen1795 - Stück 1III. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. [Johann Wolfgang von Goethe]

III. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. [Johann Wolfgang von Goethe]

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In jenen unglücklichen Tagen, welche für Deutschland, für Europa, ja für die übrige Welt die traurigsten Folgen hatten, als das Heer der Franken durch eine übelverwahrte Lücke in unser Vaterland einbrach, verließ eine edle Familie ihre Besitzungen in jenen Gegenden und entfloh über den Rhein, um den Bedrängnissen zu entgehen, womit alle ausgezeichnete Personen bedrohet waren, denen man zum Verbrechen machte, dass sie sich ihrer Väter mit Freuden und Ehren erinnerten, und mancher Vortheile genossen, die ein wohldenkender Vater seinen Kindern und Nachkommen so gern zu verschaffen wünschte.

Die Baronesse von C., eine Wittwe von mittlern Jahren, erwieß sich auch jetzt auf dieser Flucht, wie sonst zu Hause, zum Troste ihrer Kinder, Verwandten und Freunde, entschlossen und thätig. In einer weiten Sphäre erzogen und durch mancherley Schicksale ausgebildet, war sie als eine treffliche Hausmutter bekannt, und jede Art von Geschäft erschien ihrem durchdringenden Geiste willkommen. Sie wünschte Vielen zu dienen und ihre ausgebreitete Bekanntschaft setzte sie in den Stand es zu thun. Nun mußte sie sich unerwartet als Führerin einer kleinen Carawane darstellen und wußte auch diese zu leiten, für sie zu sorgen und den guten Humor, wie er sich zeigte, in ihrem Kreise, auch mitten unter Bangigkeit und Noth zu unterhalten. Und wirklich stellte sich bei unsern Flüchtlingen die gute Laune nicht selten ein, denn überraschende Vorfälle, neue Verhältnisse gaben den aufgespannten Gemüthern manchen Stoff zu Scherz und Lachen.

Bey der übereilten Flucht war das Betragen eines jeden charakteristisch und auffallend. Das eine ließ sich durch eine falsche Furcht, durch ein unzeitiges Schrecken hinreissen; das andere gab einer unnöthigen Sorge Raum, und alles, was dieser zu viel jener zu wenig that, jeder Fall wo sich Schwäche in Nachgiebigkeit oder Übereilung zeigte, gab in der Folge Gelegenheit, sich wechselseitig zu plagen und aufzuziehen, so daß dadurch diese traurigen Zustände lustiger wurden, als eine vorsätzliche Lustreise ehemals hatte werden können.

Denn wie wir manchmal in der Comödie eine Zeitlang ohne über die absichtlichen Possen zu lachen, ernsthaft zuschauen können, dagegen aber sogleich ein lautes Gelächter entsteht, wenn in der Tragödie etwas Unschickliches vorkommt: so wird auch ein Unglück in der wirklichen Welt, das die Menschen aus ihrer Fassung bringt gewöhnlich von lächerlichen, oft auf der Stelle, gewiß aber hinterdrein, belachten Umständen begleitet seyn.

Besonders mußte Fräulein Luise, die älteste Tochter der Baronesse, ein lebhaftes, heftiges und in guten Tagen herrisches Frauenzimmer sehr vieles leiden, da von ihr behauptet wurde, daß sie bey dem ersten Schrecken ganz aus der Fassung gerathen sey, in Zerstreuung, ja in einer Art von Abwesenheit die unnützesten Sachen mit dem größten Ernste zum Aufpacken gebracht, ja sogar einen alten Bedienten für ihren Bräutigam angesehen habe.

Sie vertheidigte sich aber so gut sie konnte, nur wollte sie keinen Scherz der sich auf ihren Bräutigam bezog, dulden, indem es ihr schon Leiden genug verursache, ihn bey der alliierten Armee, in täglicher Gefahr, zu wissen, und eine gewünschte Verbindung durch die allgemeine Zerrüttung aufgeschoben und vielleicht gar vereitelt zu sehen.

Ihr älterer Bruder Friedrich, ein entschloßner junger Mann, führte alles was die Mutter beschloß mit Ordnung und Genauigkeit aus, begleitete zu Pferde den Zug und war zugleich Courier, Wagenmeister und Wegweiser. Der Lehrer des jüngern, hoffnungsvollen Sohnes, ein wohl unterrichteter Mann, leistete der Baronesse im Wagen Gesellschaft; Vetter Karl fuhr mit einem alten Geistlichen, der, als Hausfreund, schon lange der Familie unentbehrlich geworden war, mit einer älteren und jüngeren Verwandten in einem nachfolgenden Wagen. Kammermädchen und Kammerdiener folgten in Halbchaisen, und einige schwerbepackte Brankards, die auf mehr als einer Station zurückbleiben mußten, schlossen den Zug.

Ungern hatte, wie man leicht denken kann, die ganze Gesellschaft ihre Wohnungen verlassen, aber Vetter Karl entfernte sich mit doppeltem Widerwillen von dem jenseitigen Rheinufer; nicht dass er etwa eine Geliebte daselbst zurückgelassen hätte, wie man nach seiner Jugend, seiner guten Gestalt und seiner leidenschaftlichen Natur hätte vermuthen sollen, er hatte sich vielmehr von der blendenden Schönheit verführen lassen, die unter dem Namen Freyheit sich erst heimlich, dann öffentlich so viele Anbeter zu verschaffen wusste, und, so übel sie auch die einen behandelte, von den andern mit grosser Lebhaftigkeit verehrt wurde.

Wie Liebende gewöhnlich von ihrer Leidenschaft verblendet werden, so erging es auch Vetter Karln. Sie wünschen den Besitz eines einzigen Gutes, und wähnen alles übrige dagegen entbehren zu können. Stand, Glücksgüter, alle Verhältnisse scheinen in Nichts zu verschwinden, indem das gewünschte Gut zu Einem zu Allem wird. Eltern, Verwandte und Freunde werden uns fremd indem wir uns etwa zueignen, das uns ganz ausfüllt und uns alles übrige fremd macht.

