HomeDie Horen1795 - Stück 8III. Über die Idee der Alten vom Schicksal. [K. H. Groß]

III. Über die Idee der Alten vom Schicksal. [K. H. Groß]

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Eines der anziehendsten und belehrendsten Schauspiele, welche uns die Geschichte des menschlichen Geistes in so reichem Maase darbietet, ist die Beobachtung des ununterbrochenen Einflusses, welchen die Forderungen der praktischen Vernunft auf die Speculationen der theoretischen behaupten. Überall zeigen sich die Aussprüche des natürlichen moralischen Gefühls als unveränderliche Leitungsbegriffe, die bey allen Verirrungen, welche die Bahn der Wahrheit in jeder Richtung durchkreuzen, eine gänzliche Abweichung von dem Ziele, welches die Natur dem forschenden Geist aufgesteckt hat, unmöglich machen. Diesen Spuren nachzugehen, und so die widersprechendsten Systeme an der Quelle, woraus sie gemeinschaftlich abflossen, wieder zu vereinigen, ist das Geschäfte der Geschichte der Philosophie, welche sich nur auf diesem Wege von einer trockenen und wenig belehrenden Herzählung ungleichartigen Fragmente (und als Fragmente erscheinen ausser diesem Standpunkte die consequentesten Lehrgebäude so gut wie einzelne Hypothesen) zu einem Ganzen der Vernunfterkenntniß erheben, und in den ehrwürdigen Rang einer Wissenschaft eintreten kann. Nach dieser Idee bearbeitet, liefert die Geschichte der Philosophie zugleich die Belege, welche einer aus Vernunftgründen durchgeführten Kritik des menschlichen Vorstellungsvermögen zur Bestätigung und gleichsam zur Probe dienen. Mit Bewunderung entdeckt hier der Forscher als Resultat der tiefsinnigsten und mühsamsten Prüfung aufgestellt, was sich frühe schon dem ahnenden Wahrheitssinn aufdrang, und unvergänglich, wie ein geistiges Wesen, die verschiedenen Gestalten der Mythen und Systeme durchwanderte.

Vielleicht gibt es kein Dogma, das dem Interesse der moralischen Vernunft dem ersten Anblick nach mehr entgegen scheint, als die Lehre der Alten vom Schicksal. Die Idee einer blinden Nothwendigkeit, welche mit gleicher Strenge über dem Bösen und Guten waltet, scheint eine unendliche Kluft zwischen der physischen und moralischen Welt zu eröffnen, und, indem sie auch die Handlungen der Menschen, wie jede andere Begebenheit in der Sinnenwelt, an die stetig fortlaufende Naturkette anreyht, mit der Idee von Freyheit auch den Begriff von Zurechnung und Strafe zu zernichten. Da nun gleichwohl das moralische Gefühl seine Forderungen nicht zurücknimmt, so werden wir uns kaum wundern, wenn wir finden, daß die Vernunft im Gedränge widersprechender Vorstellungsarten sich genöthigt sieht, auch diejenige Vergehungen, welche durch die Gewalt des Schicksals nothwendig gemacht werden, für strafwürdig zu erklären. Wirklich zeigt uns die Geschichte des Ödipus, daß die Griechen es keineswegs für unnatürlich und ungerecht hielten, wenn die Götter auch solche Missethaten bestraften, welche ohne Vorsatz begangen worden waren. Jener Unglückliche ermordet, ohne es zu wissen, seinen Vater, und heyrathet seine Mutter, weil eine höhere Macht, die seine Augen blendet, ihn von Verbrechen zu Verbrechen fortreißt; und dennoch wird er von den Furien in rastloser Qual von einem Ende der Erde zum andern verfolgt. – Sollte nicht hier eine irrige Theorie zum Grunde liegen, welche, um einem Widerspruch auszuweichen, in einen weit grösern sich verwickelt, und in der Verzweiflung, zwischen der theoretischen und praktischen Vernunft eine Harmonie zu stiften, das Interesse der einen an die andere verräth? – Man kann nicht sagen, daß blos die zu weit ausgedehnte Verbindung, welche die Vernunft, wie durch einen Machtspruch, zwischen Verbrechen und Strafe festsetzt, auf diese Theorie geleitet habe; denn gerade diese zu weite Ausdehnung wäre dem Zwecke der Idee selbst entgegen, weil die Vernunft entweder den Begriff von Strafwürdigkeit ganz aufgeben, oder mit eben der Nothwendigkeit, womit sie ihn überhaupt aufstellt, unvorsätzliche Handlungen davon ausnehmen muß. Es scheint vielmehr der Ursprung dieser befremdenden Vorstellungsart tiefer zu liegen, und vielleicht entdeckt sich auch hier wieder, daß unter der harten Schaale des Systems ein zarter Keim von Wahrheit verborgen lag, der zwar durch den Schutz des gemeinen und unverdorbenen Menschenverstandes vor der Zerstörung bewahrt, aber erst später durch die Pflege einer mit sich selbst einig gewordenen Philosophie zur Reife gebracht werden konnte.

