HomeDie Horen1795 - Stück 5III. Litterarischer Sanscülottismus. [Johann Wolfgang von Goethe]

III. Litterarischer Sanscülottismus. [Johann Wolfgang von Goethe]

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In dem Berlinischen Archiv der Zeit und ihres Geschmacks, und zwar im Märzstücke dieses Jahres, findet sich ein Aufsatz über Prosa und Beredsamkeit der Deutschen, den die Herausgeber, wie sie selbst bekennen, nicht ohne Bedenken einrückten. Wir, unsrer Seits, tadeln sie nicht, daß sie dieses unreife Product aufnahmen; denn wenn ein Archiv Zeugnisse von der Art eines Zeitalters aufbehalten soll, so ist es zugleich seine Pflicht auch dessen Unarten zu verewigen. Zwar ist der entscheidende Ton und die Manier, womit man sich das Ansehn eines umfassenden Geistes zu geben denkt, in dem Kreise unserer Critik nichts weniger als neu; aber auch die Rückfälle einzelner Menschen in ein roheres Zeitalter, sind zu bemerken, da man sie nicht hindern kann; und so mögen denn die Horen dagegen in demjenigen, was wir zu sagen haben, ob es gleich auch schon oft und vielleicht besser gesagt ist, ein Zeugniß aufbewahren: daß neben jenen unbilligen und übertriebenen Forderungen an unsre Schriftsteller, auch noch billige und dankbare Gesinnungen gegen diese, verhältnißmäßig zu ihren Bemühungen wenig belohnte, Männer im Stillen walten.

Der Verfasser bedauert die Armseligkeit der Deutschen an vortrefflich classisch prosaischen Werken und hebt alsdann seinen Fuß hoch auf, um, mit einem Riesenschritte, über beinahe ein Dutzend unserer besten Autoren hinwegzuschreiten, die er nicht nennt, und mit mäßigem Lob und mit strengem Tadel so charakterisiret, daß man sie wohl schwerlich aus seinen Karrikaturen herausfinden möchte.

Wir sind überzeugt, daß kein deutscher Autor sich selbst für classisch hält, und daß die Forderungen eines jeden an sich selbst, strenger sind, als die verworrnen Prätensionen eines Tersiten,d er gegen eine ehrwürdige Gesellschaft aufsteht, die keineswegs verlangt, daß man ihre Bemühungen unbedingt bewundere; die aber erwarten kann, daß man sie zu schätzen wisse.

Ferne sey es von uns, den übelgedachten und übelgeschriebenen Text, den wir vor uns haben, zu commentieren; nicht ohne Unwillen werden unsre Leser jene Blätter am angezeigten Orte durchlaufen, und die ungebildete Anmaßung, womit man sich in einen Kreis von Bessern zu drängen, ja Bessere zu verdrängen und sich an ihre Stelle zu setzen denkt, diesen eigentlichen Sanscülottismus zu beurtheilen und zu bestrafen wissen. Nur weniges werde dieser rohen Zudringlichkeit entgegengestellt.

Wer mit den Worten, deren er sich im Sprechen oder Schreiben bedient, bestimmte Begriffe zu verbinden für eine unerlässliche Pflicht hält, wird die Ausdrücke: classischer Autor, classisches Werk, höchst selten gebrauchen. Wann und wo entsteht ein classischer Nationalautor? Wenn er in der Geschichte seiner Nation große Begebenheiten und ihre Folgen in einer glücklichen und bedeutenden Einheit vorfindet; wenn er in den Gesinnungen seiner Landsleute Größe, in ihren Empfindungen Tiefe und in ihren Handlungen Stärke und Consequenz nicht vermißt; wenn er selbst, vom Nationalgeiste durchdrungen, durch ein einwohnendes Genie sich fähig fühlt, mit dem Vergangnen wie mit dem Gegenwärtigen zu sympathisiren, wenn er seine Nation auf einem hohen Grade der Kultur findet, so daß ihm seine eigene Bildung leicht wird; wenn er viele Materialien gesammelt, vollkommene oder unvollkommene Versuche seiner Vorgänger vor sich sieht, und so viel äußere und innere Umstände zusammen treffen, daß er kein schweres Lehrgeld zu zahlen braucht, daß er in den besten Jahren seines Lebens ein großes Werk zu übersehen, zu ordnen und in Einem Sinne auszuführen fähig ist.