Vetter Karl überließ sich der Heftigkeit seiner Neigung und verhehlte sie nicht in Gesprächen. Er glaubte um so freyer sich diesen Gesinnungen ergeben zu können, als er selbst ein Edelmann war, und, obgleich der zweyte Sohn, dennoch ein ansehnliches Vermögen zu erwarten hatte. Eben diese Güter, die ihm künftig zufallen mußten, waren jetzt in Feindes Händen, der nicht zum besten darauf haußte, demohngeachtet konnte Karl einer Nation nicht feind werden, die der Welt so viele Vortheile versprach, und deren Gesinnungen er nach öffentlichen Reden und Äußerungen einiger Mitglieder beurtheilte. Gewöhnlich störte er die Zufriedenheit der Gesellschaft, wenn sie ja derselben noch fähig war, durch ein unmäßiges Lob alles dessen, was bey den Neufranken Gutes oder Böses geschah, durch ein lautes Vergnügen über ihre Fortschritte, wodurch er die Andern um desto mehr aus der Fassung brachte, als sie ihre Leiden durch die Schadenfreude eines Freundes und Verwandten verdoppelt nur um so schmerzlicher empfinden mußten.

Friedrich hatte sich schon einigemal mit ihm überworfen und ließ sich in der letzten Zeit gar nicht mehr mit ihm ein. Die Baronesse wußte ihn auf eine kluge Weise wenigstens zu augenblicklicher Mäßigung zu leiten; Fräulein Luise machte ihm am meisten zu schaffen, indem sie, freylich oft ungerechter Weise, seinen Charakter und seinen Verstand verdächtig zu machen suchte. Der Hofmeister gab ihm im Stillen recht; der Geistliche im Stillen unrecht, und die Kammermädchen, denen seine Gestalt reizend und seine Freigebigkeit respektabel war, hörten ihn gerne reden, weil sie sich durch seine Gesinnungen berechtigt glaubten, ihre zärtlichen Augen, die sie bisher vor ihm bescheiden niedergeschlagen hatten, nunmehr in Ehren nach ihm aufzuheben.

Die Bedürfnisse des Tages, die Hindernisse des Weges, die Unannehmlichkeiten der Quartiere führten die Gesellschaft gewöhnlich auf ein gegenwärtiges Interesse zurück, und die grosse Anzahl französischer und deutscher Ausgewanderten, die sie überall antrafen und deren Betragen und Schicksale sehr verschieden waren, gaben ihnen oft zu Betrachtungen Anlaß, wieviel Ursach man habe, in diesen Zeiten alle Tugenden, besonders aber die Tugend der Unpartheylichkeit und Verträglichkeit zu üben.

Eines Tages machte die Baronesse die Bemerkung, dass man nicht deutlicher sehen könne wie ungebildet, in jedem Sinne die Menschen seyen, als in solchen Augenblicken allgemeiner Verwirrung und Noth. Die bürgerliche Verfassung, sagte sie: scheint wie ein Schiff zu seyn, das eine grosse Anzahl Menschen, alte und junge, gesunde und kranke über ein gefährliches Wasser, auch selbst zu Zeiten des Sturms, hinüber bringt; nur in dem Augenblicke wenn das Schiff scheitert, sieht man wer schwimmen kann und selbst gute Schwimmer gehen unter solchen Umständen zu Grunde.

Wir sehen meist die Ausgewanderten ihre Fehler und alberne Gewohnheiten mit sich in der Irre herum führen und wundern uns darüber. Doch wie den reisenden Engländer der Theekessel in allen vier Welttheilen nicht verlässt, so wird die übrige Masse der Menschen von stolzen Anforderungen, Eitelkeit, Unmäßigkeit, Ungeduld, Eigensinn, Schiefheit im Urtheil und der Lust ihrem Nebenmenschen tückisch etwas zu versetzen, überall hinbegleitet; der Leichtsinnige freut sich der Flucht wie einer Spazierfahrt und der Ungenügsame verlangt daß ihm auch noch als Bettler alles zu Diensten stehe. Wie selten daß uns die reine Tugend irgend eines Menschen erscheint, der wirklich für andere zu leben, für andere sich aufzuopfern getrieben wird.

Indessen man nun mancherley Bekanntschaften machte, die zu solchen Betrachtungen Gelegenheit gaben, war der Winter vorbey gegangen. Das Glück hatte sich wieder zu den deutschen Waffen gesellt, die Franzosen waren wieder über den Rhein hinüber gedrängt, Frankfurt befreyt und Maynz eingeschlossen.

In der Hoffnung auf den weiteren Fortgang der siegreichen Waffen, und begierig wieder einen Theil ihres Eigenthums zu ergreifen, eilte die Familie auf ein Gut, das an dem rechten Ufer des Rhein’s, in der schönsten Lage, ihr zugehörte. Wie erquickt fanden sie sich, als sie den schönen Strom wieder vor ihren Fenstern vorbeyfließen sahen, wie freudig nahmen sie wieder von jedem Theile des Hauses Besitz, wie freundlich begrüßten sie die bekannten Mobilien, die alten Bilder und jeglichen Hausrat, wie werth war ihnen auch das geringste das sie schon verloren gegeben hatten, wie stiegen ihre Hoffnungen: dereinst auch jenseit des Rheines alles noch in dem alten Zustande zu finden!

Kaum erscholl in der Nachbarschaft die Ankunft der Baronesse, als alle alten Bekannte, Freunde und Diener herbeyeilten sich mit ihr zu besprechen, die Geschichten der vergangenen Monate zu wiederholen und sich, in manchen Fällen, Rath und Beystand von ihr zu erbitten.

Umgeben von diesen Besuchen ward sie aufs angenehmste überrascht, als der Geheimrath von S. mit seiner Familie bey ihr ankam. Ein Mann dem die Geschäfte von Jugend auf zum Bedürfniß geworden waren, ein Mann der das Zutrauen seines Fürsten verdiente und besaß. Er hielt sich streng an Grundsätze und hatte über manche Dinge seine eigene Denkweise. Er war genau im Reden und Handeln und forderte das gleiche von andern. Ein consequentes Betragen schien ihm die höchste Tugend.

Sein Fürst, das Land, er selbst hatten viel durch den Einfall der Franzosen gelitten; er hatte die Willkühr der Nation, die nur vom Gesetz sprach, kennen gelernt und den Unterdrückungsgeist derer, die das Wort Freyheit immer im Munde führten. Er hatte gesehen, dass auch in diesem Falle der grosse Haufe sich treu blieb, und Wort für That, Schein für Besitz mit grosser Heftigkeit aufnahm. Die Folgen eines unglücklichen Feldzugs, so wie die Folgen jener verbreiteten Gesinnungen und Meynungen blieben seinem Scharfblicke nicht verborgen, obgleich nicht zu leugnen war, daß er manches mit hypochondrischem Gemüthe betrachtete und mit Leidenschaft beurtheilte.