Wird die Idee von Schicksal blos auf Naturbegebenheiten, ohne Rücksicht auf menschliche Handlungen, bezogen, so läßt sich ihr wohlthätiger Einfluß auf das menschliche Gemüth nicht verkennen. Soll sie nur dazu dienen, den Menschen bey den mannigfaltigen Übeln dieses Lebens zu beruhigen, so gebührt ihr wenigstens der Vorzug vor manchen, in neuern Zeiten beliebten Theodiceen, welche bald dadurch, daß sie alles Übel aus der Welt wegvernünfteln, dem natürlichen Gefühle Hohn sprechen, bald durch weitaussehende Berechnungen, die sich auf den unbegreiflichen Zusammenhang des Ganzen berufen, oder auf künftige Perioden des Daseyns verweisen, eine erkünstelte Ruhe hervorzubringen streben. Die Idee von einem nothwendigen Schicksal hingegen giebt der Seele eine männliche Festigkeit, welche jedes Sträuben gegen unvermeidliche Zufälle als kindisch verschmäht, und schweigend duldet, was nicht zu ändern ist; sie mäßigt den unbegränzten Anspruch auf Glückseligkeit, und bereitet dadurch der Vernunft, welche denselben der Bedingung der Würdigkeit unterwirft, ihren Weg zum menschlichen Herzen; sie erleichtert endlich jene erhabene Denkungsart, welche die Pflicht über alles achtet, und unter jedem Wechsel des Glücks, unter allem Ungemach, womit dieß Leben umringt ist, selbst unter Gefahren, welche die Vernichtung der sinnlichen Natur drohen, unsere Persönlichkeit ungebeugt erhält.

So vortheilhaft aber diese Idee für die Gründung einer immer gleichen Zufriedenheit, welche dem Weisen ziemt, und selbst für die Bildung einer der Sittlichkeit günstigen Seelenstimmung ist, so wenig scheint sie sich gleichwohl mit dem eigentlichen Interesse der moralischen Vernunft zu vertragen. Zwar stellt diese ihr Gesetz ganz unbedingt auf; sie bedarf weder zur Anerkennung noch selbst zur Ausübung desselben irgend einen Zweck, der ausser ihr liegt und durch jede Beymischung eines fremden Beweggrunds wird ihre selbstständige Würde beeinträchtigt. Handelte also der Mensch wirklich als reinmoralisches Wesen, wären nicht in ihm zwey Naturen vereinigt, deren Forderungen nicht aufgehoben, sondern nur einander untergeordnet, und in einer dem Endzwecke seines Daseyns angemessene Harmonie gesetzt werden sollen, so würde jene Idee, indem sie die Uneigennützigkeit und Reinheit der Gesinnung beförderte, der Sittlichkeit selbst eher günstig als nachtheilig seyn. Aber da bey allen Handlungen, selbst auch bey solchen, deren Bestimmungsgrund von allen durch sie möglichen Zwecken unabhängig seyn soll, Rücksicht auf ihren Erfolg für ein sinnlich-vernünftiges Wesen unumgänglich nöthig ist; so würde die Vorstellung einer blinden Nothwendigkeit, auf welche sich der Weltlauf gründete, die Achtung für das Gesetz selbst, so unbedingt dieses immer gebieten mag, und mithin auch seine Wirksamkeit auf den menschlichen Willen zerstören.