Man halte diese Bedingungen, unter denen allein ein classischer Schriftsteller, besonders ein prosaischer möglich wird, gegen die Umstände, unter denen die besten Deutschen dieses Jahrhunderts gearbeitet haben, so wird, wer klar sieht und billig denkt, dasjenige, was ihnen gelungen ist, mit Ehrfurcht bewundern, und das was ihnen misslang anständig bedauern.

Eine bedeutende Schrift ist, wie eine bedeutende Rede, nur Folge des Lebens; der Schriftsteller so wenig als der handelnde Mensch bildet die Umstände, unter denen er gebohren wird und unter denen er wirkt. Jeder, auch das größte Genie, leidet von seinem Jahrhundert in einigen Stücken, wie er von andern Vortheil zieht, und einen vortrefflichen Nationalschriftsteller kann man nur von der Nation fordern.

Aber auch der deutschen Nation darf es nicht zum Vorwurfe gereichen, daß ihre geographische Lage sie eng zusammen hält, indem ihre politische sie zerstückelt. Wir wollen die Umwälzungen nicht wünschen, die in Deutschland classische Werke vorbereiten könnten.

Und so ist der ungerechteste Tadel derjenige, der den Gesichtspunkt verrückt. Man sehe unsere Lage wie sie war und ist; man betrachte die individuellen Verhältnisse, in denen sich deutsche Schriftsteller bildeten, so wird man auch den Standpunkt, aus dem sie zu beurtheilen sind, leicht finden. Nirgends in Deutschland ist ein Mittelpunkt gesellschaftlicher Lebensbildung, wo sich Schriftsteller zusammen fänden und nach Einer Art, in Einem Sinne, jeder in seinem Fache sich ausbilden könnten. Zerstreut gebohren, höchst verschieden erzogen, meist nur sich selbst und den Eindrücken ganz verschiedener Verhältnisse überlassen, von der Vorliebe für dieses oder jenes Beispiel einheimischer oder fremder Litteratur hingerissen; zu allerley Versuchen, ja Pfuschereyen, genöthigt, um ohne Anleitung seine eigene Kräfte zu prüfen; erst nach und nach durch Nachdenken von dem überzeugt, was man machen soll; durch Praktik unterrichtet, was man machen kann; immer wieder irre gemacht durch ein großes Publikum ohne Geschmack, das das Schlechte nach dem Guten mit eben demselben Vergnügen verschlingt; dann wieder ermuntert durch Bekanntschaft mit der gebildeten, aber durch alle Theile des großen Reichs zerstreuten Menge; gestärkt durch mitarbeitende, mitstrebende Zeitgenossen. So findet sich der deutsche Schriftsteller endlich in dem männlichen Alter, wo ihn Sorge für seinen Unterhalt, Sorge für eine Familie, sich nach Außen umzusehen zwingt, und wo er oft mit dem traurigsten Gefühl durch Arbeiten, die er selbst nicht achtet, sich die Mittel verschaffen muß, dasjenige hervor bringen zu dürfen, womit sein ausgebildeter Geist sich allein zu beschäftigen strebt. Welcher deutsche geschätzte Schriftsteller wird sich nicht in diesem Bilde erkennen, und welcher wird nicht mit bescheidener Trauer gestehen, daß er oft genug nach Gelegenheit geseufzt habe, früher die Eigenheiten seines originellen Genius einer allgemeinen Nationalcultur, die er leider nicht vorfand, zu unterwerfen. Denn die Bildung der höheren Klassen durch fremde Sitten und ausländische Litteratur, so viel Vortheil sie uns auch gebracht hat, hinderte doch den Deutschen als Deutschen sich früher zu entwickeln.