Seine Gemahlinn, eine Jugendfreundin der Baronesse, fand, nach so vielen Trübsalen, einen Himmel in den Armen ihrer Freundin. Sie waren mit einander aufgewachsen, hatten sich mit einander gebildet, sie kannten keine Geheimnisse vor einander. Die ersten Neigungen junger Jahre, die bedenklichen Zustände der Ehe, Freuden, Sorgen und Leiden als Mütter, alles hatten sie sich sonst, theils mündlich, theils in Briefen, vertraut, und hatten eine ununterbrochene Verbindung erhalten. Nur diese letzte Zeit her waren sie durch die Unruhen verhindert worden, sich einander, wie gewöhnlich, mitzutheilen. Um so lebhafter drängten sich ihre gegenwärtigen Gespräche, um destomehr hatten sie einander zu sagen, indessen die Töchter der Geheimräthin ihre Zeit mit Fräulein Luisen in einer wachsenden Vertraulichkeit zubrachten.

Leider ward der schöne Genuß dieser reizenden Gegend oft durch den Donner der Kanonen gestört, den man, je nachdem der Wind sich drehte, aus der Ferne deutlicher oder undeutlicher vernahm. Eben so wenig konnte bey den vielen zuströmenden Neuigkeiten des Tages der politische Discurs vermieden werden, der gewöhnlich die augenblickliche Zufriedenheit der Gesellschaft stöhrte, indem die verschiedenen Denkungsarten und Meynungen von beyden Seiten sehr lebhaft geäusert wurden. Und wie unmässige Menschen sich deßhalb doch nicht des Weins und schwer zu verdauender Speisen enthalten, ob sie gleich aus der Erfahrung wissen, daß ihnen darauf ein unmittelbares Übelseyn bevorsteht; so konnten auch die meisten Glieder der Gesellschaft sich in diesem Falle nicht bändigen, vielmehr gaben sie dem unwiderstehlichen Reiz nach, andern wehe zu thun und sich selbst dadurch am Ende eine unangenehme Stunde zu bereiten.

Man kann leicht denken, daß der Geheimrath diejenige Parthey anführte, welche dem alten System zugethan war, und daß Karl für die entgegen gesetzte sprach, welche von bevorstehenden Neuerungen Heilung und Belebung des alten kranken Zustandes hofften.

Im Anfange wurden die Gespräche noch mit ziemlicher Mässigung geführt, besonders da die Baronesse durch anmuthige Zwischenreden beyde Theile im Gleichgewicht zu halten wußte; als aber die wichtige Epoke herannahete, daß die Blokade von Maynz in eine Belagerung übergehen sollte, und man nunmehr für diese schöne Stadt und ihre zurückgelassenen Bewohner lebhafter zu fürchten anfing, äusserte jedermann seine Meynungen mit ungebundener Leidenschaft.

Besonders waren die daselbst zurückgebliebenen Clubisten ein Gegenstand des allgemeinen Gesprächs und jeder erwartete ihre Bestrafung oder Befreyung je nachdem er ihre Handlungen entweder schalt und billigte.

Unter die ersten gehörte der Geheimrath, dessen Argumente Karl’n am verdrießlichsten auffielen, wenn er den Verstand dieser Leute angriff, und sie einer völligen Unkenntniß der Welt und ihrer selbst beschuldigte.

Wie verblendet müssen sie seyn! rief er aus, als an einem Nachmittage das Gespräch sehr lebhaft zu werden anfing: wenn sie wähnen, daß eine ungeheure Nation, die mit sich selbst in der größten Verwirrung kämpft und, auch in ruhigen Augenblicken, nichts als sich selbst zu schätzen weiß, auf sie mit einiger Theilnehmung herunter blicken werde. Man wird sie als Werkzeuge betrachten, sie eine Zeitlang gebrauchen und endlich wegwerfen oder wenigstens vernachlässigen. Wie sehr irren sie sich, wenn sie glauben, daß sie jemals in die Zahl der Franzosen aufgenommen werden könnten.

Jedem der mächtig und groß ist erscheint nicht lächerlicher als ein kleiner und schwacher, der in der Dunkelheit des Wahns, in der Unkenntniß sein selbst, seiner Kräfte und seines Verhältnisses sich jenem gleich zu stellen dünkt, und glaubt ihr denn, dass die grosse Nation nach dem Glücke, das sie bisher begünstigt, weniger stolz und übermüthig seyn werde, als irgend ein anderer königlicher Sieger?

Wie mancher, der jetzt als Municipalbeamter mit der Schärpe herumläuft, wird die Maskerade verwünschen, wenn er, nachdem er seine Landsleute in eine neue widerliche Form zu zwingen geholfen hat, zuletzt, in dieser neuen Form von denen, auf die er sein ganzes Vertrauen setzte, niedrig behandelt wird. Ja es ist mir höchst wahrscheinlich, daß man bey der Übergabe der Stadt, die wohl nicht lange verzögert werden kann, sie den unsrigen überliefert oder überläßt. Mögen sie doch alsdann ihren Lohn dahin nehmen, mögen sie alsdann die Züchtigung empfinden, die sie verdienen, ich mag sie so unpartheyisch richten als ich kann.

Unpartheyisch! rief Karl mit Heftigkeit aus: wenn ich doch dieß Wort nicht wieder sollte aussprechen hören! Wie kann man diese Menschen so geradezu verdammen? Freylich haben sie nicht ihre Jugend und ihr Leben zugebracht in der hergebrachten Form sich und andern begünstigten Menschen zu nützen. Freylich haben sie nicht die wenigen wohnbaren Zimmer des alten Gebäudes besessen und sich darinne gepflegt; vielmehr haben sie die Unbequemlichkeit der vernachlässigten Theile eures Staatspallastes mehr empfunden, weil sie selbst ihre Tage kümmerlich und gedrückt darin zubringen mußten; sie haben nicht, durch eine mechanisch erleichterte Geschäftigkeit bestochen, dasjenige für gut angesehen, was sie einmal zu thun gewohnt waren; freylich haben sie nur im Stillen der Einseitigkeit, der Unordnung, der Läßigkeit, der Ungeschicklichkeit zusehen können, womit eure Staatsleute sich noch Ehrfurcht zu erwerben glauben; freylich haben sie nur heimlich wünschen können, dass Mühe und Genuß gleicher ausgetheilt seyn möchten! Und wer wird leugnen, daß unter ihnen nicht wenigstens Einige wohldenkende und tüchtige Männer sich befinden, die, wenn sie auch in diesem Augenblicke das Beste zu bewirken nicht im Stande sind, doch durch ihre Vermittlung das Übel zu lindern und ein künftiges Gutes vorzubereiten das Glück haben, und da man solche darunter zählt, wer wird sie nicht bedauern, wenn der Augenblick naht, der sie ihrer Hoffnungen vielleicht auf immer berauben soll.

