HomeDie Horen1795 - Stück 11I. Das Fest der Grazien. [Gottfried Herder]

I. Das Fest der Grazien. [Gottfried Herder]

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Unvermuthet habe ich auf meiner Reise das Vergnügen genossen, einem Fest beizuwohnen, das man das Fest der Grazien nannte. Mein Freund empfing mich in seiner reizenden Gegend und machte mich mit einigen Familien bekannt, die seit langen Jahren in Freundschaft mit einander lebten. Sie waren in einem großen und schönen Land-Hause versammlet; und kaum hatte ich ihre Bekanntschaft gemacht, kaum hatten sie mir gesagt, daß sie am heutigen schönen Tage, das Fest ihrer Freundschaft und eines gemeinschaftlichen Geburtstages feierten: so trat ein Chor Kinder mit einem Gesange herein, der das Fest begann. Sie brachten Blumen, sie brachten Kränze, und jedes erzählte ohne Prunk, was ihm im vorigen Jahr das Angenehmste, das Erfreulichste gewesen. Einige erinnerten die Eltern an diese und jene Gegend, die sie genossen, an Geschenke die sie empfangen hatten, an mancherlei kleine Umstände und Augenblicke, die ihnen insonderheit liebgewesen waren. Es war ein freudiger Wettstreit zwischen ihnen; Jenes pries den Aufgang der Sonne, den es zum erste Mal gesehen hatte; dieses die Abendröthe; ein andres Geschenke an Kleidern, an Büchern; dies Lectionen im Unterricht, oder an der Hausarbeit. Man sagte Stellen aus dichtern her, und hatte Kränze gewunden, um das Brustbild Dieses und Jenes Dichters zu schmücken. Ich freuete mich, die Namen unsrer besten lebenden und verstorbenen Weisen nennen zu hören; und bemerkte in jedem Kranz die Blumen charakteristisch gewählet. Noch merkbarer war die verschiedne Neigung der Kinder zu dem oder jenem Vergnugen, die jedes frei bekannte, und von der es die Züge in seinem Gesicht, wie in seinem Betragen trug. Hausliche, sittliche, literarische Vergnügungen flogen wie Schmetterlinge von mancherlei Farben durch und über einander hin; einige der Ältern nannten sehr ernste Bücher, sehr ernste Geschäfte und Freuden. Die Eltern, als ob diese Kinder ihnen gemeinschaftlich angehörten, nahmen an jeder frohen Erinnerung Theil; hie und da bogen sie den Kranz des Andenkens sanft zurecht und verschönten ihn gleichsam durch neue Blumen der Erinnrung. Kleine Winke an sie wurden miteingeflochten; man munterte auf, man lobte, man dankte; allenthalben aber blickte aus diesen Unterredungen die Seele des Tages durch, Freude über sein Daseyn, über sein thätiges Zusammenleben mit einander in sittlicher Bildung. Die Eltern freueten sich in den Kindern, die Kinder in den Eltern, diese sich unter und mit einander. Es war wirklich ein Fest des Genius dieser Familien, und der sittlichen Grazie, die sie in sich und in andern anbaueten, genossen und liebten.

Nachdem das junge Heer sich in den Garten zerstreuet hatte, um das Andenken seiner vergnügten Augenblicke hie und da emblematisch zu bezeichnen, setzten die Eltern das Gespräch fort. Auch sie erinnerten sich des Angenehmen und Unangenehmen voriger Tage; letzteres wurde kurz abgethan, und meistens dabei bemerkt, wie auch aus dem Bösen etwas Gutes entsprossen sei, oder wie es noch daraus erwachsen könne. Hiezu bot Einer dem Andern seine Hand, seinen Rath, seine Beihülfe an, weil sie sich alle als Eine Familie ansahen. Der erfreuenden Scenen wurde desto reicher gedacht; diese wurden von Jugend auf gleichsam noch einmal durchlebet. Da die Geschichte eines jeden Menschen interessant ist, sobald das Herz daran Theil nimmt: so erschienen mir bei diesen Erzählungen viel angenehme Scenen. Der Traum des menschlichen Lebens, fühlte ich, werde dann nur schön geträumt, wenn er sympathetische Erinnerungen erwecket und nachlässt.

Die fröhliche Jugend rufte uns jetzt zur Ansicht ihrer Embleme, unter welchen wir viel artige Gedanken, einfach- und rührend ausgedruckte Empfindungen, allgemein aber eine Grazie des Vergnügens bemerkten, die dem ganzen Fest Leben und Wonne gab. Kränze, Inschriften, Tänze gehörten mit darunter, ohne welche sich die Jugend, insonderheit des weiblichen Geschlechts kaum freuen zu können glaubet. So kamen wir zu einem kleinen offenen Tempel, in welchem drei bekleidete Grazien standen, mit der Inschrift: Wohlwollen, Dankbarkeit, Freude; ineinander geschlungen standen sie auf einem Altar, an dessen Einer Seite des Profil des Mannes erhoben gearbeitet war, der Stifter dieses Festes gewesen. Wir lagerten uns um dies verborgne Tempelchen; die Chöre der Kinder zerstreueten sich zu ihren Spielen und Erfrischungen; unter uns fiel das Gespräch natürlich auf den Stifter des Festes. Man rühmte dessen menschenfreundliche, holdselige Denkart, und zeigte mir das Papier, worauf er in wenigen Worten zu dieser Anstalt Gelegenheit gegeben hatte. Ich theile den Anfang des Aufsatzes mit:

„Die Menschen beklagen sich über die Unannehmlichkeiten des Lebens, und gestehen ein, daß diese meistentheils von den Gesinnungen der Menschen gegen einander herrühren. Wie also? wenn einige unter uns zusammenträten mit dem vesten Entschluß, einander so viel an uns ist, das Leben angenehm zu machen, und auch unsre Kinder dazu zu gewöhnen?

