HomeDie Horen1795 - Stück 8II. Ugolino und Ruggieri. [Wilhelm Schlegel]

II. Ugolino und Ruggieri. [Wilhelm Schlegel]

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Fortsetzung von Dante’s Hölle.

Mit Recht hat man oft bemerkt, daß der Eindruck einer poetisch dargestellten Handlung von ihrer historischen Wahrheit ganz unabhängig ist: nur was in die Geschichte hineingelegt, nicht was ihr abgeborgt ist, kann für künstlerisches Verdienst gelten. Die Art des Unterrichts, die man von einem Gedichte nicht verlangt, will man auch zu seinem Genusse nicht bedürfen. Macht also die erzählte oder dramatisirte Begebenheit ein Ganzes, ein für sich bestehendes Werk aus, so muß sie dem wesentlichen nach aus sich selbst erklärbar seyn, und es wäre innre Unvollständigkeit, wenn sie erst vermittelst einer historischen Einleitung Theilnahme erregen könnte. Wird sie hingegen nur episodisch erwähnt, wie hier das tragische Ende Ugolino’s, so ist der Dichter berechtigt, zu übergehen, was er als allgemein bekannt bey seinen Zeit- und Landgenossen voraussetzen kann; eben durch dieses Mittel erreicht er die nachdrücklichste Kürze, indem auch das wirket, was er nicht sagt. Er verdient keinen Tadel, wenn hieraus in der Folge der Zeiten Dunkelheit und scheinbare Lücken entstehen: denn wiewohl er seine Werke für die Unsterblichkeit und für sein ganzes Geschlecht bestimmt, so wendet er sich doch unmittelbar an einen enger um ihn her gezogenen Kreis von Lesern. Warum sollte er sich nicht in Allem, was zufällig ist, nach diesem bequemen? Warum nicht Gegenstände, die ihnen im wirklichen Leben nahe liegen, für die Darstellung herbeyziehen? Warum ein Lokal- und Nationalinteresse verwerfen, wenn es ein allgemein menschliches in sich schließt? Er darf von zukünftigen oder entfernten Lesern fodern, daß sie sich, so viel möglich, in jenes zu versetzen, und sich die Kenntnisse und Ideen des ihm bekannten Publikums geläufig zu machen suchen, grade wie der Mahler dem Betrachter seines Werks einen gewissen Stand vorschreibt. Einem Gemählde, welches nicht auf einen einzigen genau bestimmten Gesichtspunkt berechnet wurde, muß es für alle möglichen Lagen des Auges an Täuschung fehlen; und ein Gedicht, welches seinem Zeitalter und Vaterlande nicht gleichsam zugeeignet ist, wird allen Jahrhunderten und Nationen fremd bleiben.

Dante’s Muse ist weit entfernt, der Geschichte dienstbar nachzuschleichen: sie macht es sich gern zum Geschäft, zu offenbaren, was jene verschweigt; und dann und wann wirft sie durch ihre abgerißnen Sprüche auf die dunkelsten Stellen derselben ein furchtbares Licht. Ugolino’s Erzählung hebt da erst an, wo die Geschichte endigt: den Umfang seiner Leiden in dem Kerker, aus welchem er nie wieder unter die Lebenden kam, hat noch kein Geschichtschreiber ermessen. Auch wird sie nie aufhören allgemein verständlich zu seyn, so lange es Menschenherzen giebt. Allein um jenen Eindruck wieder herzustellen, den Dante’s Anmahnung zur Theilnahme, wie die eines öffentlichen Sprechers der Gerechtigkeit und Wahrheit, früher als ein Menschenalter nach der, selbst in einer Periode wüster Greuel unerhörten, Begebenheit auf seine Zeitgenossen machen mußte, ist es nöthig, diese historisch im Zusammenhange der Zeiten zu betrachten, und den unglücklichen Mann, den sie betraf, seine politischen Verhältnisse, seine Thaten, seinen Charakter näher zu kennen.

Schwierig allerdings, aber nicht unmöglich ist es, zwischen den Widersprüchen der Zeugnisse über den letzten einen sichern Weg auszufinden, wenn man nur auf die leidenschaftlichen Einflüsse achtet, wodurch sie erzeugt wurden, und die Thatsachen von den darein verwebten Auslegungen scheidet. Jene bestehen, wie mannichfaltig auch diese abweichen mögen. Die Florentinischen und Genuesischen Geschichtschreiber verrathen hier unstreitig Partheylichkeit gegen Pisa, die Nebenbuhlerin oder Feindin ihrer Vaterstädte: Doch umsonst wenden die Pisanischen alles an, um zu zeigen, die am Ugolino und seiner Familie verübte Grausamkeit, beispiellos wie sie war, sey nur gerechte Vergeltung gewesen. Einer von ihnen übergeht die wichtige Aussage Dante’s mit Stillschweigen, wiewohl er an andern Stellen seine historische Glaubwürdigkeit anerkennt. Mit der Heftigkeit eines Sachwalters, nicht mit der ruhigen Stimmung des Forschers bestreitet sie ein Andrer. Ugolino war wohl eben so wenig ein unmenschlicher Tyrann als ein tadelloser Märtirer seiner Vaterlandsliebe. Herrschbegierde und Härte entstellen nur zu oft die Anlage des Gemüths zu großen Thaten, können aber ihren Werth nicht aufheben; und in Zeiten wilder, rastloser Verwirrung ist die Sittlichkeit eines öffentlichen Lebens fast immer zweydeutig.