Der Geheimrath scherzte darauf, mit einiger Bitterkeit, über junge Leute die einen Gegenstand zu idealisiren geneigt seyen; Karl schonte dagegen diejenigen nicht, welche nur nach alten Formen denken könnten, und was dahinein nicht passe nothwendig verwerfen müßten.

Durch mehreres Hin- und Wiederreden ward das Gespräch immer heftiger und es kam von beyden Seiten alles zur Sprache, was im Laufe dieser Jahre so manche gute Gesellschaft entzweyt hatte. Vergebens suchte die Baronesse, wo nicht einen Frieden, doch wenigstens einen Stillstand zuwege zu bringen; selbst der Geheimräthin, die als ein liebenswürdiges Weib einige Herrschaft über Karls Gemüth sich erworben hatte, suchte vergebens auf ihn zu wirken, das ihr um so weniger gelang als ihr Gemahl fortfuhr treffende Pfeile auf Jugend und Unerfahrenheit loszudrücken und über die besondere Neigung der Kinder mit dem Feuer zu spielen, das sie doch nicht regieren könnten, zu spotten.

Karl, der sich im Zorn nicht mehr kannte, hielt mit dem Geständniß nicht zurück: daß er den französischen Waffen alles Glück wünsche, und daß er jeden Deutschen auffordere, der alten Sklaverey ein Ende zu machen; daß er von der französischen Nation überzeugt sey, sie werde die edlen Deutschen, die sich für sie erklärt, zu schätzen wissen, als die ihrigen ansehn und behandeln und nicht etwa aufopfern oder ihrem Schicksale überlassen, sondern sie mit Ehren, Gütern und Zutrauen überhäufen.

Der Geheimrath behauptete dagegen, es sey lächerlich zu denken, daß die Franzosen nur irgend einen Augenblick, bei einer Capitulation oder sonst für sie sorgen würden; vielmehr würden diese Leute gewiß in die Hände der Alliierten fallen und er hoffe sie alle gehangen zu sehen.

Diese Drohung hielt Karl nicht aus und rief vielmehr: er hoffe, daß die Guillotine auch in Deutschland eine gesegnete Erndte finden und kein schuldiges Haupt verfehlen werde. Dazu fügte er einige sehr starke Vorwürfe, welche den Geheimrath persönlich trafen und in jedem Sinne beleidigend waren.

So muß ich denn wohl, sagte der Geheimrath: mich aus einer Gesellschaft entfernen, in der nichts, was sonst achtungswerth schien, mehr geehrt wird. Es thut mir leid, dass ich zum zweytenmal, und zwar durch einen Landsmann vertrieben werde; aber ich sehe wohl, daß von diesem weniger Schonung als von den Neufranken zu erwarten ist, und ich finde wieder die alte Erfahrung bestätigt, dass es besser sey den Türken als den Renegaten in die Hände zu fallen.

Mit diesen Worten stand er auf und gieng aus dem Zimmer. Seine Gemahlin folgte ihm. Die Gesellschaft schwieg. Die Baronesse gab mit einigen, aber starken, Ausdrücken ihr Mißvergnügen zu erkennen. Karl gieng im Saale auf und ab. Die Geheimeräthin kam weinend zurück und erzählte daß ihr Gemahl einpacken lasse und schon Pferde bestellt habe. Die Baronesse gieng zu ihm ihn zu bereden; indessen weinten die Fräulein und küßten sich und waren äusserst betrübt, daß sie sich so schnell und unerwartet von einander trennen sollten. Die Baronesse kam zurück. Sie hatte nichts ausgerichtet. Man fing an nach und nach alles zusammen zu tragen was den Fremden gehörte. Die traurigen Augenblicke des Loslösens und Scheidens wurden sehr lebhaft empfunden. Mit den letzten Kästchen und Schachteln verschwand alle Hoffnung. Die Pferde kamen, und die Thränen flossen reichlicher.

Der Wagen fuhr fort und die Baronesse sah ihm nach; die Thränen standen ihr in den Augen. Sie trat vom Ferne zurück und setzte sich an den Stickrahmen. Die ganze Gesellschaft war still, ja verlegen; besonders äusserte Karl seine Unruhe, indem er, in einer Ecke sitzend, ein Buch durchblätterte und manchmal drüber weg nach seiner Tante sah. Endlich stand er auf und nahm seinen Hut, als wenn er weggehen wollte; allein in der Thüre kehrte er um, trat an den Rahmen und sagte mit edler Fassung: ich habe Sie beleidigt, liebe Tante, ich habe Ihnen Verdruß verursacht, verzeihen Sie meine Übereilung, ich erkenne meinen Fehler und fühl’ ihn tief.

Ich kann verzeihen, antwortete die Baronesse: ich werde keinen Groll gegen dich hegen, weil du ein edler guter Mensch bist; aber du kannst nicht wieder gut machen, was du verdorben hast. Ich entbehre durch deine Schuld in diesen Augenblicken die Gesellschaft einer Freundinn, die ich seit langer Zeit zum erstenmal wieder sah, die mir das Unglück selbst wieder zuführte, und in deren Umgang ich manche Stunde das Unheil vergaß, das uns traf und das uns bedroht. Sie, die schon so lange auf einer ängstlichen Flucht herumgetrieben wird, und sich kaum wenige Tage in Gesellschaft von geliebten alten Freunden, in einer bequemen Wohnung, an einem angenehmen Orte erholt, muß schon wieder flüchtig werden und die Gesellschaft verliert dabey die Unterhaltung ihres Gatten, der, so wunderlich er auch in manchen Stücken seyn mag, doch ein trefflicher rechtschaffner Mann ist und ein unerschöpfliches Archiv von Menschen- und Welt-Kenntniß, von Begebenheiten und Verhältnissen mit sich führt, die er auf eine leichte, glückliche und angenehme Weise mitzutheilen versteht. Um diesen vielfachen Genuß bringt uns deine Heftigkeit; wodurch kannst du ersetzen, was wir verlieren?

Karl. Schonen Sie mich, liebe Tante: ich fühle meinen Fehler schon lebhaft genug, lassen Sie mich die Folgen nicht so deutlich einsehen.