„Man beklaget sich oft über Undank; und sind wir selbst wohl in Allem und über Alles dankbar? Wie wäre es, wenn wir zusammenträten, Erkenntlichkeit in unserm Gemüth über Alles zu erwecken, was uns im Lauf der Dinge von der Vorsehung oder von Menschen Gutes wiederfähret, und auch unsre Kinder zu dieser dankbaren Gemüthsart zu gewöhnen?

„Man beklaget sich oft über Erschlaffung der Seele, über Mangel der Triebe zu guten Handlungen. Damit wir diese leicht und fröhlich verrichten; wie? wenn wir zusammenträten, die fröhliche Thätigkeit in uns zu stärken, und auch die Unsrigen dazu zu gewöhnen?

„Wohlwollen ist die erste Grazie des Lebens. Eine Handlung; die ich aus Zwang verrichte, wird mir schwer; leicht wird, wozu uns die Liebe beflügelt. Es giebt keinen holderen Aufenthalt, als in menschlichen Seelen zu wohnen, mit dem Gemüth für ein andres Gemüth sich zu bemühen, zu wachen, zu wirken, und auch die kleinste Handlung mit einem guten Willen zu bezeichnen.

„Erkenntlichkeit, ist die zweite Grazie des Lebens. Wie durch Vergleichung und Ableitung der Dinge von einander, durch Bemerkung der Ursachen und Folgen die Vernunft der Menschen gebildet wird: so durch Erkenntlichkeit die sittliche Vernunft des Menschen. Ich fühle, was ich andern schuldig bin, indem ich in ihren Seelen lese, was sie mir Gutes thun wollten. Diese Wiederholung ihrer Wohlthaten, dies Zurücksetzen meiner in ihre Empfindung macht Seelen mit einander Eins; ihre Wohlthaten selbst machen die ihrige zu einem Theil meiner Seele. Ich gehöre mir nicht ganz, sondern auch ihnen; wie sie sich mir gaben und mir zugehören. Die zwote Huldgöttin schließet sich also vest an die erste.

„Und die dritte ist von ihnen unabtrennlich: freudige Thätigkeit im Fortwirken für andre. Möge der Erfolg seyn wie er wolle; ich gehöre mir nicht zu, sondern andern. Ich habe empfangen und muß geben. Je gutmüthiger und freudiger; desto schöner. Was von Herzen kommt, geht zu Herzen, untrennbar von der wahren Grazie ist’s, daß sie das Gemüth erhebt und beflügelt, daß sie des andern Gemüth ergreift und ihm das Herz raubet. So umfassen sich die Drei und wirken auf Menschen und Geschlechter.“

Nach diesem Anfange beschreibt der Stifter die Anordnung seines Festes, zu welchem dann seine Freunde gern beitraten und das bereits viele Jahre hindurch viel Gutes gestiftet hatte. Wirksame Fröhlichkeit, häußliche Vertraulichkeit, und jener Liebreiz des zuvorkommenden, dankbaren, geselligen Umgangs waren dieser Familien auszeichnender Charakter. Mich ergrif das Wohlgefühl der Harmonie, die in diesem Kreise herrschte, wie die Musik aus einer Welt der Seelen. Ich fühlte, daß, was die innigste, eine unversiegbare Freude des menschlichen Lebens gewähre, sei die Zusammenstimmung der Gemüther, ein gemeinschaftliches Empfangen und Geben, ein Fortwirken mit und zu einander, nach der großen Regel des Wohllauts, der in uns tönet und der unser wahres Seyn ist.

Aber, sagte ich, verzeihen Sie mir Einen Zweifel. Schweigt Ihnen diese Musik der Seele niemals? Werden Ihre Saitenspiele nie verstimmt, hier durch Neid, dort durch das Übelwollen einer niedern Begierde? Wie ists, wenn Sie Undank erleben, oder sonst gegen sich selbst auf der Hut seyn müssen? Wird Ihre Seele durch diese Grazientugend nicht zu weich, zu weiblich, da unser Leben eher ein Kampf als ein fortwährender Freudentanz ist.

Ein ernster Mann nahm das Wort und sagte: Ich weiß worauf Sie deuten; viele Philosophen gebieten eine Tugend, die immer steif und müßig steht, mit geschloßnen Armen, das Gewehr auf der Schulter und ruft: wer da? Diese Tugend hat einen vornehmen Ton, an ihrem Platz ist sie auch nöthig; nur stehet sie einsam da; sie stehet sich müde, und wartet auf Ablösung. Die Gemüthsneigung eines fortwirkenden, ich möchte sagen, eines lebendigen Lebens, auf welches doch die Natur gerechnet hat, ist eine andre.