Und nun betrachte man die Arbeiten deutscher Poeten und Prosaisten von entschiednem Namen! Mit welcher Sorgfalt, mit welcher Religion folgten sie auf ihrer Bahn einer aufgeklärten Überzeugung! So ist es, zum Beispiel, nicht zuviel gesagt, wenn wir behaupten, daß ein verständiger, fleißiger Litterator, durch Vergleichung der sämmtlichen Ausgaben unsres Wielands, eines Mannes, dessen wir uns, trotz dem Knurren aller Smelfungen mit stolzer Freude rühmen dürfen, allein aus den stufenweisen Correkturen dieses unermüdet zum Bessern arbeitenden Schriftstellers, die ganze Lehre des Geschmacks würde entwickeln können. Jeder aufmerksame Bibliothekar sorge, daß eine solche Sammlung aufgestellt werde, die jetzt noch möglich ist, und das folgende Jahrhundert wird einen dankbaren Gebrauch davon zu machen wissen.

Vielleicht wagen wir in der Folge, die Geschichte der Ausbildung unsrer vorzüglichsten Schriftsteller, wie sie sich früher ausbilden, eher zu einem reinen, dem Gegenstande angemessenen Styl gelangen können, wem sind sie es schuldig, als ihren Vorgängern, die in er letzten Hälfte dieses Jahrhunderts mit einem unablässigen Bestreben, unter mancherley Hindernissen sich, jeder auf seine eigene Weise, ausgebildet haben? Dadurch ist eine Art von unsichtbarer Schule entstanden, und der junge Mann, der jetzt hinein tritt, kommt in einen viel grösseren und lichteren Kreis, als der frühere Schriftsteller, der ihn erst selbst beym Dämmerschein durchirren mußte, um ihn nach und nach, gleichsam nur zufällig, erweitern zu helfen. Viel zu spät kommt der Halb-Critiker, der uns mit seinem Lämpchen vorleuchten will; der Tag ist angebrochen, und wir werden die Läden nicht wieder zumachen.

Üble Laune läßt man in guter Gesellschaft nicht aus, und der muß sehr üble Laune haben, der in dem Augenblicke Deutschland vortreffliche Schriftsteller abspricht, da fast jedermann gut schreibt. Man braucht nicht weit zu suchen, um einen artigen Roman, eine glückliche Erzählung, einen reinen Aufsatz über diesen oder jenen Gegenstand zu finden. Unsre critischen Blätter, Journale und Compendien, welchen Beweis geben sie nicht oft eines übereinstimmenden guten Styls! die Sachkenntniß erweitert sich beym Deutschen mehr und mehr und die Übersicht wird klärer. Eine würdige Philosophie macht ihn, trotz allem Widerstand schwankender Meynungen, mit seinen Geisteskräften immer bekannter, und erleichtert ihm die Anwendung derselben. Die vielen Beispiele des Styls, die Vorarbeiten und Bemühungen so mancher Männer setzen den Jüngling früher in Stand, das was er von Außen aufgenommen und in sich ausgebildet hat, dem Gegenstande gemäß mit Klarheit und Anmuth darzustellen. So sieht ein heitrer billiger Deutscher die Schriftsteller seiner Nation auf einer schönen Stufe und ist überzeugt, daß sich auch das Publikum nicht durch einen misslaunischen Krittler werde irre machen lassen. Man entferne ihn aus der Gesellschaft, aus der man jeden ausschliessen sollte, dessen vernichtende Bemühungen nur die Handelnden mißmuthig, die Theilnehmenden lässig und die Zuschauer misstrauisch und gleichgültig machen könnten.

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