Baronesse. Betrachte sie vielmehr so deutlich als möglich. Hier kann nicht von Schonen die Rede seyn, es ist nur die Frage, ob du dich überzeugen kannst. Denn nicht das erstemal begehst du diesen Fehler, und es wird das letztemal nicht seyn. O ihr Menschen, wir die Noth, die euch unter Ein Dach, in Eine enge Hütte zusammen drängt, euch nicht duldsam gegen einander machen? Ist es an den ungeheuren Begebenheiten nicht genug, die auf euch und die eurigen unaufhaltsam losdringen? könnt ihr an euch selbst nicht so arbeiten, und ihr euch mässig und vernünftig gegen diejenigen betragen, die euch im Grunde nichts nehmen, nichts rauben wollen? Müssen denn eure Gemüther nur so blind und unaufhaltsam wirken und drein schlagen, wie die Weltbegebenheiten, ein Gewitter oder ein ander Naturphänomen?

Karl antwortete nichts, und der Hofmeister kam von dem Fenster, wo er bisher gestanden, auf die Baronesse zu und sagte: er wird sich bessern, dieser Fall soll ihm, soll uns allen zur Warnung dienen. Wir wollen uns täglich prüfen, wir wollen den Schmerz, den Sie empfunden haben, uns vor Augen stellen, wir wollen auch zeigen, dass wir Gewalt über uns haben.

Baronesse. Wie leicht doch Männer sich überreden können, besonders in diesem Punkte! Das Wort Herrschaft ist ihnen ein so angenehmes Wort, und es klingt so vornehm sich selbst beherrschen zu wollen. Sie reden gar zu gerne davon und mögten uns glauben machen, es sey wirklich auch in der Ausübung Ernst damit, und wenn ich doch nur einen einzigen in meinem Leben gesehen hätte, der auch nur in der geringsten Sache sich zu beherrschen im Stande gewesen wäre! Wenn ihnen etwas gleichgültig ist, dann stellen sie sich gewöhnlich sehr ernsthaft, als ob sie es mit Mühe entbehrten, und was sie heftig wünschen, wissen sie sich selbst und andern als vortrefflich, nothwendig, unvermeidlich und unentbehrlich vorzustellen. Ich wüßte auch keinen, der auch nur der geringsten Entsagung fähig wäre.

Hofmeister. Sie sind selten ungerecht und ich habe Sie noch niemals so von Verdruß und Leidenschaft überwältigt gesehen als in diesem Augenblick.

Baronesse. Ich habe mich dieser Leidenschaft wenigstens nicht zu schämen. Wenn ich mir meine Freundinn, in ihrem Reisewagen, auf unbequemen Wegen mit Thränen an verletzte Gastfreundschaft sich zurück erinnernd, denke, so möcht’ ich euch allen von Herzen gram werden.

Hofmeister. Ich habe Sie in den größten Übeln nicht so bewegt und so heftig gesehen, als in diesem Augenblick.

Baronesse. Ein kleines Übel, das auf die grösseren folgt, erfüllt das Maaß; und dann ist es wohl kein kleines Übel eine Freundinn zu entbehren.

Hofmeister. Beruhigen Sie sich und vertrauen Sie uns allen, dass wir uns bessern, daß wir das Mögliche thun wollen, Sie zu befriedigen.

Baronesse. Keineswegs; es soll mir keiner von euch ein Vertrauen ablocken, aber fordern will ich künftig von euch, befehlen will ich in meinem Hause.

Fordern Sie nur, befehlen Sie nur, rief Karl: und Sie sollen sich über unsern Ungehorsam nicht zu beschweren haben.

Nun meine Strenge wird so arg nicht seyn, versetzte lächelnd die Baronesse, indem sie sich zusammen nahm: ich mag nicht gerne befehlen, besonders so freygesinnten Menschen; aber einen Rath will ich geben, und eine Bitte will ich hinzufügen.

Hofmeister. Und beydes soll uns ein unverbrüchliches Gesetz seyn.

Baronesse. Es wäre thörigt, wenn ich das Interesse abzulenken gedächte, das jedermann an den grossen Weltbegebenheiten nimmt, deren Opfer wir leider selbst schon geworden sind. Ich kann die Gesinnungen nicht ändern, die bei einem Jeden nach seiner Denkweise entstehen, sich befestigen, streben und wirken, und es wäre ebenso thörigt als grausam zu verlangen, daß er sie nicht mittheilen sollte. Aber das kann ich von dem Zirkel erwarten, in dem ich lebe, daß Gleichgesinnte sich im Stillen zu einander fügen und sich angenehm unterhalten, indem der eine dasjenige sagt, was der andere schon denkt. Auf euren Zimmern, auf Spaziergängen und wo sich Übereindenkende treffen, eröffne man seinen Busen nach Lust, man lehne sich auf diese oder jene Meynung, ja man geniesse recht lebhaft die Freude einer leidenschaftlichen Überzeugung. Aber, Kinder, in Gesellschaft laßt uns nicht vergessen, wieviel wir sonst schon, ehe alle diese Sachen zur Sprache kamen, um gesellig zu seyn, von unsern Eigenheiten aufopfern mußten, und daß jeder, so lange die Welt stehn wird, um gesellig zu seyn, wenigstens äusserlich sich wird beherrschen müssen. Ich fordere euch also nicht im Namen der Tugend, sondern im Namen der gemeinsten Höflichkeit auf: das mir und andern in diesen Augenblicken das zu leisten, was ihr von Jugend auf, ich darf fast sagen, gegen einen jeden beobachtet habt, der euch auf der Straße begegnete.

Überhaupt, fuhr die Baronesse fort: weiß ich nicht, wie wir geworden sind? wohin auf einmal jede gesellige Bildung verschwunden ist? Wie sehr hüthete man sich sonst in der Gesellschaft irgend etwas zu berühren, was einem oder dem andern unangenehm seyn konnte! Der Protestante vermied in Gegenwart des Katholicken irgend eine Zeremonie lächerlich zu finden; der eifrigste Katholick ließ den Protestanten nicht merken, daß die alte Religion eine grössere Sicherheit ewiger Seligkeit gewähre. Man enthielt sich vor den Augen einer Mutter, die ihren Sohn verloren hatte, sich seiner Kinder lebhaft zu freuen, und jeder fühlte sich verlegen, wenn ihm ein solches unbedachtsames Wort entwischt war. Jeder Umstehende suchte das Versehen wieder gut zu machen, – und thun wir nicht jetzo gerade das Gegentheil von allem diesem? Wir suchen recht eifrig jede Gelegenheit, wo wir etwas vorbringen können, das den andern verdrießt und ihn aus seiner Fassung bringt. O laßt uns künftig, meine Kinder und Freunde, wieder zu jener Art zu sein zurückkehren! Wir haben bisher schon manches Traurige erlebt – und vielleicht verkündigt uns bald der Rauch bey Tage und die Flammen bei Nacht den Untergang unsrer Wohnungen und unsrer zurückgelassenen Besitzthümer. Laßt uns auch diese Nachrichten nicht mit Heftigkeit in die Gesellschaft bringen, laßt uns dasjenige nicht durch öftere Wiederholung tiefer in die Seele prägen, was uns in der Stille schon Schmerzen genug erregt.