„Lassen Sie mich hierüber als Mutter reden, unterbrach ihn bescheiden eine Frau vom edelsten Anstande: Einer der uneigennützigsten, und wenn Sie so wollen, der unbelohntesten Triebe ist doch wohl die Mutterliebe. Er ist so stark, daß er alle Gefahren verachtet, daß ihm keine Mühe verdrießlich, und der Tod selbst nicht schmerzhaft ist, wenn dieser ein geliebtes Kind rettet, oder sonst sein Glück befördert. Woher, meinen Sie, entsteht dieser Heroismus? Etwa dadurch, daß eine Mutter sich von ihrem Kinde zuförderst getrennet denkt, und sich fragt: ob dies oder jenes zu thun, ihr ihre Würde, die Würde des Gesetzes der Vernunft gebiete? Nicht also; und ich wäre fast überzeugt, daß steife Überlegungen dieser Art sie vielleicht zu einer gelehrten, aber nicht zu einer thätigen, liebenden Mutter machen werden. Wohlwollen ists, was sie treibt, was sie beseelet, das uneigennützigste und zugleich eigennützigste Wohlwollen: denn sie sieht ihre Kinder nicht getrennet von sich, sondern als ihre Kinder, als Gebilde an, die unter ihrem Herzen erwuchsen. So wenig sie damals einen Unterschied zwischen sich und ihrer ungesehenen Frucht kannte; um so weniger kennet sie jetzt einen Unterschied, da sie ihre Kinder, gebildet, vernünftig, fühlend, liebens- oder mitleidswurdig vor sich siehet. Mit siebenfacher Stimme ruft ihr jetzt die Natur zu; das Wort derselben ist ihr deutlicher, vernehmlicher geworden, da es sich in mancherlei Sorgen und Rücksichten getheilet hat. Sie lebt jetzt ungleich mehr in ihren Kindern, als da sie körperlich mit ihr Eins waren; in jedem isolirten Zurückkommen auf sich, würde sie sich als einen vertrockneten Stamm, als eine verdorrete Blume fühlen.“

Ein Vater verfolgte das Wort. „Mit allen andern Banden reiner menschlichen Beziehungen nicht anders. Welcher Vater geniesset nicht siebenfach, wenn seine Kinder sich freuen und geniessen? Welcher Freund lebt nicht in seinem Freunde, der Ehegatte im Ehegatten, der Geliebte im Geliebten, unendlich zarter und inniger, als ob er selbst mit abstrahirtem Genuß empfände? Das ganze Geheimniß der Liebe, ja ich möchte sagen der ganze Zusammenhang der Schöpfung ist auf diese heilige Verwirrung und Mittheilung der Gemüther, auf einen wechselseitigen, im Genuß des andern siebenfach verstärkten Genuß gegründet. Wir sollen nicht in uns selbst, abgetrennt und selbstsüchtig leben; sonst sind wir falbe Herbstblätter, die in der Luft flattern, um bald am Boden ganz zu ersterben. In andern sollen wir leben; da sagt der Stifter unsers Festes, da leben wir geläutert, rein, vielfach, verjünget, unsterblich. Nicht in sich, wohnet das wohlwollen, die erste Grazie, sondern in ihren Schwestern. Das Gemüth anderer ist ihr heiliger, unzerstörbarer Tempel.“ –

Eben kam der Chor der Kinder im Tanze bei uns vorüber, der, was gesagt werden sollte, ungezwungen sagte! Es war ein Wechseltanz, der das Du für Mich, Ich für Dich, geistvoll, naiv und bescheiden ausdrückte. Der Chor schwebte vorüber.

Und einer der ältern Söhne, der sich hinter uns gelagert hatte, nahm das Wort. Nicht anders, sagte er, haben die Griechen das Wort Charis (Grazie) ehemals verstanden. „Ich thue das deinethalben, dir zu Liebe, dir zur Freude und zum Wohlgefallen;“ das war der ursprüngliche Sinn dieses Worts, aus dem sodann die zweite Grazie „ich freue mich; ich empfinde dies Wohlgefallen und bringe dir erfreulichen Dank dafür,“ natürlich folgen mußte. An eine erkünstelte Anmuth oder gar an nackte Figuren dachte man damals bei diesen Worten noch nicht. – Der Jüngling führte eine Reihe von Ausdrücken an, da die Griechen jede Gefälligkeit, Gunst und Wohlthat, wenn sie mit Artigkeit gegeben und genommen wird, Charis nannten. Bei dem Lateinischen gratia und dem Deutschen Huld wurde ihm die Sache noch klärer, und er war beredt zu zeigen, daß was auch in der Schönheit Grazie (Anmuth) sei, immer von einem Zuge der Gefälligkeit, von einer Gebehrde herrühre, in welchem sich ein gefallendes Gemüth offenbare. „So, sagte er, sprachen die Griechen von Augen und Augenbraunen, von Lippen und Küssen der Grazie, eben um sie von der todten Schönheit zu unterscheiden.“ – Er war mit der jüngern Kunst unzufrieden, die durch die Entkleidung dieser Göttinnen beinah ihren Charakter verfehlt habe. „Was ist, fragte er, an diesen drei wiederholten, weiblichen Körpern bedeutend? Nur ihre Stellung, ihre zusammengeschlungene Hände, ihre Angesichte; würden diese bei einer leichten Bekleidung nicht noch bedeutender seyn?“ Er wies auf die drei bekleideten Sokratischen Grazien im kleinen Familien-Tempel.