Graf Ugolino stammte aus dem alten und mächtigen Geschlecht della Gherardesca, welches gegen das Ende des zwölften Jahrhunderts der Republik Pisa ihren ersten Podesta gegeben hatte. Die Erwartungen von ihm, wozu dieß seine Mitbürger, die Ansprüche, wozu es ihn berechtigte, wurden zum ersten Mahle in einem Kriege gegen Genua (1256.) befriedigt. Der Ausgang war glücklich: Cagliari, zuvor ein Pisanisches Lehen, wie die drey übrigen Distrikte Sardiniens, wurde wieder erobert; und da der Statt die dabey geleisteten Dienste mit dem Gegenstande des Streites belohnte, empfingen die Brüder Gherardo und Ugolino ein Drittheil jenes Landstriches. Es beweist einen schnellen Gang des Glückes oder der Thätigkeit, daß der letzte schon neun Jahre nachher, als zu mächtiger Bürger eines Freystaats, und als Partheyhaupt der Guelfen vom Volke verbannt wurde. Gibellinismus war von Alters her einheimisch zu Pisa; Demokratie war erst um die Mitte des Jahrhunderts aufgekommen: und, was zu verwundern ist, die neue Verfassung hatte den Eifer für eine Parthey, die sich eigentlich mit ihrem Geiste nicht vertrug, durchaus nicht geschwächt. Die übrigen um diese Zeit Guelfischen Städte Toscana’s, hauptsächlich Florenz, nahmen die Verwiesenen, den Grafen mit seinem Anhange, auf, und unterstützen sie zur Fehde gegen ihre Vaterstadt, einer damals gewöhnlichen That. Nach dem unbedeutenden Erfolge des ersten Feldzuges entschied der zweyte: die Pisaner, sicher, wie sie glaubten, hinter einer Verschanzungslinie, die sich weit an ihren Gränzen hinzog, flohen vor dem eindringenden Feinde, und nur unter der Bedingung, Ugolino und seine Parthey wieder in ihre Rechte und Güter einzusetzen, wurde ihnen der Friede gewährt. Weniger Jahre nachher brach ein neuer Krieg zwischen Pisa und Genua aus: wenn anders das Verhältniß dieser beyden See- und Handelsmächte je einen ächten Frieden zuließ. Durch den Besitz Sardiniens und der umherliegenden Inseln, durch Handelsverträge mit Afrikanischen und Asiatischen Fürsten blühte Pisa; durch beydes stand es den Genuesern im Wege. Die Nachbarschaft an derselben Küste, gleichsam der beständige Anblick des feindlichen Wohlstandes, setzte den Stoff zum Neide und zur Eifersucht, der so reichlich vorhanden war, in noch häufigere Gährung. Doch nicht bloß im Ligurischen Meerbusen, überall im mittelländischen, bis in das schwarze Meer stellten ihre flüchtigen Galeren einander nach. So konnte sich ein unerheblicher Zwist bald zum ernstlichen Kriege, dann zum letzten entscheidenden Kampfe entzünden, wozu der lange genährte Nationalhaß ungewöhnliche Kräfte aufbot oder verlieh. Pisa, mit sich selbst einig, so oft es gegen Genua und für seinen Handel stritt, rüstete hundert Galeren, und übergab sie der Führung Ugolino’s, dem noch ein Admiral, und der Podesta Morosini, ein Venezianer, ich finde nicht bestimmt angegegeben, ob zu- oder untergeordnet wurden. Von einer Unternehmung auf den Hafen von Genua, welches damahls durch die Abwesenheit seiner Flotte wehrlos war, mehr einer höhnenden Ausfoderung als einem wirksamen Angriffe, kehrten die Pisaner noch trotziger zurück; und als sie zum zweyten Mahle ausfuhren, geschah es nicht wie zu einer Schlacht, sondern wie zu einem Triumph. Da eine warnende Vorbedeutung die Einsegnung der Flotte durch den Erzbischof Ruggieri unterbrach, trieben einige der rohen Seefahrer den Übermuth bis zur Lästerung: möchte Gott ihnen zuwider seyn, wenn sie nur Wind und Wellen für sich hätten. Uberto Doria, aus einem Geschlechte von Seehelden, kam ihnen mit hundert und dreyßig Genuesischen Galeren entgegen. Das Loos des blutigen Tages fiel gegen Pisa, und die kleine Insel Meloria, zuvor ein unberühmter Nahme, wurde denkwürdig als der Fels, an welchem Pisa’s Größe scheiterte. Der Verlust des Schiffes mit dem Hauptbanner erzeugte Verwirrung und Flucht; fünftausend Pisaner fielen durch das Schwert, oder versanken mit ihren Galeren; und die Sieger brachten acht und zwanzig genommene Schiffe und neuntausend Gefangne mit sich zurück, so daß nachher ein Sprichwort entstand: um Pisa zu sehen, müsse man nach Genua reisen. Ugolino rettete sich mit drey Galeren, und war der erste Überbringer der Unglücksbotschaft, die von den Seinigen mit unbeschreiblicher Bestürzung angehört wurde. Rühmlicher und glücklicher für ihn wäre es zwar gewesen, die Pisanische Seemacht nicht zu überleben; allein der blinde sinnlose Ungestüm einer allgemeinen Flucht macht Feige und Tapfre einander gleich. Sein Leben konnte dem Staate noch dienen: das Opfer desselben hätte vermuthlich nichts gefruchtet. Wäre es nicht bloß Privatmeynung späterer Schriftsteller, hätte ihn wirklich die öffentliche Stimme gleich damals beschuldigt, er habe durch seine voreilige Flucht die Niederlage verrätherisch verursacht, und die beste Blühte seiner Mitbürger hingeopfert, um den Überrest desto sicherer zu unterjochen; so wären seine Verfolger nachher nicht genöthigt gewesen, sich auf weit geringere Verbrechen zu berufen. Aber das unvorsichtige Selbstvertrauen der Pisaner, die Übermacht der Genueser, die Erfahrenheit ihres Anführers macht den Ausgang des Treffens ohne jene Behauptung sehr begreiflich; sie ist unwahrscheinlich, weil Ugolinio, der schon in hohem Ansehen stand, durch ein für seine Ruhmbegierde so schmähliches Mittel alles aufs Spiel gesetzt hätte; und der Eifer für die Ehrenrettung Pisa’s, der sich bey ihrem Vortrage verräth, setzt sie fast zur willkührlichen Vermuthung herab.

Der Graf versammelte den grossen Rath, und beschwor die niedergeschlagenen Gemüther, sich männlich zu fassen: jetzt sey der Augenblick gekommen, Entschlossenheit darzuthun; kein Zustand sey rettungslos, als der des unthätigen Verzagens. Das Vaterland warf sich ihm in die Arme: er wurde zum Podesta erwählt. Unterdessen ruhten die Genueser nicht im Genuß des Sieges. Sie schlossen ein Bündniß mit Lucca und Florenz, wobey es nichts geringeres galt, als den gänzlichen Untergang ihrer Erbfeindin. Diese beiden Städte fielen auch unverzüglich in das Pisanische Gebiet, und eroberten verschiedne Burgen. Die weitere Ausführung ihrer Anschläge blieb dem nächsten Feldzuge und förmlicheren Zurüstungen vorbehalten, hätte Ugolino sie nicht verhütet. Es ist leicht zu begreifen, wie ungern er gegen eine Guelfisch gesinnte Stadt, seine ehemalige Zuflucht, Krieg führen mußte. Auch drang er im Rathe nachdrücklich darauf, man solle sich um den Frieden mit Florenz bemühen; und wenn er hiebey den Zweck hatte, die Guelfische Parthey in Pisa zur herrschenden zu erheben, so wußte er ihn wenigstens in scheinbare Gründe zu kleiden, oder vielmehr, der Vortheil des Staates traf hier wirklich mit seinem eignen zusammen. Die Pisaner, stellte er vor, müssen mit ihren Nachbarn auf dem festen Lande Freundschaft halten, um die Herrschaft zur See, den Besitz der Inseln und fremden Niederlassungen, worauf ihre Größe beruhe, ungestört behaupten zu können. Die Gefahr sey dringend, wenn es nicht etwa gelänge, den Bund durch einen besondern Friedensschluß zu lösen; und Florenz, dessen Feindschaft, nur zufällig durch Partheygeist aufgereckt, nicht aus einem unabänderlichen Verhältnisse entspringe, werde am leichtesten auszusöhnen seyn. Der Graf, dessen dortige Privatverbindungen hiebey sehr nützlich seyn konnten, wurde zur Führung des Geschäftes bevollmächtigt, und, vermittelst des Überganges seiner Vaterstadt zur Guelfischen Parthey, und der Abtretung jener schon eingebüssten Burgen, brachte er es zu Stande. In der That, Pisa befand sich so sehr im Nachtheile, daß der öffentliche Preis, wofür es den Frieden erkaufte, nur durch Schleichhandel auf diese Bedingungen herabgesetzt werden konnte. Es bedurfte des Goldes, welches, in Weinkrügen versteckt, Ugolino den Häuptern der Florentinischen Regierung zusandte, um durch sie das Volk zum treulosen Bruche eines vortheilhaften Bundes zu verleiten, worüber Genua und Lucca in eben so gerechte als bittre Vorwürfe ausbrachen. Daß der Erzbischoff nachher eine in der größten Bedrägniß ausgemittelte Hülfe dem Grafen als Hochverrath auslegte, geschah wohl nur aus Unvermögen, einen gültigeren Vorwand zu ersinnen. Jene Gränzörter haben mehrern Florentinischen Geschichtschreibern nach einmahl der Erwähnung werth geschienen; und wären sie auch weit beträchtlicher gewesen, die See, das eigentliche Gebiet der Pisaner, konnte sie leicht für jede Einbuße auf dem festen Lande entschädigen. Noch weniger kann es ein Verbrechen scheinen, daß Ugolino dem Staat, dem er vorstand, zu seiner Parthey herüberzog. Um dazu die Gelegenheit zu versäumen, hätte er die Sittenlehre und Denkart seines Zeitalters verläugnen müssen, dem Partheysucht für Patriotismus oder höher als Patriotismus galt. Ohne alle Erschütterungen konnte zwar dieser plötzliche Wechsel des Regierungssystemes nicht erfolgen: aber wenn Ugolino damahls den Häuptern der Pisanischen Gebellinen erwiederte, was er ehedem von ihnen erlitten; wenn sein Machtspruch, nicht etwa ihr eigner Verdruß, sie aus ihrer Vaterstadt vertrieb, so können doch diese Verbannungen weder zahlreich noch von langer Dauer gewesen seyn: denn bey der Verschwörung gegen ihn, nur drey Jahre später, finden wir die mächtigsten Gibellinischen Familien offenbar innerhalb der Stadt.