Als euer Vater starb habt ihr mir wohl mit Worten und Zeichen diesen unersetzlichen Verlust bey jeder Gelegenheit erneuert? Habt ihr nicht alles, was sein Andenken zur Unzeit wieder hervorrufen konnte, zu vermeiden und durch eure Liebe, eure stillen Bemühungen und eure Gefälligkeit das Gefühl jenes Verlustes zu lindern und die Wunde zu heilen gesucht? Haben wir jetzt nicht alle nöthiger, eben jene gesellige Schonung auszuüben, die oft mehr wirkt, als eine wohlmeynte aber rohe Hülfe. Jetzt, da nicht etwa in der Mitte von Glücklichen ein oder der andere Zufall diesen oder jenen verletzt, dessen Unglück von dem allgemeinen Wohlbefinden bald wieder verschlungen wird, sondern wo unter einer ungeheuren Anzahl Unglücklicher kaum wenige, entweder durch Natur oder Bildung, einer zufälligen oder künstlichen Zufriedenheit geniessen.

Karl. Sie haben uns nun genug erniedrigt, liebe Tante, wollen Sie uns nicht wieder die Hand reichen?

Baronesse. Hier ist sie, mit der Bedingung, daß ihr Lust habt, euch von ihr leiten zu lassen. Rufen wir eine Amnestie aus! Man kann sich jetzt nicht geschwind genug dazu entschliessen.

In dem Augenblicke traten die übrigen Frauenzimmer, die sich nach dem Abschiede noch recht herzlich ausgeweint hatten, herein und konnten sich nicht bezwingen Vetter Karl’n freundlich anzusehen.

Kommt her, ihr Kinder, rief die Baronesse: wir haben eine ernsthafte Unterredung gehabt, die, wie ich hoffe, Friede und Einigkeit unter uns herstellen, und den guten Ton, den wir eine Zeitlang vermissen, wieder unter uns einführen soll; vielleicht haben wir nie nöthiger gehabt uns an einander zu schliessen, und, wäre es auch nur wenige Stunden des Tages, uns zu zerstreuen. Laßt uns dahin übereinkommen, daß wir, wenn wir beysammen sind, gänzlich alle Unterhaltung über das Interesse des Tages verbannen? Wie lange haben wir belehrende und aufmunternde Gespräche entbehrt, wie lange hast du uns, lieber Karl, nichts von fernen Landen und Reichen erzählt, von deren Beschaffenheit, Einwohnern, Sitten und Gebräuchen du so schöne Kenntnisse hast. Wie lange haben Sie (so redete sie den Hofmeister an) die alte und neue Geschichte, die Vergleichung der Jahrhunderte und einzelner Menschen schweigen lassen, wo sind die schönen und zierlichen Gedichte geblieben, die sonst so oft aus den Brieftaschen unsrer jungen Frauenzimmer, zur Freude der Gesellschaft, hervorkamen, wohin haben sich die unbefangenen philosophischen Betrachtungen verloren? Ist die Lust gänzlich verschwunden, mit der ihr, von euren Spaziergängen einen merkwürdigen Stein, eine, uns wenigstens, unbekannte Pflanze, ein seltsames Insekt zurückbrachtet, und dadurch Gelegenheit gabt, über den großen Zusammenhang aller existirenden Geschöpfe wenigstens angenehm zu träumen? Laßt alle diese Unterhaltungen, die sich sonst so freywillig darboten, durch eine Verabredung, durch Vorsatz, durch ein Gesetz wieder bei uns eintreten, bietet alle eure Kräfte auf lehrreich, nützlich und besonders gesellig zu seyn, und das alles werden wir – und noch weit mehr als jetzt, benöthigt seyn, wenn auch alles völlig drunter oder drüber gehen sollte. Kinder versprecht mir das.

Sie versprachen es mit Lebhaftigkeit.

Und nun geht, es ist ein schöner Abend, geniesse ihn jeder nach seiner Weise und laßt uns beym Nachtessen, seit langer Zeit zum erstenmal, die Früchte einer freundschaftlichen Unterhaltung genießen.

So ging die Gesellschaft auseinander; nur Fräulein Luise blieb bey der Mutter sitzen: sie konnte den Verdruß, ihre Gespielin verloren zu haben, nicht so bald vergessen, und ließ Karl’n, der sie zum Spaziergange einlud, auf eine sehr schnippische Weise abfahren. So waren Mutter und Tochter eine Zeitlang still neben einander geblieben, als der Geistliche herein trat, der von einem langen Spaziergange zurückkam, und von dem was in der Gesellschaft vorgekommen war nichts erfahren hatte. Er legte Hut und Stock ab, ließ sich nieder und wollte eben etwas erzählen; Fräulein Luise aber, als wenn sie ein angefangenes Gespräch mit ihrer Mutter fortsetzte, schnitt ihm die Rede mit folgenden Worten ab.

Manchen Personen wird denn doch das Gesetz, das eben beliebt worden ist, ziemlich unbequem seyn. Schon wenn wir sonst auf dem Lande wohnten, hat es manchmal an Stoff zur Unterredung gemangelt, denn da war nicht so täglich wie in der Stadt ein armes Mädchen zu verläumden, ein junger Mensch verdächtig zu machen; aber doch hatte man bisher noch die Ausflucht: von ein paar grossen Nationen alberne Streiche zu erzählen, die Deutschen wie die Franzosen lächerlich zu finden und bald diesen bald jenen zum Jakobiner und Clubbisten zu machen; wenn nun auch diese Quelle verstopft wird; so werden wir manche Personen wohl stumm in unserer Mitte sehen.