„Gnug, (unterbrach ihn ein Alter, der als der Vater aller Familien angesehen ward,) gnug mein Sohn, von Worten und Bildern; laß uns zur Sache selbst zurückkehren. Mögen die Griechen unter Charis zuerst Reiz des Körpers oder Gefälligkeit der Seele verstanden haben; alle Grazien sind Schwestern und streiten nicht unter einander, welche von ihnen die ältere sei. Wahre Anmuth strat allein aus der Seele, sie theilt sich aber allem mit, nicht nur jeder Gebehrde des Körpers, sondern auch jedem Wurf des Gewandes. Wir feiern das Fest sittlicher Grazien; mich dünkt, sprach er, und winkte auf mich, daß Sie auch gegen unsre zweite Huldgöttinn, die Dankbarkeit, einen Zweifel hegten.“

„Kennen Sie, wiederholte ich, keinen Undank?“

„Unter uns, antwortete der Alte, fürchten wir ihn nicht; wo er sich ausser unserm Kreise findet, suchen wir auch ihn in Dank zu verwandeln. Und es gelingt uns meistens. Glauben Sie, mein Freund fuhr er fort, es spricht von Undank, wer am wenigsten davon sprechen sollte. Man beklaget sich über ihn, und behauptet doch in demselben Athem, daß die Tugend Pflicht sei, und Großmuth keinen Dank erwarte. Man beklaget sich über Undank, und ist überzeugt, daß man ihn verdiene: denn der verdient ihn, der mit einer geringen Wohlthat nach grossem ewigem Dank haschet, der durch eine kleine Gefälligkeit, die Pflicht war, den andern Zeitlebens zum Knecht, zum Schmeichler, zum unwürdigen Sklaven gemacht haben will. Ich kann deßwegen die Worte Devotion, Verbindlichkeit, Verbundenheit, so wenig als die goldnen Worte, Huld, und Gnade recht leiden: denn sie werden zu oft gemißbraucht. Das schöne Wort Huld, z. B. das meistens mit Gnade zusammengesetzt wird, hat dadurch ganz seinen Werth verlohren. Ein Mensch, der, wodurch es auch sei, sich über alle Sterblichen erhoben glaubt, und ihnen mit seiner Macht, mit seinen Talenten, mit seiner Geschicklichkeit oder seinem Reichthum nur Gnade erweiset, für welche er auf unermeßlichen Dank rechnet, ist dieses Danks weder werth noch fähig. Hatte Er sich vom Bande der Gefälligkeit, das ihn mit seinen Brüdern zusammenschlang, losgemacht und ist ein Gott geworden, so sind auch andre von ihm los; ihm dufte Weihrauch. Die ächte Grazie des Danks, die ihrer ältern Schwester dem wirklichen und wahren Wohlwollen unzertrennt zur Seite ist, sucht er vergebens. Wie kann jemand andre der Undankbarkeit anklagen, ohne zu fühlen was er mit diesem Wort sage? welchen harten Vorwurf er ihnen vielleicht ungerecht mache? wer das kann, der hat die Grazie nicht gesehen: er suchet sie scheltend, und sie flieht ihn als einen Wilden.

„Undankbarkeit fuhr er fort, ist vielleicht nicht immer ein Laster; aber eine Barbarei des Gemüths, und wie das Wort Unerkenntlichkeit selbst sagt, ein Unbesinnen, eine Rohheit der Seele ist sie, die ihren Verschuldeten selbst peinigt. Haben Sie je die häßlichen Charaktere bemerkt, die einen Menschen nicht leiden können, sobald sie ihm verbunden zu seyn glauben? Er ist ihrem Gedanken, ihrem Anblick unerträglich, weil sie durchaus niemanden verbunden seyn wollen; je grösser die Wohlthat ist, die er ihnen erzeigt hat, desto verdrießlicher wird er ihnen. Hätte er ihnen das Leben, oder sie aus einer Verlegenheit gerettet, die sie selbst schaamroth macht; fortan trage er die Schuld dieser Schaamröthe! – Was halten Sie von einer solchen Gemüthsart? Strafet sie nicht aufs empfindlichste sich selbst? Was ist süßer als Dank!“ –

„Was ist süßer als Dank, fuhr die Tochter des Greises fort, die seine Knie umfaßte. So oft ich daran denke, was meine Mutter, mit der ich nicht mehr sprechen, der ich meinen Dank sichtbar nicht mehr bezeugen kann, an mir that, so oft lebe ich mit ihr, und mit Euch, Vater, meine fröhliche Kindheit und Jugend noch einmal wieder. Jede schöne Situation meines Lebens kommt mir, und mich dünkt, geläutert, wie ein schöner Engel wieder. Mit Gebehrde meiner Mutter ist vor mir; ihr sanfter Ton klingt meinem Ohre; ich glaube, sie sei um mich, sie sei auch jetzt um mich, da ich so innig an sie gedenke. Vergelten kann ich ihr nichts, was sie an mir that; ihre Asche hört meinen Dank nicht; aber ihr guter Geist hört ihn, ihr Geist, der mit dem Meinigen Eins ist: denn ein Theil von Ihr wohnt gewiß in meiner Seele. Das Beste, was in mir ist, ist das Ihrige; meine besten Gedanken sind noch jetzt ihre Gedanken; meine reinsten Empfindungen und Gewohnheiten hat sie mir angebildet. Sie ist um mich, sie ist in mir!“ –

Die Tochter schwieg und senkte ihr Haupt auf den Schoos des Vaters; sie erhob es wieder und sagte: „Die Griechen, so traurig ihre Bilder vom Todtenreich waren, liessen dennoch auch in diesen düstern Gegenden, dem Verstorbenen mit seinen Nachlebenden die Mitempfindung. Auch der Schatte freuete sich, wenn zu ihm von den Hinterlassenen eine fröhliche Nachricht hinabkam; und ihre Gesänge sandten deßhalb die Echo, als eine Bothschafterin zu den Vätern hinunter. Man glaubte, daß Verstorbene die Opfer annähmen, die man ihnen am Grabe brachte, und auch da noch Liebe mit Dank belohnten“ –