Indessen wurde, was der Tag bey Meloria an Muth und Macht übrig gelassen hatte, anhaltend auf den Krieg mit Genua verwandt. Unterhandlungen waren gleich im folgenden Jahre versucht, aber abgebrochen worden. Selbst den gefangenen Pisanern konnte die Sehnsucht nach der Heimath keine Einwilligung in die harten Bedingungen abdringen, die Genua vorschrieb: sie entschlossen sich aus Liebe zum Vaterlande, es noch länger zu entbehren. Als zwey Jahre darauf die Genueser sich günstiger für den Frieden erklärten, hintertrieb ihn Ugolino, indem er Pisanische Freybeuter zu neuen Feindseligkeiten anstiftete. Man behauptet, er habe, wie entfernt sich über die Entvölkerung Pisa’s und die Verwaisung so vieler Familien zu bekümmern, befürchtet, die Rückkehr seiner gefangenen Mitbürger möchte seiner Macht gefährlich werden. Dieß würde zugleich beweisen, daß er sich ihres Misbrauchs bewußt war, und von der öffentlichen Stimme das übelste zu erwarten hatte, sobald die Herstellung auswärtiger Ruhe und häuslichen Wohlstandes sie laut werden ließ. Der Schein ist allerdings gegen ihn: und wir sind zu sehr entfernt, zu wenig unterrichtet, um die Güte der politischen Gründe, die ihn vielleicht rechtfertigen, genau zu wägen. So erschöpft war Pisa doch wohl nicht, daß die Hoffnung, sich durch muthiges Ausdauern zu einem vortheilhafteren Frieden hinzukämpfen, verwegen gewesen wäre. Krieg war immer noch besser als Abhängigkeit oder gänzliches Zurücktreten in Allem, worin Pisa mit Genua wetteifern konnte; der Vertrag der lange nach Ugolino’s Tode (1299.) einen hartnäckigen, auch für die Sieger ermüdenden, Krieg beschloß, scheint nur jenes Verhältniß besiegelt zu haben. Ein friedliches Gleichgewicht konnte nicht zwischen zwey Republiken bestehen, deren gegenseitige Feindschaft Staatsmaxime war. Weil jede in der Erniedrigung der andern ihre Größe zu finden glaubte. Nichts ist überhaupt unversöhnlicher als kaufmännische Eifersucht. Ein Handelstaat kann in einer entlegenen Zone empfindlicher verletzt werden, als innerhalb seiner Gränzen: selbst der Ozean ist ihm zu eng, so lange er noch die Schiffe des Nebenbuhlers trägt.

Nach Verlauf des ersten Jahres seiner Verwaltung wurde Ugolino noch auf zehn Jahre zum Podesta erwählt. Diese Würde ist unter den politischen Eigenthümlichkeiten des Mittelalters eine der merkwürdigsten; doch scheint sie mehr eine Geburt des erfinderischen Bedürfnisses gewesen zu seyn, als der vorsichtigen Staatskunde: gefährlicher für die Freyheit, als wirksam gegen innre Zwietracht und Anarchie, die unheilbaren und zuletzt tödtlichen Krankheiten der meisten damahligen Freystaaten Italiens. Schon der Nahme des Amtes deutet auf dictatorische Gewalt: aber nur auf Ein Jahr und nur einem Fremden, der seine Familienverbindungen daheim ließ, und wenig Versuchung hatte, partheyisch zu seyn, wurde das Recht anvertraut, zugleich als Heerführer und als Richter die öffentliche Sicherheit zu schützen, und ihre Störer zu bändigen oder zu bestrafen. Durch die Wahl eines mächtigen Mitbürgers, durch seine Bestätigung auf einen so langen Zeitraum hatten die Pisaner selbst sich Fesseln angelegt: und wenn auch hiebey ihre wahren Wünsche durch den Guelfischen und Florentinischen Einfluß überstimmt wurden, so gelangte der Graf doch ohne Gewaltthat, dem Äußern nach rechtmäßig, zu einer fast unumschränkten Gewalt. Er wußte sich unter den wühlenden Bewegungen oder dem offenbaren Gegenstoß der Factionen, unerschüttert darinn zu behaupten; und ein Nebenbuhler, der aus dem Schooße seiner Familie und seiner Parthey gegen ihn aufstand, sein Neffe Nino Visconti, wagte umsonst ihn zu stürzen.

Ugolino genoß also in stolzer Sicherheit seines Glückes. Ihn schmückte, ausser dem Glanze des Reichthums und der Herrschaft, sein Geschlecht, in Söhnen, Töchtern und Enkeln um ihn her verbreitet; und Vermählungen mit den angesehensten Häusern vermehrten noch die blühende Fülle desselben. An dem prächtigen Hochzeitfeste einer Tochter unterhielt er sich mit Macro Lombardo, einem wegen seiner Weisheit berühmten Manne, über die seltne und auserlesene Glückseligkeit, die sein Alter kröne. Er mahlte sie mit erhöhten Farben, wies ihn gleichsam auf ihren glänzenden Anblick hin, und fragte ihn endlich: was ihm davon dünke? „Herr, ihr seyd so beglückt,“ erwiederte Meister Marco, daß euch allein die Gnade Gottes fehlt. Bildlicher und schöner vielleicht, aber nicht mit mehr Wahrheit oder Nachdruck hätte ein Griechischer Weise gesagt: ehre die Nemesis! Im Taumel der Hoheit, der jene Warnung veranlaßt hatte, ging ihr tiefer Sinn verloren: der verblendete Ugolino sah die Wolken nicht, die dunkel über ihm aufzogen, und eilte selbst seinem Falle entgegen. Er hätte vielleicht durch Theilung seiner Herrschaft die Entwürfe eines unternehmenden Gegners entwaffnet, der nach ihm der mächtigste Guelfe war. Statt dessen war er mit dem Erzbischof Ruggieri Ubaldini, dem Haupte der Gibellinen, in einen Bund getreten, um Nino Visconti aus der Stadt zu verjagen, wodurch seine eigne Parthey geschwächt und zerrissen ward. Während er allzu sicher auf diese neue und trügerische Freundschaft baute, wandten grausame Thaten des Übermuthes die Gemüther von ihm ab. Er soll den Grafen Anselmo von Capraja, dessen Popularität sein einziges Verbrechen war, heimlich haben umbringen lassen. Zornig über die Vorwürfe, welche ihm wegen seiner Verwaltung von zwey jungen Männern gemacht wurden; um so zorniger vielleicht, je gerechter sie waren, verwundete er den einen von ihnen, erschlug den andern: seine Wuth achtete es nicht, daß jener sein eigner Neffe, dieser ein Neffe des Erzbischofs war. Ruggieri stand lange stumm, als ihm die Leiche gebracht wurde; sagte zuletzt mit angenommener oder wirklicher Gleichgültigkeit: er könne sich nimmermehr überreden, daß dieß sein Neffe, und die Ermordung desselben Ugolino’s That sey; und überließ sich öffentlich an eben dem Tage der lautesten Fröhlichkeit. Schwerlich hätte auch der geübteste Meister in der Verstellungskunst vermocht, im Augenblicke einer tödtlichen Beleidigung sich so gefaßt zu zeigen, wenn sie nicht etwa geheime feindselige Anschläge, wodurch er ihr längst zuvorkam, zur Reife bringen half. Es ist also nicht unwahrscheinlich, daß der junge Ubaldini mit Vorwissen seines Oheims dem Beherrscher Pisa’s Trotz geboten hatte. Wie dem auch sey, der Erzbischof konnte nun um so leichter seinem eigennützigen Verrath edlere Triebfedern unterlegen, und die Gibellinischen Häuser, welche, wie er selbst, Freundschaft für den Grafen nur heuchelten, die Lanfranchi, Qualandi, Sigismonid, in eine Verschwörung gegen ihn ziehen. Wiederhohltes und vergebliches Andringen im Rath auf den Frieden mit Genua, dessen vorzüglichstes Hinderniß Ugolino schien, wurde zur Veranlassung gebraucht, die Menge gegen ihn aufzuwiegeln. Alles war vorbereitet; die Glocken läuteten Sturm; ein furchtbares Geschrey: Tod dem Tyrannen! schallte durch die Straßen. Dennoch bot sich der Podesta entschlossen einem ungleichen Kampfe dar, und zog sich erst am Abend eines blutigen Tages in seine Burg zurück, welche im Umkreise der Stadt lag. Zu spät durch das nahende Ungewitter aufgeschreckt, hatte er im Stillen zu seinen auswärtigen Freunden um Hülfe gesandt; allein der schlaue oder glückliche Anführer der Verschwornen war ihm zuvorgekommen. Als die Mittel der Gegenwehr erschöpft waren, und noch kein Ersatz erschien, mußte Ugolino sein Schloß dem eindringenden Feinde und den Flammen Preis geben. Er suchte sich nach Lucca zu retten, wurde aber nebst zwey Söhnen, Uguccione und Brigata, und zwey Enkeln, Anselmuccio und Gaddo unterwegs eingehohlt, und in den sogenannten Thurm der sieben Straßen geworfen. Die eroberte Burg wurde geschleift, und ewiger Verwüstung gewidmet. Man verfolgte mit Wuth seine noch nicht entflohenen Freunde und Anhänger; die, welche sich versteckt hatten, mußten auf den drohenden Befehl des Erzbischofs ausgeliefert werden. Eine treue weibliche That fodert mitten unter diesen Auftritten des Schreckens unsre Rührung: die That einer Amme, welche ihren Säugling, des Grafen Enkel, in einen Korb voll Leinwand verbarg, und mit Lebensgefahr aus der Stadt trug. Neun Monate lang wurde jenen unglücklichen Gefangenen das Leben gefristet. Zwar brachte Ruggieri wahrscheinlich nicht so lange Zeit, um die unmenschlichste Rache zu ersinnen; sein Geiz verzögerte sie: er erpreßte von Ugolino’s Freunden grosse Geldsummen für seine gehoffte Freylassung. Endlich (im März 1289) ward das Loos der Verurtheilten unwiderruflich entschieden; die Thür ihres Kerkers schloß sich für immer; die Schlüssel wurden in den Arno versenkt; und sie erriethen, daß sie bestimmt seyen, Hungers zu sterben. Der Erzbischof gefiel sich sonderlich in der Wahl dieser Todesart: zu milde und fromm, um Menschenblut zu vergießen, habe er den Schuldigen nur die Nahrung entzogen. Ein lautes Geschrey um Erbarmen, drang durch die dicken Mauern; aber aus Furcht (denn der Haß gegen den Nahmen Gherardesca war nun doch wohl versöhnt) regte sich keiner ihrer Mitbürger. Um einen Beichtiger wenigstes flehte der Graf; allein umsonst: der Erzbischof ließ ihn (eine priesterliche Rache) ohne das Sakrament der Buße zur Hölle fahren. Man verscharrte nachher ihre abgezehrten Leichname ohne Ehrenzeichen; der Thurm, das Werkzeug ihrer Qualen, wurde durch seinen veränderten Nahmen ihr einziges Denkmahl.