Ist dieser Anfall etwa auf mich gerichtet? mein Fräulein, fing der Alte lächelnd an, nun, Sie wissen, daß ich mich glücklich schätze, manchmal ein Opfer für die übrige Gesellschaft zu werden: denn, gewiß, indem Sie bey jeder Unterhaltung Ihrer fürtrefflichen Erzieherin Ehre machen, und Sie jedermann angenehm, liebenswürdig und gefällig findet; so scheinen Sie einem kleinen bösen Geist, der in Ihnen wohnt und über den Sie nicht ganz Herr werden können, für mancherley Zwang den Sie ihm anthun, auf meine Unkosten gewöhnlich einige Entschädigung zu verschaffen. Sagen Sie mir gnädige Frau, fuhr er fort, indem er sich gegen die Baronesse wandte: was ist in meiner Abwesenheit vorgegangen? und was für Gespräche sind aus unserm Zirkel ausgeschlossen?

Die Baronesse unterrichtete ihn von allem was vorgefallen war. Aufmerksam hörte er zu und versetzte sodann: es dürfte auch nach dieser Einrichtung manchen Personen nicht unmöglich seyn die Gesellschaft zu unterhalten und vielleicht besser und sichrer als andere.

Wir wollen es erleben, sagte Luise.

Dieses Gesetz, fuhr er fort: enthält nichts beschwerliches für jeden Menschen, der sich mit sich selbst zu beschäftigen wusste, vielmehr wird es ihm angenehm seyn, indem er dasjenige, was er sonst gleichsam verstohlen trieb, in die Gesellschaft bringen darf. Denn nehmen Sie mir nicht übel, Fräulein, wer bildet denn die Neuigkeitsträger, die Aufpasser und Verläumder als die Gesellschaft? Ich habe selten bei einer Lektüre, bey irgend einer Darstellung einer interessanten Materie, die Geist und Herz beleben sollten, einen Zirkel so aufmerksam und die Seelenkräfte so thätig gesehen, als wenn irgend etwas Neues und zwar eben etwas das einen Mitbürger oder eine Mitbürgerin heruntersetzt, vorgetragen wurde. Fragen Sie sich selbst und fragen Sie viele andere, was giebt einer Begebenheit den Reiz? nicht ihre Wichtigkeit, nicht der Einfluß den sie hat, sondern die Neuheit. Nur das Neue scheint gewöhnlich wichtig, weil es ohne Zusammenhang Verwunderung erregt und unsre Einbildungskraft einen Augenblick in Bewegung setzt, unser Gefühl nur leicht berührt und unsern Verstand völlig in Ruhe läßt. Jeder Mensch kann ohne die mindeste Rückkehr auf sich selbst an allem was neu ist lebhaften Antheil nehmen, ja, da eine Folge von Neuigkeiten immer von einem Gegenstande zum andern fortreißt, so kann der großen Menschenmasse nichts willkommener seyn als ein solcher Anlaß zu ewiger Zerstreuung und eine solche Gelegenheit Tück- und Schadenfreude auf eine bequeme und immer sich erneuernde Weise auszulassen.

Nun! rief Luise, es scheint Sie wissen Sich zu helfen; sonst ging es über einzelne Personen her, jetzt soll es das ganze menschliche Geschlecht entgelten.

„Ich verlange nicht, daß Sie jemals billig gegen mich sein sollen, versetzte jener; aber so viel muß ich Ihnen sagen, wir andern, die wir von der Gesellschaft abhängen, müssen uns nach ihr bilden und richten, ja wir dürfen eher etwas thun, das ihr zuwider ist, als was ihr lästig wäre, und lästiger ist ihr in der Welt nichts als wenn man sie zum Nachdenken und zu Betrachtungen auffordert. Alles was dahin zielt muß man ja vermeiden und allenfalls das im Stillen für sich vollbringen, was bey jeder öffentlichen Versammlung versagt ist.

Für sich im Stillen mögen Sie wohl allenfalls manche Flasche Wein ausgetrunken und manche schöne Stunde des Tages verschlafen haben, fiel Luise ihm ein.

Ich habe nie, fuhr der Alte fort: auf das was ich thue viel Werth gelegt: denn ich weiß, daß ich gegen andern Menschen ein grosser Faullenzer bin; indessen hab’ ich doch eine Sammlung gemacht, die vielleicht eben jetzt dieser Gesellschaft, wie sie gestimmt ist, manche angenehme Stunde verschaffen könnte.

Was ist es für eine Sammlung? fragte die Baronesse.

Gewiß nichts weiter als eine skandaleuse Chronik, setzte Luise hinzu.

Sie irren sich, sagte der Alte.

Wir werden sehen, versetzte Luise.

Laß ihn ausreden, sagte die Baronesse: und überhaupt gewöhne dir nicht an, einem, der es auch zum Scherze leiden mag, hart und unfreundlich zu begegnen. Wir haben nicht Ursache den Unarten, die in uns stecken, auch nur im Scherze Nahrung zu geben. Sagen Sie mir, mein Freund, worinn besteht Ihre Sammlung? wird sie zu unsrer Unterhaltung dienlich und schicklich seyn? ist sie schon lange angefangen? warum haben wir noch nichts davon gehört?

Ich will Ihnen hierüber Rechenschaft geben, versetzte der Alte. Ich lebe schon lange in der Welt und habe immer gern auf das acht gegeben, was diesem oder jenem Menschen begegnet. Zur Übersicht der grossen Geschichte fühl ich weder Kraft noch Muth, und die einzelnen Weltbegebenheiten verwirren mich; aber unter den vielen Privatgeschichten, wahren und falschen, mit denen man sich im Publiko trägt, die man sich insgeheim einander erzählt, giebt es manche die noch einen reineren, schönern Reiz haben, als den Reiz der Neuheit. Manche die durch eine geistreiche Wendung uns immer zu erheitern Anspruch machen, manche die uns die menschliche Natur und ihre innere Verborgenheiten auf einen Augenblick eröffnen, andere wieder, deren sonderbare Albernheiten uns ergötzen. Aus der großen Menge, die im gemeinen Leben unsere Aufmerksamkeit und unsere Bosheit beschäftigen und die eben so gemein sind als die Menschen, denen sie begegnen oder die sie erzählen, habe ich diejenigen gesammelt, die mir nur irgend einen Charakter zu haben schienen, die meinen Verstand, die mein Gemüth berührten und beschäftigten und die mir, wenn ich wieder daran dachte, einen Augenblick reiner und ruhiger Heiterkeit gewährten.

Ich bin sehr neugierig, sagte die Baronesse, zu hören, von welcher Art Ihre Geschichten sind und was sie eigentlich behandeln.

Sie können leicht denken, versetzte der Alte: daß von Prozessen und Familienangelegenheiten nicht öfters die Rede seyn wird. Diese haben meistentheils nur ein Interesse für die welche damit geplagt sind.