Der Greis der die zu starke Regung seiner Tochter mäßigen wollte, antwortete schmeichelnd: „mein Kind! der beste Dank, den man den Verstorbenen bringt, ist ein Leben nach ihrem Sinn. Dann leben sie in uns, wir setzen ihr Leben fort: auch mir lebt deine Mutter in dir.“

Er wandte die Rede zu mir. „Meine Tochter hat Recht, daß ein großer Theil der Undankbarkeit wirklich aus Mangel von Nachdenken, aus Ungefühl herrühre. Es ist ein eigner Zauber in der Wiedererinnrung an empfangene Wohlthaten. Das Leben, das wir in ihrem Andenken nochmals leben ist, geistig, genialisch, ambrosisch. Alles Widrige, alles Störende ist davon getrennt; die Charis hat ihren süßesten Reiz darüber ausgegossen und es gleichsam von jeder Schlacke der Sterblichkeit geläutert. Danklosigkeit kann also wirklich nur aus Zerstreuung, aus Schwäche des Gemüths und bloßer Unbesonnenheit herrühren; man will nicht nachdenken, man kann nicht nachdenken; sonst würde man sich die süssen Augenblicke dieses Zurücklebens in einer freundlichen Wiederholung genossener Wohlthaten gewiß nicht versagen. In meiner Familie ist es jeden Abend, jeden Sonnabend ein angenehmes Fest, das von andern empfangene Gute des Tages oder der Woche durchzugehn, und wir bereiten uns dadurch wöchentlich und täglich zur Feier des heutigen Tages. Wie mancher Groll wird dadurch abgethan, wenn Einer am Andern unzeitigen Verdacht geschöpft hat! wie mancher geheime Vorwurf wird in Dank und Liebe verwandelt!“

„Wenn Ein Stand zu solchen Festen der Dankbarkeit buchstäblich ermuntert wird, so ist’s Euer Stand, ihr Gelehrten. Was wißt ihr, das ihr nicht gelernt? was habt ihr, das ihr nicht von andern empfangen habt? Jedes Buch ist ja ein Repertorium der Gedanken Andrer; jede Wissenschaft ein Gebäude, an welchem Völker und Jahrhunderte baueten. Nehmt weg, was ihr alten und neuen Nationen schuldig seyd, was bleibt euch? und was seyd ihr euren Lehrern, dem täglichen Umgange, der fortgesetzten Lectur nicht schuldig? Ihr solltet also bei jedem Buch ein benedicite und gratias beten, nirgend aber fluchen und lästern. Könnt und wißt Ihrs besser, so sagts und thuts mit Grazie; der Andre halb euch vielleicht auf eure bessern Gedanken. Ein Schüler, der seinen Lehrer verfolgt, weil dieser jetzt alt ist, und Er weiter zu sehen glaubt, trägt die Nemesis auf dem Rücken und das Zeichen der Verwerfung an seiner Stirn. Wir wollen ihm nicht wünschen, daß die Zeiten des Undanks einer so häßlichen Harpye noch fortdauern und ihm in seinem Alter ein Gleiches wiederfahre.“

„Arme Menschen, worauf seyd ihr stolz? warum verbittert ihr euch das Leben? Giebt es nicht viele und mancherlei Gaben? Bedarf das Auge nicht der Hand? Die Hand des Auges? Haben wir nicht alle in der Welt, und wenn wir es verdienen, im Tempel der Unsterblichkeit Raum? Bedarf die Menschheit nicht noch unzählicher neuer Verdienste? Glauben Sie mir, mein Freund, was allen Neid austreibt, und den Verdienstvollesten, nicht nur dankbar und bescheiden, sondern selbst demüthig macht, ist Mnemosynens Tochter, die erinnernde Muse. Mit den Grazien wohnt sie zusammen; sie ist selbst eine Charis.“

„Ich hatte einen Bruder, fuhr er fort, der ein Gelehrter, aber ein sehr bescheidener Gelehrter war, und als er uns einmal während dieses Festes besuchte, sich ausser diesem Tempelchen noch einen ungeheuergroßen Tempel, ein Pandämonium ausbat. Hier sollte das Andenken aller um die Menschheit verdienten und berühmten Männer und Weiber laut gefeiert werden; das stille Verdienst sollte diesem verborgnen Tempelchen heilig bleiben. „Ihr könnt nicht glauben, sagte er, was eine laute Anerkennung und richtige Abwägung fremder Verdienste für eine heilsame Kraft aufs menschliche Gemüth hat. Sie giebt ihm Bescheidenheit und Würde, Schranken und Umriß, Entschluß und Demuth. Wenn ich, sagte mein Bruder, mit euch in dies Pandämonium treten und euch erzählen würde, was jeder dieser Geister fürs menschliche Geschlecht gedacht, gewollt oder gethan hat? wie weit ers brachte, und warum es nicht weiter gedieh? wie würdet ihr euch freuen, wie werdet ihr hoffen und danken!“ –