Wenn Ugolino schuldig heissen kann; und er kann es gewiss eher durch den Misbrauch der ihm anvertrauten Gewalt, als durch seine angebliche Verrätherey beym Friedensschlusse mit Florenz: so war doch die Strafe selbst für den schwärzesten Missethäter zu grausam. Was aber kein Schein des Rechtes beschönigen kann; was seine Verfolger ewig zum Abscheu der Menschheit machen muß; was den Pisanern, nach der Meynung der Zeitgenossen, unmittelbar Gottes Gerichte zuzog, ist die Mitverdammung der unschuldigen Söhne und Enkel. Vergebens bemüht sich der unermüdliche aber misverstandne Patriotismus eines Pisanischen Gelehrten zu beweisen, sie seyen nicht mehr im Knabenalter, sondern völlig erwachsen gewesen, und haben für Ugolino gefochten. Überwögen auch seine Gründe die Menge entgegengesetzter Zeugnisse, so waren sie doch weder Hochverräther noch Tyrannen, und konnten, auf das strengste genommen, nur Verbannung verdienen. Bloß aus grenzenloser Rachgier, oder aus Furcht, es möchte aus Ugolino’s Blut ein Rächer der Unthat aufstehen, wünschte man seine ganze Nachkommenschaft zu vertilgen. Dieß mislang: zwey ältere Söhne, die Väter der mitgefangenen Enkel, waren beym Ausbruch des Aufstandes nicht zugegen gewesen; jener gerettete Säugling durfte als Mann in seine Vaterstadt zurückkehren; und noch jetzt blüht das Haus der Gherardeschi.

Diese Begebenheit zog verderbliche Folgen für die Pisaner nach sich. Der Sturz der Guelfischen Parthey verwickelte sie in einen langwierigen Krieg mit den Toskanischen Guelfen, worin diese die Oberhand behielten. Mit Genua wurde zwar bald ein Nothfriede eingegangen; doch da die Härte der Bedingungen Pisa von ihrer Erfüllung abhielt, erneuerten sich die Feindseligkeiten, und endigten erst mit der entschiednen Übermacht des einen, und der gänzlichen Erschöpfung des andern Staates. So sank das reiche, mächtige, ruhmvolle Pisa, bis es ein Jahrhundert nachher, von den Florentinern unterjocht, zugleich mit der Freyheit sein historisches Daseyn einbüßte.

Indem der Dichter die Antenora durchwandert, (hier verließen wir seine Erzählung) stößt er unversehens mit dem Fuße an den Kopf eines Verdammten, der sich weigert ihm zu entdecken, wer er sey, worüber Dante in heftigen Zank mit ihm geräth. Es ist Borra degli Abati, ein Florentiner, durch dessen Verrath die Niederlage bey Montaperti erfolte. Zufällig ruft ihn einer von seinen Mitgenossen bey Nahmen, und nun nennt er aus Rache diesen sowohl als die übrigen Verbrecher um ihn her. Hierauf fährt Dante fort:

Wir waren schon entfernt von dieser Brut,
Da sah ich zwey zusammen eingefroren:
Der Kopf des Einen war des Andern Hut.
Und wo der Schädel gränzet an den Nacken,
Sah ich, wie man im Hunger Brot verschlingt
Des obern Kopfes Zahn den untern packen.
Nicht anders hat vor Wuth die Schläf und Stirn
Des Menalippus Tydeus einst zerklaubet,
Wie der des Andern Schädel, Haut und Hirn.
„O du,“ rief ich, deß viehische Geberden
Haß gegen den beweisen, den du nagst,
Sag mir den Grund davon; ich will auf Erden
Dein Schicksal kund thun, wenn du Wahrheit sagst;
Will rächen deinen Ruf an jenem dort,
Wofern du ihn mit Fug und Recht verklagst,
Wenn die, womit ich spreche, nicht verdorrt.

Drey und dreyßigster Gesang.