Es scheint daher kaum begreiflich, wie die Alten an ein blindes Schicksal glauben konnten, ohne zugleich das Interesse der moralischen Vernunft aufzugeben. Und in der That, hätten sie sich unter dem Schicksal wirklich eine völlig verstandlose Nothwendigkeit gedacht, wie man gewöhnlich, besonders durch Ausdrücke der Dichter verleitet, glaubt, so wäre jenes Interesse gar nicht zu retten gewesen. Die Vernunft mußte unter dieser Voraussetzung zwar nicht ihr Gesetz, aber doch die Erreichbarkeit ihres Endzwecks als einen schönen Traum aufgeben, weil der bloße Mechanismus der Natur keine Hoffnung auf Übereinstimmung mit den Ansprüchen der Freyheit übrig läßt. Aber dieser Idee strebte schon das ästhetische Gefühl entgegen; und eine Nation, welche für alles Schöne so empfänglich war, als die Griechen, hätte, wie es scheint, wenigstens mittelbar durch den Geschmack dagegen verwahrt werden können. Der Geschmack beurtheilt nämlich das Schöne sowohl in der Natur als Kunst nur vermittelst der Zweckmäßigkeit, welche ohne bestimmten Zweck vorgestellt wird. Nun setzt aber die Zweckmäßigkeit der Natur nothwendig die Zufälligkeit ihrer Formen voraus, und durch diese wird der Mechanismus blind wirkender Kräfte ausgeschlossen. Hierauf beruht auch in der That der wichtigste Theil des Wohlgefallens an der schönen Natur, worin sich auf eine wunderbare Weise dem Gemüth eine Aussicht in eine dem sittlichen Interesse günstige Ordnung der Dinge aufschließt. Gleichwohl würde der Ausspruch eines Gefühls, das auf einem blos subjectiven Grundsatz der reflectirenden Urtheilskraft beruht, sich gegen eine aus speculativen Gründen unwiderlegbare Theorie nicht behauptet haben, wenn nicht die praktische Vernunft ins Mittel getreten wäre, und ihr Recht, über Dinge, wohin keine Erfahrung reicht, die letzte entscheidende Stimme zu haben, geltend gemacht hätte. Diß geschah durch Aufstellung des Begriffs von Strafe. Indem die Vernunft durch diesen Begriff die Begebenheiten der Welt mit den freywilligen Handlungen der Menschen als Folgen verknüpfte, mußte sie zugleich die ursprüngliche Anordnung des Weltlaufs einer Causalität anvertrauen, welche nach andern als Naturgesetzen bestimmt wird. Die Begebenheiten selbst, soweit sie dem Verstand begreiflich sind, blieben dabey immer noch der gleichen Nothwendigkeit unterworfen, aber der letzte Grund derselben, der nicht mehr erscheint, der nur gedacht, nicht begriffen werden kann, wurde der Macht des Schicksals entzogen, und so die Vernunft bey den verschiedenen Äusserungen ihrer Thätigkeit, wo sie selbst Gesetze gibt, und wo sie den Verstand blos in Anwendung der ihm gegebenen leitet, mit sich selbst in Übereinstimmung gesetzt. Die Idee einer blinden Nothwendigkeit mußte nun diejenige Bedeutung annehmen, welche allein mit dem Interesse der moralischen Vernunft verträglich ist: jene Nothwendigkeit war eine blinde, das heißt, verstandlose Nothwendigkeit, nicht in soferne sie nach ihrem letzten Grund durch keinen Verstand, sondern nur insoferne sie durch keinen menschlichen oder diesem ähnlichen möglich gedacht wurde. Die unendliche Kette, welche alle Naturwesen zusammenhält, wurde an dem Throne der Gottheit befestigt; jenseits des Mechanismus der Sinnenwelt, wodurch jede Veränderung in der Zeit mit einer frühern nothwendig zusammenhängt, eröffnete sich der gläubigen Vernunft ein mit Weißheit entworfener Plan einer ewigen Vorsehung.