„Und warum richteten Sie ein solches Denkmal der Verdienste nicht auf?“

„Theils, weil mein Bruder nicht bei uns blieb, am meisten aber weil wir keine Gelehrte sind, uns also auch die namentliche Erinnerung aller verdienten Männer in allen Zeiten nicht obliegt. Wir wiesen ihn in seine Bibliothek, als in ein ächtes Pandämonium, wenn er in ihr Bücher und Bilder gut sammle; und versicherten ihn, daß uns das Tempelchen des Namenlosen, stillen Verdienstes heilig bliebe. Meine Kinder, wie hold und süß ist die Grazie eines Namenlosen, stillen Verdienstes! Was ist Name? der Schall einiger Sylben, der mit uns keine Gemeinschaft hat. Unsre Form selbst, ist sie nicht abwechselnd und verschwindend? Aber wir haben empfangen und sollen geben. Verwebt in die Kette der Dinge können wir nicht anders als aufeinander wirken; wie wollen wirs thun? Uns mit Gefälligkeit einander die Hände bieten, oder uns einander fortstoßen? Die Grazien, singen die Dichter, tanzen in ewigverschlungenen Reigentänzen, nicht nur am Cephisusstrom, sondern auch an Jupiters Throne, nahe seinem unsterblichen Haupt; die ganze Schöpfung ist auf dies freudige Fortwirken im Geben und Nehmen berechnet.“

„Am schönsten also, meine Kinder, leben wir für und in einander. Schauet umher, wie Gott in seinen Werken lebet; ihr sehet ihn nirgends stehen, nirgends umherwandeln. Aber die Blume sprießt durch seine Kraft; sein Saft ist in allen Gewächsen, und der edelste Lebenssaft den wir kennen, sind wohlwollende Neigungen, fröhlich fortwirkende Gedanken. In dem allen erfreuet sich Gott; er erfreuet sich in uns, wenn dieser edelste Lebenssaft sich in uns rein läutert, und in andern Seelen erfreuet. Da lebt unser bester Theil in andern. Die Kette dieser Gedanken und Empfindungen ist unendlich; sie reichet übers Grab hinaus, so wie sie auch jenseit des Grabes herkommt. Unsre Sichtbarkeit ist nur Form und Schein; was uns beseelt, stärkt, erquicket und regelt, haben wir von denen, die vor uns waren; wir lassen es denen, die nach uns seyn werden. Jenen geben wir Dank, den sie vielleicht mit uns empfinden; mit Wohlwollen und Liebe reichen wir, was wir empfinden, vermehrt weiter. Diese freundliche Thätigkeit, voll Erkenntlichkeit, und voll guten Willens ist unser Elysium hier, es ist die wahre Geister- und Menschenwelt, ein Reich Gottes in menschlichen Seelen, wo auch das Grab nichts trennet und abreißt.“ –

Mit stiller Rührung hatte der Greis dies gesprochen; die Sonne ging unter, der Mond auf. Ein paar Gesandte der kleinen Gesellschaft luden uns zu einem Spaziergange ein; er endigte zwischen Gräbern. Zwei Geschwister hatten im vorigen Jahr ihre Geschwister, ein Neffe seinen Oheim verlohren, der als Vater ihn geliebt und erzogen hatte. Denkmale der Liebe standen auf den Gräbern der Verstorbenen; und mit herzlicher Einfalt bekannte die Überbliebenen den Abgeschiedenen den Dank für ihre Leben. Nicht Worte waren es, was sie sprachen, sondern Thaten die sie hervorriefen, Situationen des Lebens, an welche sie die Abgeschiedenen gleichsam erinnerten, und zu denselben vom Himmel herab riefen. Der Mond schien freundlich; schön ging die Sonne unter; es dünkte uns sämmtlich einige Augenblicke, als ob die Verstorbenen noch mit uns wären. An ihren Gräbern ward ein Bund geschlossen, ein Bund des unsterblichen Dankes gegen sie, und des freudigen Fortlebens in und mit einander durch Wohlwollen, Dank und thätige Liebe.

Wir schieden. Der Freund, der mich eingeführt hatte, begleitete mich und machte mir im Namen seiner Freunde ein Geschenk; das Gesangbuch der Gesellschaft; die drei bekleideten Grazien standen voran. Ich freuete mich, in ihm die schönsten Gesänge der Dichter alter und neuer Zeiten zu finden, die diese drei Huldinnen des menschlichen Geschlechts besungen hatten, kein einziges entehrendes Lied des Bacchus, Mars oder der sinnlichen Venus fand ich darunter. Noch erfreuender aber wars für mich, als auf den folgenden Tag mein Freund erschien und mir das Archiv der Gesellschaft zeigte. Vielleicht kann ich Ihnen Einiges daraus mittheilen. –

Die griechische Charis.

Eine Anmerkung.

Es sei mir erlaubt, Dem was im vorstehendem Aufsatz der Jüngling über die Bedeutung des Worts Charis (Grazie) bei den Griechen sagt, mit einer Note nachzuhelfen.

Zuerst ists keinem Zweifel unterworfen, daß das Wort Charis von Freude, Fröhlichkeit (, ) abstammt; mithin hießt das Gratiose () alles, was Freude und Fröhlichkeit gewähret. Dies ist der älteste und weiteste Begrif des Worts, ohne Rücksicht, wodurch diese Freude mit Fröhlichkeit gewährt werde.

Auch personificirt führten die Griechen die Grazien ursprünglich als Freudegeberinnen auf den Altar. Bei den Lacedämoniern hiessen die Phaenna und Kleta, Göttinnen, die einen glänzenden Ruhm verleihn, weil Lacedämon vor Allem den Ruhm liebte. In Athen war ihr Name Hegemone und Auxo; jene die Führerin, diese die Mehrerin des Wohlstandes, den Athen wünschte. So nennet Pindar alles was uns erfreulich begegnet, Ruhm, Sieg, Reichthum, Wohlstand, jede Anmuth des Lebens Charis; und hat in seinen Glückpreisungen darüber die herrlichsten Stellen.