Da hob vom angefreßnen Hinterkopfe
Der grause Sünder seinen Mund empor,
Und wischt’ ihn ab in seines Feindes Schopfe.
Dann fing er an: Soll ich den grimmen Schmerz
Erneuern? Eh ich noch davon erzähle,
Zermalmt das Angedenken schon mein Herz.
Doch sollen meine Worte diesem schnöden
Verräther eine Saat der Schande seyn,
So wirst zugleich mich weinen sehn und reden.
Ich weiß nicht, wer du bist, noch wie du hier
Herabgestiegen; doch ein Florentiner,
Wenn ich dich reden höre, scheinst du mir.
Ich war Graf Ugolino, mußt du wissen,
Und Erzbischof Ruggieri dieser da.
Nun hör’, warum ich so sein Hirn zerbissen.
Wie er, derweil er seine Treu mir bot,
Mit arger Feindestücke mich gefangen,
Dann umgebracht, ist nicht zu sagen Noth.
Doch das, was niemand droben dir erzählet,
Wie grimm mein Tod gewesen, höre nun;
Dann wirst du wissen, wie er mich gequälet.
Ich hatt’ aus einer engen Luk im Erker
Des Thurms, der jetzt vom Hunger wird benannt,
Und der für viele dienen wird zum Kerker,
Verschiedner Monden Wechsel schon erkannt,
Als einst im Schlaf der Zukunft Schleyer rissen,
Und mein Geschick vor meinen Augen stand.
Es schien mir, der da jagt’ als Herr und Haupt
Den Wolf und seine Wölflein zu dem Berge,
Der den Pisanern Lucca’s Anblick raubt.
Mit magern, auf den Fang erpichten Hunden
Hetzt’ er sie fort; es liefen vor ihm her
Gualande mit Lanfranken und Sismunden.
Nach kurzem Lupfe sah ich kraftlos keichen
Den Vater und die Söhne, sah ich bald
Von scharfen Hauern bluten ihre Weichen.
Erwacht war ich vor Tages Anbruch kaum,
Da hört’ ich um mich her die Söhne weinen,
Und flehn um Brot in ihrem bangen Traum.
Denk, was mein ahnend Herz begann zu wähnen!
Wohl grausam bist du, wenn dich das nicht rührt,
Und weinst du hier nicht, was entlockt dir Thränen?
Schon tagt’ es; unser Schlummer war dahin,
Die Stunde nahte, Speise zu empfangen,
Und jedem lag sein Traum noch schwer im Sinn.
Und riegeln hört’ ich unter uns die Pforte
Des grausenvollen Thurms; drob schaut’ ich starr
Ins Anlitz meinen Söhnen ohne Worte.
Ich weinte nicht, also versteint’ ich mich.
Sie aber weinten; mein Anselmo sagte:
Du blickst so, Vater lieb! was hast du? sprich:
Doch weint’ ich nicht, und sagt’ auch nichts zu ihnen,
Den ganzen Tag noch auch die Nacht darauf,
Bis wiederum der Welt die Sonn’ erschienen.
Den bangen Kerker hatt’ ein wenig Licht
Nunmehr erleuchtet: vierfach wiederhohlt
Sah ich mein Leid auf jedem Angesicht.
Da biß ich beyde Hände mir vor Wehe.
Sie glaubten, daß mich Gier nach Speise trieb,
Und fuhren schnell vom Lager in die Höhe,
Und sagten: Minder wird es weh uns thun
Wenn du von uns dich nährst; du gabst uns, Vater,
Dieß arme Fleisch und Bein: nimm’s wieder nun!
Um sie zu schonen, ward ich still hierauf;
Stumm blieben wir den Tag und dann noch Einen.
O Erde? warum thatst du dich nicht auf?
Gekommen war des vierten Tages Licht,
Als Gaddo mir sich vor die Füße streckte,
Und rief: Mein Vater! warum hilfst mir nicht?
Daselbst verschied er; von den Andern allen
Sah ich je Einen, wie du hier mich siehst,
Am fünften und am sechsten Tage fallen.
Ich rief die Todten noch drey Tage lang,
Und tappte, blind schon, über jeder Leiche,
Dann that der Hunger, was dem Schmerz mislang. –
Mit scheelen Augen, als er so gesprochen,
Biß er den Unglücksschädel wieder an,
Zermürsend, wie ein Hund, die harten Knochen.
O Pisa! Pisa! Schande der Bewohner
Des schönen Landes, wo das Si ertönt,
Sind deine Nachbarn nicht des Gräuels Lohner,
So komme bis vor deines Arno Kehlen
Capraja und Gorgona hergerückt,
Daß du ertrinken mögst mit allen Seelen.
Denn, ward Graf Ugolino auch verklagt
Er hab’ um deine Burgen dich verrathen;
Warum hast du die Söhne todt geplagt?
Sag’, neue Thebe! Welche Bosheit kannte
Des Ugo und Brigata zartes Herz,
Und Jener, die mein Lied schon oben nannte? –

Meine Übersetzung dieser Stelle bitte ich dem Schatten Dante’s ab; aber ich möchte seine Vergebung nicht auch für die Schuld bedürfen, ihrem unwiderstehlichen Gange durch mattere Umschreibungen Schritt vor Schritt zu folgen. Die fürchterliche oder rührende Wahrheit einer Darstellung macht eher stumm als beredt, weil man wieder zu ihren eignen Worten seine Zuflucht nehmen müßte, um den empfangenen Eindruck in seiner ganzen Kraft zurückzugeben; und die einfachste Größe versagt sich allen Bemühungen sie zu zergliedern. Jeden Zug beseelt hier tiefes inniges Mitgefühl: keiner gehört der Absicht oder selbstgefälligen Kunst. Welch ein beglaubigendes Gepräge drückt nicht die Einfalt, womit Ugolino anhebt, seiner ganzen Erzählung auf! Kaum scheint sich der Dichter bewußt zu werden, daß er ihn redend einführt: für die Beschreibung dieser Sache hat er nur die Sache selbst; er spricht die Laute des Schmerzes nach, wie sie von den Lippen des Jammernden fallen, und legt sie an unser erstauntes Herz. Wer hier untheilnehmend vorüberginge, müßte seine Natur verläugnen oder vergessen. Ist es nicht, als stünde vor dem Anfange der Geschichte von einer unsichtbaren Hand geschrieben: an die Menschheit? Wenn sich auch das zartere Gefühl, durch den grausenvollen Anblick empört, anfangs von dem Dichter, der es zu diesen Auftritten hinzieht, fast wie von den beyden Sündern selbst, wegwendet, so wird doch die Regung, welche jenen beseelt, es bald wieder aussöhnen. Diese Schrecknisse gehören nicht ihm; er hat sie nicht erdacht: er fodert nur auf, über eine That zu richten und zu zittern, die von einem Menschen an Menschen verübt wurde. Eben da, wo er sich nicht scheut, den ausgeartetsten Misbrauch der willkührlichen Gewalt ohne alle Schonung zu schildern, wird sein eignes schuldloses Gemüth, und seine unverrückte Menschlichkeit offenbar. Der Nachruf, in den er unwillkührlich ausbricht, verräth was ihn drängte, mit einem nicht verhärteten, aber mit Schmerzen vertrauten und darin stark gewordnen Herzen der Geschichtschreiber solcher Leiden zu werden. Nur zu oft muß sich der Glaube an eine über die menschlichen Handlungen waltende Gerechtigkeit, um nicht zu ersterben, in ein künftiges Leben hinüberretten. Diese letzte Zuflucht der hülflos Unterdrückten genügt dem entbrannten Eifer Dante’s nicht. Noch auf Erden, vor den Augen des Menschengeschlechts, auf dem Schauplatze der Missethat selbst wünscht er das Schicksal von dem Verdachte gereinigt zu sehen, als begünstige es die Anschläge der Bösen.

So verworren sind die Tiefen, in die wir genöthigt werden, hier hinabzuschauen, daß wir über die menschliche Natur verzagen möchten, daß unser Geist sich sträubt zu begreifen, was sie alles zu thun fähig und zu erdulden bestimmt sey. Es giebt kein Elend, welches die Menschheit nicht erfahren, keine Qual, die ein Mensch dem anderen nicht bereitet hätte. Dieses Geschöpf kennt keinen ärgern Feind, als seine eigne Gattung. Allein neben der furchtbaren Wahrheit liegt auch der tröstende Ersatz. Wir ahnen in uns eine unzerstörbare Kraft, durch die wir über jede äußre Gewalt erhaben, noch im Erliegen überwinden können. So wenig dürfen wir also sagen, es ruhe ein nicht zu lösender Fluch auf unserem Daseyn, daß auch die schrecklichste Erscheinung noch wohlthätig und für unsre Veredlung wirksam werden kann. Böte uns Ugolino’s Geschichte nichts anders dar, als die ungeheure Frevelthat eines herzlosen Unmenschen, so möchte ein nie weggezogner Schleyer sie decken, und ihr Andenken nur in den Jahrbüchern der Hölle aufbewahrt werden. Aber unter der todten Steinmasse, die ihn und seine Familie lebend begräbt, werden noch Tugenden, Heldenmuth und zärtliche Selbstverläugnung, bewähret. Auf das Entsetzen folgt Bewunderung; die Wunden, welche ein zerreissendes Mitleid schlug, werden durch die Art geheilt, wie man uns dazu auffodert; und wir endigen mit einer Stimmung, die das schmerzlich aufgehobne Gleichgewicht in unsrer Seele wieder herstellt.