Wenn nun aber auf diese Art Gott zum Urheber des Schicksals gemacht wurde, wie läßt sich damit ein anderer Grundsatz ebendesselben Systems zusammenreimen, dieser nämlich: daß Gott selbst unter dem Schicksal steht? Was nützt es der Vernunft, den letzten Grund der Natur, und damit auch den Glauben an die Erreichbarkeit ihres höchsten Zwecks in eine übersinnliche Welt hinüber zu retten, wenn auch hier dieselbe Nothwendigkeit herrscht, welcher die Sinnenwelt gehorcht? – Wäre blos von den Göttern die Rede, womit der Volksglaube und eine dichterische Mythologie den Olymp bevölkert, so liesse sich die ganze Schwierigkeit dadurch lösen, daß man jene Götter als Agenten einer höhern Macht betrachtete, welche einen ihnen selbst unbekannten Plan nach unabänderlichen Gesetzen auszurichten hätten. Allein nach dem Lehrgebäude der Stoiker ist das Schicksal das Werk eines ewigen, denkenden und weisen Wesens, und dieses ewige, denkende und weise Wesen ist selbst wieder dem Schicksal unterworfen. Soll dieser Satz keinen Widerspruch in sich enthalten, so kann er sich blos darauf beziehen, daß der Urheber des Schicksals die stetige Naturkette nie unterbricht, und von den Wirkungen seines ersten Entschlusses, welcher, als der beste, nur dieser und kein anderer seyn konnte, nicht abweicht. Nur führt alsdann die Nothwendigkeit der Welt wiederum auf Nothwendigkeit in ihrem Urheber, und gleichwohl sprechen die Stoiker von dem Antheile des freyen Willens der Gottheit an dem Weltbau. Aber auch hier zeigt sich eine unverkennbare Spur der nach Einheit und Übereinstimmung mit sich selbst strebenden Vernunft. Die Anordnung des Schicksals ist das Werk der Freyheit, insoferne der absolute Grund der Naturnothwendigkeit nicht wieder in der Natur, sondern nur in der Freyheit enthalten seyn kann; aber diese Freyheit wird gleichfalls wieder als Nothwendigkeit gedacht, weil sie einem Wesen zukömmt, das, nach dem Ausdruck eines stoischen Weltweisen, selbst eine Nothwendigkeit ist.

Der Begriff der Strafe war es, den wir als Standpunkt annehmen, von welchem aus die Vernunft sich den Weg aus dem Gebiete der Natur in eine übersinnliche Welt eröffnete, um ihre eigene Causalität gegen die Gewalt des Schicksals sicher zu stellen. Strafe aber setzt ein Verbrechen, das heißt, eine willkührliche Übertretung des Gesetzes voraus, und läßt sich mithin nur auf solche Handlungen anwenden, welche wirklich mit Vorsatz und Bewußtseyn begangen worden sind. Wären auch diejenige illegale Handlungen, welche ganz von dem Einfluß eines unüberwindlichen Schicksals abhängen, der Strafe unterworfen, so würde die moralische Vernunft eine solche Einrichtung noch stärker misbilligen, als ein völlig planloses Spiel des Zufalls, worin gar keine Beziehung auf den Werth der menschlichen Handlungen zu entdecken wäre. Selbst in der dichterischen Darstellung mußte die Geschichte eines Unglücklichen, den eine unwiderstehliche Gewalt erst zum Verbrecher macht, und nachher für ebendiese Vergehungen mit schweren Strafen büssen läßt, für das sittliche Gefühl durchaus empörend seyn, wenn nicht etwa unter der Hülle der Fabel ein tieferer Sinn versteckt war, wodurch sich dem Gemüth eine für die Moralität wichtige Wahrheit in dunkler Ahnung offenbarte. In der That scheint dieser Geschichte eine Idee zum Grunde zu liegen, welche sich auf eines der schwersten Probleme für die philosophirende Vernunft bezieht, und wir finden hier vielleicht eine Auflösung desselben, die um so mehr unsrer Aufmerksamkeit würdig ist, da sie auf einem Weg unternommen wird, der gerade am weitesten vom Ziel abzuführen scheint, und gleichwohl mit derjenigen Bahn zusammentrifft, welche durch eine lange nachher entworfene Verzeichnung aller möglichen Directionen als die einzig richtige bestimmt worden ist.