Zweitens. Eben so unzweifelhaft ist die Bedeutung des Wortes , das jede Gefälligkeit und Gegengefälligkeit, wodurch ich den andern erfreue oder ihm dankend meine Freude bezeuge, ausdrückt. Insonderheit bemächtigte sich die Liebe dieses Worts; ihre höchste, letzte Gunst hieß Charis. Grazienlos, (oder gar eine Steingrazie) nannte Sappho jenes Mädchen, das der Liebe ungefällig war; die stolzen Centauren waren in wilden Umarmungen ohne die Grazien erzeuget.

Sehr natürlich war also jene Personification Homers, der eine Anzahl Grazien zum Gefolge der Königlichen Juno machte; aufwartende Gefälligkeit war ihr Charakter. Für eine Gefälligkeit, die ihr der Schlaf erwiesen hatte, versprach sie ihm Eine der jüngsten, also auch der gefälligsten Grazien, Pasithea, zum Dank, zum Lohne.

Drittens. Da Schönheit und Reiz sowohl zum Erfreulichen als Gefälligen des menschlichen Lebens gehören: so ging der Begrif der Grazie sehr bald auf persönliche Anmuth über. Jener Jüngling war mit Grazie geschmückt, (übergossen, gesalbet,) diesen Helden zierte Pallas mit Anmuth.

Auch diese dritte Bedeutung ward frühe zur Personification. Schon beim Homer ist es der Grazien Amt, als Dienerinnen die göttliche Aphrodite zu schmücken, zu salben, zu kleiden; und bei Hesiodus schmücken die Grazien sammt der Pitho die junge Pandora. Hephästus (Vulkans) Gemahlin ist eine Charis, weil Kunst das Gefällige sucht und sich mit Anmuth paaret. Bei Pindar ist es die Charis, die Allem, insonderheit der Poesie, dem Gesange, dem fröhlichen Gastmal, dem Tanz, jedem SiegsAufzuge Leben und Anmuth giebt. Nichts ist gefällig, nichts ist erquickend, was nicht in ihrem Garten wuchs, was ihre holde Hand nicht berührte. Hier geselleten sich also Grazien und Musen, die auf dem Parnaß neben einander wohnen: denn auch die Werke der Musen waren ohne sie ungefällig und reizlos.

– Die Charis ists, die den Menschen alles versüßt,
Die den Reden Ansehen schaft;
Oft macht sie selbst das Unglaubliche glaubhaft.

Der Dichter Hermesianax konnte also mit Recht Eine der Huldinnen Pitho, die Überredung nennen; und Pindar ist der Dichter der Grazien dadurch worden, daß er sie in jeder Bedeutung des Worts als Dank, Ruhm, Freude, Anmuth des Lebens, Süßigkeit des Wohlgefallens und des guten Beifalls, als die Blüthe jeder Kunst und Weisheit preiset.

Pindars Gesang an die Grazien.

Die ihr den Cephisusstrom und der schönen Roße
Nährerin-Flur zu eurem Sitze bekamt,
Ihr des glänzenden Orchomenus gepriesenen Königinnen,
Von Alters her, Aufseherinnen des Minyerstamms,
Ich fleh’ euch, Grazien, hört!
Denn nur durch Euch, wird, was den Sterblichen lieblich
Und süß ist. Wer ein weiser, wer ein schöner,
Ein glänzender Mann ward, wars durch Euch.
Selber die Götter begehn
Ohn’ Euch, Ehrwürdige,
Weder Reigentänze, noch Mahle;
Alles ordnen im Himmel
Die Grazien an;
Neben dem Pyhtischen,
Mit dem goldnen Bogen bewehrten Apollo
Setzen sie ihre Thron’ und preisen
Des Olympischen Vaters unendlichen Ruhm.

Töchter des mächtigsten unter den Göttern,
Ehrwürdige Aglaja, du
Liederfreundin Euhprosyne, höret mich:
Du auch Gesangesfreundin, Thalia, die jetzt
Auf günstigem Glük den Hymnenchor
Leichtschwebend daherziehen sieht:
(Denn in lydischer Weise
Mit vorbedachten Gesängen
Den Asopichus zu singen kam ich hieher;
Da der Minyer Stadt in Olympia Siegerin ward,
Thalia durch dich.)

Echo, geh’ in das schwarzummauerte Haus
Der Proserpina, bringend
Dem Vater die fröhliche Botschaft.
Wenn du dort den Kleodamus siehst,
Melde vom Sohn ihm,
Daß er sein jugendlich Haar
Im Schoos der herrlichen Pisa
Gekränzt hat mit der edelsten Kämpfe Fittigen!

Viertens. Nach diesem Gesange Pindars sollte man kaum erwarten, daß die ehrwürdigen Göttinnen Aglaja, Thalia und Euphorsyne blos als hübsche Mädchen, als gesellige Schwestern, und angenehme Gesellschafterinnen vorgestellet würden, an denen nichts bedeutend ist, als Hände die sich umschlingen, und etwa ein Anblick fröhlicher Unschuld. Man wird sagen: Dies seyn die Grazien Hesiods; von Anbeginn aber ists nicht also gewesen. Nicht im Olymp allein sitzen Pindars Grazien neben Apollo und singen mit ihm das Lob des höchsten Gottes; auf Erden auch waren sie, sobald sie nicht mehr in rohen Steinen verehrt wurden, und goldene, marmorne, oder aus Marmor und Golde zusammengesetzte Bildniße bekamen, nie ohne Bekleidung. Neben dem Apollo, oder mit den Eumeniden verehrt, waren sie Ehrwürdige Göttinnen; zu Delphi selbst standen ihre Bilder neben dem Gottesbilde; in Smyrna standen sie den Göttinnen des Orts, der zwiefachen Nemesis zur Seite. In Athen hatten sie ausgezeichnete Altäre, im Odeum, beim Eingange der Acropolis (wo Sokrates sie gebildet hatte,) allenthalben bekleidet. Pausanias weiß nicht, wer sie zuerst nackt zur Schau gestellet habe; wenigstens war es kein Weiser. Denn unser Jüngling hat Recht: Drei unbekleidete, weibliche Körper in Einerlei Stellung, in welcher kaum die Hände bedeutend sind, können am Ende zu nichts, als zum müßigen Zierrath dienen; daher wir für den Charakter, den diese Grazien ausdrücken sollen, unstreitig lieber die Kindheit wählen würden.