Luise. Und was enthalten sie denn?

Der Alte. Sie behandeln, ich will es nicht leugnen, gewöhnlich die Empfindungen, wodurch Männer und Frauen verbunden oder entzweyet, glücklich oder unglücklich gemacht, öfters aber verwirrt als aufgeklärt werden.

Luise. So? Also wahrscheinlich eine Sammlung lüsterner Späße geben Sie uns für eine feine Unterhaltung? Sie verzeihen mir Mama, daß ich diese Bemerkung mache, sie liegt so ganz nah, und die Wahrheit wird man doch sagen dürfen.

Der Alte. Sie sollen, hoffe ich, nichts was ich lüstern nennen würde, in der ganzen Sammlung finden.

Luise. Und was nennen Sie denn so?

Der Alte. Ein lüsternes Gespräch, eine lüsterne Erzählung sind mir unerträglich. Denn sie stellen uns etwas Gemeines, etwas das der Rede und Aufmerksamkeit nicht werth ist, als etwas Besonderes, als etwas Reizendes vor und erregen eine falsche Begierde, anstatt den Verstand angenehm zu beschäftigen. Sie verhüllen das, was man entweder ohne Schleier ansehen, oder wovon man ganz seine Augen wegwenden sollte.

Luise. Ich verstehe Sie nicht. Sie werden uns doch Ihre Geschichten wenigstens mit einiger Zierlichkeit vortragen wollen? Sollten wir uns denn etwa mit plumpen Späßen die Ohren beleidigen lassen? Es soll wohl eine Mädchenschule werden, und Sie wollen noch Dank dafür verlangen?

Der Alte. Keines von beyden. Denn erstlich, erfahren werden Sie nichts Neues, besonders da ich schon seit einiger Zeit bemerke, dass Sie gewisse Recensionen in den gelehrten Zeitungen niemals überschlagen.

Luise. Sie werden anzüglich.

Der Alte. Sie sind eine Braut und ich entschuldige Sie gerne. Ich muss Ihnen aber nur zeigen, daß ich auch Pfeile habe, die ich gegen Sie brauchen kann.

Baronesse. Ich sehe wohl wo Sie hinaus wollen, machen Sie es aber auch ihr begreiflich.

Der Alte. Ich müßte nur wiederhohlen was ich zu Anfange des Gesprächs schon gesagt habe; es scheint aber nicht, daß sie den guten Willen hat aufzumerken.

Luise. Was brauchts da guten Willen und viele Worte, man mag es besehen, wie man will, so werden es skandaleuse Geschichten seyn, auf eine oder die andere Weise skandaleus, und weiter nichts.

Der Alte. Soll ich wiederhohlen, mein Fräulein: daß dem wohldenkenden Menschen nur dann etwas skandaleus vorkomme, wenn er Bosheit, Übermuth, Lust zu schaden, Widerwillen zu helfen bemerkt, daß er davon sein Auge wegwendet; dagegen aber kleine Fehler und Mängel lustig findet, und besonders mit seiner Betrachtung gern bey Geschichten verweilt, wo er den guten Menschen in leichtem Widerspruch mit sich selbst, seinen Begierden und seinen Vorsätzen findet, wo alberne und auf ihren Werth eingebildete Thoren beschämt, zurecht gewiesen oder betrogen werden; wo jede Anmassung auf eine natürliche, ja auf eine zufällige Weise bestraft wird; wo Vorsätze, Wünsche und Hoffnungen bald gestöhrt, aufgehalten und vereitelt, bald unerwartet angenähert, erfüllt und bestätigt werden. Da wo der Zufall mit der menschlichen Schwäche und Unzulänglichkeit spielt, hat er am liebsten seine stille Betrachtung und keiner seiner Helden, deren Geschichten er bewahrt, hat von ihm weder Tadel zu besorgen noch Lob zu erwarten.

Baronesse. Ihre Einleitung erregt den Wunsch bald ein Probstück zu hören. Ich wüßte doch nicht, daß in unserm Leben, (und wir haben doch die meiste Zeit in Einem Kreise zugebracht,) vieles geschehen wäre, das man in eine solche Sammlung aufnehmen könnte.

Der Alte. Es kommt freilich vieles auf die Beobachter an, und was für eine Seite man den Sachen abzugewinnen weiß; aber ich will freylich nicht leugnen, daß ich auch aus alten Büchern und Traditionen manches aufgenommen habe. Sie werden mitunter alte Bekannte vielleicht nicht ungern in einer neuen Gestalt wieder antreffen. Aber eben dieses giebt mir den Vortheil, den ich auch nicht aus den Händen lassen werde: – man soll keine meiner Geschichten deuten!

Luise. Sie werden uns doch nicht verwehren unsre Freunde und Nachbarn wieder zu kennen und wenn es uns beliebt das Räthsel zu entziffern.

Der Alte. Keineswegs. Sie werden mir aber auch dagegen erlauben, in einem solchen Falle einen alten Folianten hervorzuziehen, um zu beweisen, daß diese Geschichte schon vor einigen Jahrhunderten geschehen oder erfunden worden. Eben so werden Sie mir erlauben heimlich zu lächeln, wenn eine Geschichte für ein altes Mährchen erklärt wird, die unmittelbar in unsrer Nähe vorgegangen ist, ohne daß wir sie eben gerade in dieser Gestalt wieder erkennen.

Luise. Man wird mit Ihnen nicht fertig; es ist das Beste wir machen Friede für diesen Abend, und Sie erzählen uns noch geschwind ein Stückchen zur Probe.

Der Alte. Erlauben Sie, daß ich Ihnen hierin ungehorsam seyn darf. Diese Unterhaltung wird für die versammelete Gesellschaft aufgespart. Wir dürfen ihr nichts entziehen, und ich sage voraus: alles was ich vorzubringen habe, hat keinen Werth an sich. Wenn aber die Gesellschaft, nach einer ernsthaften Unterhaltung, auf eine kurze Zeit ausruhen, wenn sie sich, von manchem Guten schon gesättigt, nach einem leichten Nachtische umsieht, alsdann werd ich bereit seyn, und wünsche daß das, was ich vorsetze, nicht unschmackhaft befunden werde.

Baronesse. Wir werden uns denn schon bis morgen gedulden müssen.

Luise. Ich in höchst neugierig, was er vorbringen wird.

Der Alte. Das sollten Sie nicht seyn, Fräulein; denn gespannte Erwartung wird selten befriedigt.

[Fortsetzung]

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