Indessen gilt alles dieses wohl am wenigsten von der ersten Eröffnung des Auftrittes, die doch ganz vorzüglich dem Dichter zugehört, weil er sie, ohne einige Veranlassung in der Geschichte, allein aus seinem eignen Geiste geschöpft hat. In der kannibalischen Beschäftigung Ugolino’s liegt nichts, was dem menschlichen Sinne nicht auf alle Weise widrig seyn müßte. Wessen Einbildungskraft weit genug ausreichte, um hiebey verweilen zu können, den möchte nachher die folgende Erzählung gestählt finden, wo sie ihn erweichen sollte. Mit körperlichen Leiden können wir uns in der Darstellung aussöhnen, mit den Wunden Philoktets und Laokoons Todesqual. Wir können das Bild selbst dieses Hungertodes ertragen, vielleicht mit deswegen, weil wir den Thäter nicht dabey vor Augen haben. Aber ein fortgesetztes, physisch grausames Handeln erfüllt uns mit Ekel und Abscheu, und gewährt keinen Ersatz für die Nothwendigkeit, es mit anzusehen. Im ersten Augenblicke der lange entbehrten Befriedigung kann sogar die entsetzlichste Rache durch die Größe der erlittnen Beleidigung entschuldigt werden. Allein so wie der Sturm der Leidenschaft sich legt, wird sie gehässiger; gegen eine Rache wie diese, welche in alle Ewigkeit hin gleich unersättlich bleibt, würde sich jedes Gefühl in uns empören, wenn sich nicht schon zuvor der Begriff gegen ihre Möglichkeit auflehnte. Eben in dieser Unerklärlichkeit aus den Gesetzen, wonach menschliche Leidenschaften wirken, liegt aber der Aufschluß und des Dichters Rechtfertigung. Ugolino wird nicht durch eine freye Handlung der Prometheusgeyer seines Feindes, denn bey Verdammten findet weder Wahl noch Wechsel der Gesinnungen Statt. Er ist bloß ein Werkzeug der vergeltenden Macht, die für eine ganz einzige That auch eine außerordentliche Strafe ersonnen hat. Sein Loos wird dadurch nicht erschwert: vielmehr scheint ihm gleichsam zur Entschädigung für die im Leben ausgestandnen Leiden (ich schaudre mich weiter in diese Vorstellungen zu vertiefen) ein Labsal der Hölle angewiesen zu seyn. Dante’s Einrichtung, die Art der Verdammniß nach dem allgemeinen Namen der Schuld, nicht nach dem Grade der Ausartung, welchen sie in einem einzelnen Falle voraussetzt, zu bestimmen, hat den Nachtheil, daß sie oft sehr verschiedne Dinge mit demselben Maaße mißt, und also eine unsrer Hauptfoderungen an die strafende Gerechtigkeit nur unvollständig befriedigt. Hier mußte er ihr daher durch eine kühne Abweichung zu Hülfe kommen. Welch ein auffallendes Misverhältniß wäre es, wenn Ruggieri nicht mehr Strafe litte, als Ugolino, weil beyde Verräther heißen; besonders da man sie dicht neben einander sieht! Und doch scheint diese Zusammenstellung so viel Reitz für den Dichter gehabt zu haben, daß er sich, vermuthlich ihr zu Gefallen, ein etwas eigenmächtiges Verfahren erlaubt hat, so groß auch sonst seine Gewissenhaftigkeit in diesem Stücke ist. Ugolino büßt unter den Verräthern des Vaterlandes; Ruggieri’s Verbrechen war die Verschwörung gegen seinen Freund; die Geschichte legt ihm keinen Hochverrath an Pisa zur Last: er hätte folglich erst in der Tolommea (so heißt der nächste Bezirk) seine Stelle finden sollen.

Wie dem auch sey, es ist gewiss, daß das Atreische Gastmahl, wobey die Wanderer den Unglücklichen antreffen, der Theilnahme an seinen vorhergegangnen Schicksalen nicht den geringsten Eintrag thut. Dieß ist nicht Ugolino selbst, sondern nur sein verworfner Schatte. Erst mit der Erinnerung an die Leiden seines Todes kehrt die ganze Menschheit in seinen Busen zurück, und verläßt ihn wieder, sobald er sie in Gedanken noch einmahl durchgelitten hat. Die Übelthat, deren er durch seinen Platz im untersten Höllenkreise für schuldig erkannt wird, kömmt bey jener Katastrophe, welche die Schrecken der Verdammniß so weit überwiegt, vollends in keine Betrachtung. War auch zwischen ihr und seinem Falle einiger Zusammenhang, so wird doch dieser hier unsern Augen gänzlich entzogen. Der Schauplatz der Begebenheit ist von der Erde geschieden, ob er gleich noch auf ihr liegt. Mit dem letzten Schließen der Pforte, welches die Gemeinschaft der Bewohner des Thurmes mit den Lebendigen aufhebt, wird auch jeder Rückblick auf das vergangne Leben gehemmt; und wenn wir noch des glücklich herrschenden Ugolino gedenken, so muß dieß eher den Eindruck verstärken. Je heftiger dieser Mann war, je feuriger er die Plane seiner Ehrsucht verfolgte, um so fürchterlicher ist es nun, ihn in dem engen Kerker eingeschlossen zu sehen, wo seine Kraft an den Mauern ohne Ausgang sich bricht, und zu schweigender Verzweifelung erstarrt. Während des unermesslichen Leidens scheint er den Urheber desselben vergessen zu haben. Er flucht dem Ruggieri nicht, an dem er doch nicht hoffen kann, sich zu rächen: die Erde fleht er um das Erbarmen an, sich unter ihm zu öffnen. Der Jammer über seine Kinder verschlingt die Wuth, die sich seiner Seele bemeistern würde, wenn er allein unter der Bosheit des Feindes litte. Die väterliche Wehmuth, das sich selbst vergessende Mitgefühl verdoppeln und adeln seinen Schmerz. Warum sollte er solcher Regungen nicht fähig seyn, wenn ihn die Ehrsucht auch zum Verbrecher gemacht hatte? Diese Leidenschaft erweitert sich wenigstens in ihrem Egoismus; sie konnte ihm für seine Familie, seine Kinder einen Grad der Vorliebe und Zärtlichkeit mehr gegeben haben. Er hatte für ihren Glanz wie für den seinigen gearbeitet. Gewiss hatte er sie geliebt: diese Empfindung ist ihm nicht neu. Liebten sie ihn nicht? Die Kleinen boten sich ja selbst zu seiner Nahrung an.

Erwähnt wird das zarte Alter der Söhne und Enkel erst am Ende; aber es mahlt sich rührend in der kindlichen Unschuld ihrer Reden. Die Aufzählung ihrer Nahmen und die Zurückweisung auf die vorher erwähnten in der letzten Terzine beleidigt unfehlbar einen verzärtelten Geschmack; selbst einer männlicheren Beurtheilung könnte sie von dem emphatischen Schwunge der Nachrede herabzusinken scheinen. Nach meinem Gefühl ist sie völlig in dem Wahrheit-zeugenden Geiste, der überall und vorzüglich hier des Dichters ernste und unbestechliche Muse war: sie giebt dem Beschlusse gleichsam ein urkundliches Ansehen.