Dieser vierte Charakter ist schwesterliche Geselligkeit im jugendlichen Tanz und fröhlicher Unschuld. Weder Liebreiz soll er ausdrücken, noch eine Würde hoher Anmuth; er tändelt jugendlich mit Rose, Myrte und dem Spielwürfel (talus.)

Wenn also von Vorstellungen der Kunst die Rede ist, so muß man durchaus Grazie () als eine Eigenschaft oder Charakter, von den drei nackten Grazien des neuern Styls unterscheiden. Jener, die Grazie, ist ein so umfassender, hoher und reicher Begrif, daß er durch drei nackte Mädchen, die sich einander die Hände reichen, weder ausgedrückt werden konnte, noch sollte.

Selbst wenn Winkelmann in seiner vortrefflichen Beschreibung der Grazie in den Werken der Kunst, (Gesch. der Kunst S. 229. Dresdn. Ausg.) die zwei ältesten Ehrwürdigen Grazien der Griechen hieher zieht und sie mit der himmlischen und irrdischen Venus vergleicht, wenn er die Bilder dieser Göttinnen an Juipiters Thron und in der Juno Krone hieher zieht; so ists blos Schmuck der Rede: denn seine Beschreibung der hohen Grazie in Werken der Kunst ist fast ein Hymnus. Sonst hat jene himmlische Charis, die sich über Werke der Schönheit ausgießt, von den Kunstgebilden, die man Grazien nennet, sehr wohl unterschieden, und die letzten blos als Dienerinnen an den Ort gesetzt, der ihnen gebühret.

Es wäre zu wünschen, daß dieser Unterschied von allen bemerkt wäre, die über Grazie und die Grazien schrieben. Drei Zierrathgestalten haben das Glück gehabt, welches selbst Pallas, Juno und Aphrodite nicht hatten, daß man von ihnen theils nie etwas Böses, wohl aber ein tausendfaches Gutes sagte, das nicht ihnen, sondern der Charis selbst gebührte. Fast haben sie uns erstickt mit süßduftenden Worten.

Künstler von gutem Geschmack trugen Sorge, ihren Grazien etwas zu thun zu geben, um sie ihrem Handumschlingendem Müssiggange zu entreissen. Die Jungfrau’n mußten an ihr Geschäft, eine Göttinn oder wer der Göttinn gleich seyn sollte, zu schmücken, zu salben, zu zieren. Sie brachten sie mit Kindern, mit dem Amor, dem Merkur, Apollo, oder sonst in Gesellschaft. Die Kleider, die ihnen Amor geraubt hatte, wurden ihnen wiedergegeben, und so konnten sie in tausend Schmeicheleien und Artigkeiten anmuthig werden.

Endlich gieng ihre ursprüngliche Bestimmung, die das Wort Gefälligkeit, Dank (, gratia) sagte, auch in sittlichen Deutungen hervor. Plutarch, die Anthologie u. a. haben dergleichen Bezeichnungen; die Subtilste von allen hat Seneka aus dem Chrysippus; (de benefic. L. 1. C. 3. 4.) wo sogar jeder Umstand ihrer Vorstellung auf das Geben, Empfangen und Wiedergeben der Wohlthaten deutet. Ich wünschte die schöne Stelle anführen zu können; sie ist aber zu lang und etwas zu subtil; dadurch schadet sie der unstreitig schönsten Bedeutung dieses Bildes: Geben, Empfangen und Wiedergeben der Wohlthat con grazia mit Anmuth.

Unsre deutschen Worte: hold, holdselig, Huld, Huldinn, Anmuth u. f. drücken aus, was die griechischen Worte , , und die lateinischen gratia, Gratiae ausdrückten; nur in Fortleitung und Anwendung dieses Begrifs, haben wir nicht eben wie die Griechen der Grazie geopfert. Jeder Versuch, der uns die ächten Grazie geopfert. Jeder Versuch, der uns die ächten Grazien der Menschheit, Wohlwollen, Dankbarkeit und thätige Freude bekannt macht, ist eines freundlichen Blicks der Charis werth, die in wohlwollenden Herzen wohnet: denn was heißt anmuthig, als was uns hold anmuthet, was wahr und lieblich unserm Herzen zuspricht?

An die Huldgöttinnen.
Ein Orphischer Hymnus.

Höret mich Huldgöttinnen, in grossem Namen Verehrte,
Töchter Zeus und der schönen Eunomia, glänzend an Ansehn,
Du Aglaja, Thalia, Euphorsyne, Fröhliche, Holde,
Freudegewährerinnen, ihr Liebenswürdige, Reine,
Immerblühende, Vielgestaltige, schwebend in Tänzen;
Stets den Menschen erwünscht und erfleht, Anmuthige, Süße,
Kommt, Glückbringerinnen, und seid den geweiheten günstig.

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