Um die Natur-Nothwendigkeit mit der moralischen Freyheit in einem und ebendemselben Wesen, und sogar in einer und ebenderselben Handlung vereinigt zu denken, sieht sich die Vernunft genöthigt, in dem Menschen einen gedoppelten Charakter anzunehmen. Der eine kömmt ihm als Erscheinung zu; der andere gehört seiner höhern Natur an, die ihn zum Bürger einer übersinnlichen Welt macht. Insoferne seine Handlungen in der Zeit geschehen, stehen sie unter dem Gesetze der sinnlichen Natur, dem jede andere Begebenheit unterworfen ist. Aus diesem Gesichtspunkt erscheinen sie als Wirkungen einer höhern Macht, eines unüberwindlichen Schicksals, das allen Antheil der Willkühr ausschließt. In jedem Augenblick, da der Mensch handelt, findet er sich schon in einer bereits angefangenen Reyhe begriffen, worinn jede Äusserung seiner Thätigkeit durch etwas, was nicht mehr in seiner Gewalt stehen, nothwendig bestimmt ist. Wäre nun sein ganzes Daseyn in den engen Kreis der Naturwirkungen beschränkt, so würde die erhabene Idee von Freyheit mit allen darauf gebauten Begriffen zum leeren Traumbild heruntersinken. Selbst das Gefühl eigener, innerer Kraft könnte ihn nicht berechtigen, sich von der Naturkette losgefesselt zu glauben: es wäre die Täuschung einer mit Bewußtseyn begabten Maschine, welche ihre Bewegung für frey hält, weil’s ich dabey kein Stoß oder Druck von aussen, sondern nur die Kraft des eigenen Räderwerks wirksam zeigt. Sobald aber der Mensch das, was an ihm der Erscheinung angehört, von seinem eigentlichen Selbst insoferne dieses von den Gesetzen der Erscheinung unabhängig ist, unterscheidet, so gewinnt er einen Standpunkt, auf welchem die Naturnothwendigkeit keine Macht über ihn hat. Dann erst ist es ihm möglich, seine Handlungen als nothwendig in der Zeit bestimmt, und doch zugleich als Wirkungen der Freyheit ohne Widerspruch zu denken, und die sittliche Zurechnung wird nun durch die Erklärbarkeit jeder einzelnen Handlung aus dem, was ihr vorangieng, nicht aufgehoben, weil jene sich an ein Vermögen wendet, das über alle Zeitbedingungen erhaben und eine Reyhe von Wirkungen durch sich selbst anzufangen fähig ist.

Diese Unterscheidung des sinnlichen und übersinnlichen Charakters im Menschen findet sich auch wirklich durch die Aussprüche des moralischen Gemeinsinns bestätigt. Die klarste Einsicht in den Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen, wovon eine unerlaubte Handlung abhängt, vermag weder den Vorwurf des eigenen Gewissens noch die Strenge des fremden Urtheils zu mildern. Vor der richtenden Vernunft erscheint der Mensch immer als ein Wesen, dessen Existenz nicht in der Zeit bestimmbar ist, und in dieser Eigenschaft kann ihm keine Naturnothwendigkeit zu Statten kommen. Nichts anders als diese, dem sittlichen Gefühle so natürliche Vorstellungsart ist es auch, was die Geschichte des Ödipus sinnlich darstellt: die Vergehungen desselben sind in Umständen gegründet, welche nicht in seiner Gewalt stehen; dennoch wird er von den strafenden Göttern den Geisseln der Furien übergeben, nachdem ihm seine eigene Hand des Tageslichts, dessen er sich selbst für unwürdig hielt, beraubt hatte. Im Allgemeinen betrachtet, wird hier blos die Vereinbarkeit der moralischen Zurechnung mit dem nothwendigen Zusammenhange der Weltbegebenheiten in einem concreten Falle dargestellt. Nun ist es aber ein wesentliches Erfordernis der moralischen Zurechnung, daß eine Handlung mit Bewußtseyn und mit Kenntnis ihres Verhältnisses zum Gesetz unternommen sey. Ödipus hingegen wird Verbrecher, weil er die Personen, an welchen er sündigt, nicht kennt, und insoferne muß ihn die Vernunft von Schuld und Strafe freysprechen. Allein dieser Umstand gehört blos zur dichterischen Darstellung, welche einzig auf Erregung des Mitleids über das traurige Schicksal eines Unglücklichen berechnet ist; jene Vernunftidee, so wenig ihr das einzelne Beyspiel in seiner individuellen Bestimmung angemessen ist, behauptet im Allgemeinen doch ihre Realität, und ohne den geheimen Einfluß derselben würde die Geschichte nur empörend, nicht rührend seyn. Das moralische Gefühl findet sich befriedigt durch Versinnlichung des allgemeinen Satzes, daß die Freyheit des menschlichen Willens durch Naturnothwendigkeit nicht aufgehoben wird; die besondere Art, wie in dem einzelnen Falle diese Naturnothwendigkeit bestimmt ist, fällt in das Gebiet der Dichtkunst, welche auf die Empfindung zu wirken hat. Auf diese Art läßt es sich erklären, wie die Zuschauer des Griechischen Trauerspiels das schreckliche Ende des Ödipus als ein unglückliches Schicksal beweinen und doch zugleich als verdiente Strafe billigen konnten.

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