So wie Ugolino, während er noch mit dem Hungertode kämpfte, das Andenken an Ruggieri verlohren zu haben schien, so übergehen ihn Dante’s Verwünschungen. Alle ersinnlichen wären zu schwach. Dagegen sieht er einen Thäter der gräßlichen That in jedem, der nicht aufstand ihr zu wehren, und wendet sich daher an die Stadt, deren Bewohner zu fühllos oder zu feig dazu waren.

Ehe wir diese Stelle verlassen, sey es mir erlaubt, einige andre Behandlungen derselben Geschichte zu erwähnen, und nur mit wenigen Winken Gesichtspunkte anzudeuten, aus welchen sich dem denkenden Betrachter des Schönen und Erhabnen weite Aussichten öffnen. Denn zwischen Werken, die verschiednen Künsten oder auch nur verschiednen Gattungen in Einer Kunst angehören, eine eigentliche ins Einzelne gehende Vergleichung anstellen; in diesem Stücke dem einen Künstler, in jenem dem andern den Vorzug zusprechen; dieß ist vielleicht immer ein gewagtes Unternehmen. Da die Gesetze jeder Form und jedes Mediums der Darstellung aus der besondern Eigenthümlichkeit desselben entspringen, so giebt es kaum einen gemeinschaftlichen Maaßstab für alle. Daß zwey Schöpfungen des Geistes einerley Stoff bearbeiten, richtiger gesprochen, daß sie denselben Nahmen tragen, ist nur eine zufällige Übereinkunft. Das Wesentliche eines Kunstwerkes ist die Form, nicht der Inhalt; und wenn unter diesem, wie billig, nicht der nackte Begriff des Gegenstandes verstanden wird, sondern das Gewebe von Vorstellungen, welche ein bestimmtes Individuum aus ihm gezogen, und durch die untheilbare, oft unwillkührliche Wirksamkeit seiner Seelenkräfte und seiner innern Organisation so oder anders gebildet hat, so fehlt ihm nur mehr Entwicklung um eins mit der Form zu seyn, deren Embryo er ist. In diesem Sinne kann man sagen, daß niemahls mehrere Kunstwerke ihren Stoff mit einander gemein haben.

Man sollte sich von der belebenden Kraft des Dialogs, auf so tragische Auftritte angewandt, eine erhöhte und ganz unwiderstehliche Wirkung versprechen. Doch eine nähere Betrachtung entdeckt in der Natur dieser Geschichte mancherley Unbequemlichkeiten für die dramatische Form, welche sie mehr für die erzählende Gattung zu bestimmen schienen; und das bekannte Trauerspiel von Gerstenberg widerlegt, ungeachtet seines Reichthums an kühnen und originellen Zügen, diesen Gedanken nicht. Gleich vom Anfange an ist das Schicksal aller auftretenden Personen unwiderruflich entschieden: also findet eigentlich weder Verwickelung noch Auflösung Statt; was nur Katastrophe hätte seyn sollen, ist zum dramatischen Ganzen ausgedehnt. Mit aller Erfindung und aller Kunst, die der Dichter aufgewandt hat, um die Einförmigkeit hoffnungslosen Elendes zu unterbrechen, und einen Schein von Handlung hervorzubringen, war es dennoch unmöglich zu verbergen, daß seine Personen nur leiden. Sie ergiessen sich entweder in unnütze Klagen, oder ihre Seele bestrebt sich, mit ihrer ganzen, in sich gesammelten, Willenskraft, nicht zu erliegen. Solch eine Verfassung des Gemüths hemmt aber die Mittheilung, und drängt jeden Strom des Gefühls zu seiner innern Quelle zurück; sie kann also nicht mit vollkommner Wahrheit in Gesprächen und noch weniger in Monologen ausgedrückt werden. Keine Rede kann so erhaben seyn als das Verstummen Ugolino’s, das sich freylich nicht auf die Bühne übertragen ließ. Dem neuern Dichter fehlte das Hülfsmittel des Chorgesanges, wodurch Äschylus die Zuschauer beschäftigte, während seine verhüllte Niobe schweigend und unbeweglich da saß; und, gesetzt, er hätte der alten Sitte folgen wollen: wie wäre hier ein Chor anzubringen gewesen? Wollte er hingegen den ganz entgegengesetzten Weg wählen, und den Kreis seiner Darstellung von der Einfachheit des Griechischen Drama bis zum historischen Schauspiele erweitern, so brauchte nur ein Theil der Handlung im Kerker vorzugehen; Ugolino’s Leben bot reichen Stoff zu Sitten- und Charaktergemählden dar, den der Schöpfer der Minona gewiß zu benutzen gewußt hätte. Er ist ein unterhaltendes Spiel für die Einbildungskraft, sich vorzustellen, was etwa Shakespeare, wenn ihm die Geschichte in irgend einer Chronik vorgekommen wäre, und seinen Geist getroffen hätte, daraus gebildet haben möchte.

Ein Künstler, der, wie Dante, eine allumfassende Phantasie forschendem Tiefsinne unterwarf, Michelangelo Buoanarotti, konnte die Größe dieses Dichters ganz verstehn. Auch bewunderte er ihn vor allen Andern, und belebte seine fest gezeichneten Gruppen gern von neuem durch flüchtige Entwürfe der Feder, oder durch ausgeführte Werke des Pinsels und Meißels. Eine erhobene Arbeit von ihm, welche den Ugolino mit seinen Söhnen vorstellt, ist weniger bekannt, als sie es zu seyn verdiente. Selbst Vasari erwähnt ihrer nicht. Dennoch läßt sich an der Ächtheit des Werkes nicht zweifeln, weil es den Beweis derselben unverkennbar an sich trägt.

Dieses Basrelief enthält sieben Figuren, wovon fünf, welche die Hauptgruppe bilden, historisch, die beyden übrigen allegorisch sind. Ungeachtet seiner Verehrung für Dante verlor Michelangelo doch die Betrachtung nicht aus den Augen, daß die bildenden Künste Schwestern, nicht Dienerinnen der Poesie sind, und stellte nach dem Beyspiele jener Rhodischen Bildner des Laokoon seine Personen unbekleidet dar.

Zur Rechten des Anschauers sitzt Ugolino, der, als die Hauptfigur, am meisten erhoben ist, mit der Linken auf den Stein gestützt, der ihm zum Sitze dient, die Rechte fest auf die Gegend des Herzens gedrückt. Er scheint stumm bey den Drangsalen, die ihn umgaben, und gefaßt auf alle, die ihn noch treffen möchten. Edler Trotz ist in seiner Miene; die ganze Gestalt verräth seinen innern Schmerz. Wenn gleich der Ausdruck der Leidenschaft weniger heftig ist als beym Laokoon, so hatte doch Michelangelo diesen gewiß dabey vor Augen. Aus der rechten Hand fällt ein Tuch, worauf er sitzt, und welches nur der Anständigkeit wegen da zu seyn scheint. Doch könnte der Künstler auch die Absicht gehabt haben, ihm etwas zum Druck in die Hand zu geben, weil dieß eine dem Zorne und verbißnen Schmerze natürliche Handlung ist.

Ihm zur Rechten, und zum Theil durch den Schenkel des Vaters bedeckt, liegt einer der Söhne, mit dem rechten Arme sich auf sein linkes Knie stützend. Er wendet sich nach seinem Vater, und haucht seine Qual in laute Klagen aus. Er ist unter den Söhnen derjenige, in dessen Geberden und Gesicht sich noch das stärkste Leben offenbart.

Die Mitte des Basreliefs nimmt ein andrer Sohn ein, der schon todt oder im Sterben, das Haupt gegen die linke Seite des Anschauers gekehrt, ausgestreckt daliegt. Der obere Theil des Gesichts, ungefähr bis zu den Augenbraunen, wird durch einen seiner Brüder bedeckt, der mit zurückgezognen Beinen sitzt, den gestorbnen Bruder anblickt, und dasselbe Loos zu erwarten scheint. Diese letzte Figur ist sehr erhoben.

Der vierte Sohn endlich, welcher vom Rücken her erscheint, und auf die Linke gestützt, den Vater ansieht, beschließt die Gruppe. Er ist wie sein zuerst beschriebener Bruder nur flach gehalten.

Obgleich Michelangelo den Ausdruck in den Bewegungen hier sehr zu mäßigen gesucht hat, so giebt doch seine Gewohnheit, das Spiel der Muskeln stark zu beleben, diesen Figuren einen gewissen Reichthum. Sie haben unter ihren Leiden die Schönheit der Formen nicht verloren, und scheinen nach der Kraft der Muskeln zu urtheilen, in der Blüthe ihrer Jahre, nicht krank noch erschöpft. An dem Vater allein erkennt man, auch ohne Hülfe des ehrwürdigen Bartes, das Alter eines Greises, und solche Formen, wie man sie dem Saturnus geben würde.

In allem bisher Beschriebnen ist zwar Michelangelo’s Hand und Geist sehr sichtbar, doch hat ihn die Geschichte einigermaaßen gefesselt. In der Bildung des Flusses Arno hingegen, der unten zur rechten Hand sich auf seine Urne lehnt, und die vorderste Fläche einnimmt, konnte er seiner Einbildungskraft einen ungehemmten Flug erlauben. Sie hat einen Flußgott erschaffen, der den schönsten der Alten nicht nachsteht. Daß er ihm nur dieselbe Größe gegeben wie den übrigen Figuren, ob diese gleich entfernter sind, ist gewiß in der Absicht geschehen, der des Ugolino nichts von ihrer Großheit zu entziehen.

Über dem Ganzen schwebt ein weibliches Bild des Hungers mit hangenden Brüsten. Ihr verzerrtes Gesicht ist auf Ugolino hingewandt; sie weis’t mit ausgestrecktem Arm auf die andre Seite: eine Geberde, deren Bedeutung nicht ganz deutlich ist. Dieses Ungeheuer scheint für die Schönheit des Werkes eher nachtheilig als vortheilhaft, ist aber auch durch die sehr flache Arbeit bloß zum Nebenwerke bestimmt. Es ist eine häßliche Hieroglyphe, die indessen, ausser daß sie jeden Irrthum bey Auslegung des Werkes verhütet, den Künstler der Nothwendigkeit überhoben hat, an den zur Gruppe gehörigen Körpern selbst den Hungerstod, der ihnen bevorsteht, zu bezeichnen.

Die Sculptur erkauft die Vollkommenheit ihrer Zeichensprache durch die Eingeschränktheit derselben. Will der Bildner daher ihrem Wesen getreu bleiben, so wird er, mit Hinweglassung alles Zufälligen, nur die wesentlichen Verhältnisse zu ergründen und auszudrücken suchen. Täuschung kann nie seine Absicht seyn: er übergiebt seine Werke der stillen und nüchternen Betrachtung. Was nur jene hervorzuzaubern dient, was uns die Gegenstände näher rückt, ohne sie eigentlich an sich selbst zu erhöhen: Ausführlichkeit in den individuell bezeichnenden Umständen der Handlung, Kostum der Völker und Zeiten, Dekoration des Schauplatzes; alles dieses behandelt er entweder nur als Nebensache, oder übergeht es ganz, um den einfachen Hauptgedanken jedes störenden Zierrathes zu entladen. Eben diese Wendung seiner Kunst leitet ihn auch auf das Ideale. Was er seinen Personen an besondern Beziehungen und näherem Interesse für den Anschauer nimmt, muß er ihnen an innerm Werthe, an Adel der Gestalt und der in ihr sich offenbarenden Seele wiederzugeben suchen. Es kümmert uns wenig, zu wissen wer sie sind; wir fragen nur, was sie sind. Bey vielen Griechischen Werken der Plastik und Glyphik ist zwar auch jenes, sogar ohne Hülfe der Attribute, welche meistens, mit geschmackvoller Sparsamkeit für Götter oder Helden gewählt, ihre Schönheit nicht verhüllen, dem ersten Blike kenntlich, weil diese Künste sich in einem engen mythischen Kreise, wie in ihrem Eigenthum angepflanzt haben. Michelangelo hingegen, der sich dießmahl in eine ganz fremde Gegend gewagt hatte, mußte, um mit völliger Sicherheit verstanden zu werden, auf den Dienst des Dichters als seines Auslegers rechnen. Wäre aber auch das Andenken der Begebenheit weder historisch noch poetisch aufbewahrt worden, so daß wir Ugolino’s Familie in der Gruppe nicht erkennen können, so würde das Kunstwerk dadurch an seinem Werthe nichts einbüßen. Als das Bild eines hoffnungslosen, tödtlich ruhigen Zustandes; dem Schmerze hingegebner Jünglinge, welche vergebens von einem Greise Hülfe hoffen; des Greises, der, standhaft oder erstarrt, in verschloßner Seele für sie alle leidet; also in den wesentlichen Zügen, würde es nie zweydeutig seyn.

Ganz anders verhält es sich mit dem Mahler. Wiewohl er im Ausdrucke der Gefühle ebenfalls nach dem Edelsten und Höchsten strebt, so darf er doch in allem Übrigen der Wirklichkeit näher treten, auch wo sie erschütternd ist. Man verlangt von ihm Umständlichkeit der Erzählung. Er wird vielleicht das Kostum des Zeitalters, doch ohne antiquarische Genauigkeit, an der zerrißnen Kleidung der Gefangnen noch zu bezeichnen wissen. Er wird den Hunger nicht personifizirt und abgesondert, sondern auf ihren bleichen Wangen, in ihren hohlen Augen mahlen. Er wird uns in das Innre des dumpfen Kerkergewölbes führen, und die gegenwärtige Szene, worauf dort der Flußgott und einige Felsenstücke nur anspielen, furchtbar durch jenen Lichtstral beleuchten, bey welchem jeder der Unglücklichen eine vierfache Wiederhohlung seiner Qual um sich her sieht. Solche Erwartungen etwa würde ich zu Reynolds Ugolino hinzubringen, den ich nur aus Beschreibungen kenne, welchen zufolge er ihnen in hohem Grade entsprechen muß.

Nur wenig, aber nicht das leichteste von seiner Höllenfahrt ist dem Dichter nun noch zu vollbringen übrig. Er durchwandert die Tolommea und Giudecca: in jener sind die Verdammten rücklings eingefroren; in dieser ganz unter dem durchsichtigen Eise begraben. Jetzt erblickt er den Fürsten der Finsterniß, den ersten Abtrünnigen, ungeheuer von Größe, mit der Brust über die Fläche hervorragend. Von den drey Angesichtern seines Kopfes ist das mittelste roth, eines gelblich und eines schwarz; unter jedem schwingt er ein Paar Fledermausfittige, die einen kalten Wind erregen, wodurch der ganze Cocytus gefriert: lauter häßliche und zugleich ungeschickte Allegorien. In jedem seiner Rachen zerfleischt er einen Erzverräther: Judas Ischarioth im mittelsten, auf beyden Seiten Cassius und Brutus. Es ist schwer, hier ernsthaft zu bleiben, und vielleicht sind die letzten Römer sonst nirgends in einer so abentheuerlichen Verbindung genannt worden. Nach den Begriffen des Gibellinen Dante hatten sie sich in der Person Cäsars an dem heiligsten aller irdischen Dinge, an der Majestät des Römischen Reichs, vergriffen. Virgil nimmt seinen Freund auf den Rücken, und steigt so zwischen dem haarigen Leibe des Ungeheuers und dem Eise hinab. Auf einmahl dreht er sich völlig um, so daß sein Kopf dahin gerichtet ist, wo vorher seine Füße standen, und fängt an mühsam aufwärts zu klimmen. Dante erschrickt, und glaubt noch einmahl in die Hölle zurückzukehren. Er weiß nehmlich nicht, daß er schon jenseit des allgemeinen Schwerpunktes in der andern Halbkugel ist. Endlich sieht er Satan unter sich auf den Kopf gestürzt; sich in einer vom Mittelpunkte der Erde bis zu ihrer Oberfläche reichenden Höhle; und steigt, längs einem Bache, der sich nach Art einer Wendelstiege um sie her ergießt, bis zum wohlthätigen Tageslichte hinauf.

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