HomeDie Horen1796 - Stück 2III. Fortsetzung der Briefe über Poesie, Sylbenmaaß und Sprache. [Wilhelm Schlegel]

III. Fortsetzung der Briefe über Poesie, Sylbenmaaß und Sprache. [Wilhelm Schlegel]

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Vierter Brief.

Mit der Erfindung des Zeitmaaßes treten wir sogleich in ein ganz andres Gebiet hinüber. Was man vor derselben mit den Nahmen Gesang und Rang geehrt hat, ist nichts dem Menschen ausschliessend eigenthümliches; wenn er sich darin vor andern lebenden Geschöpfen auszeichnet, so ist es nicht der Art sondern höchstens dem Grade nach, und der Unterschied hat seinen Grund bloß in der Verschiedenheit seiner Organisazion von andern thierischen. Die Fähigkeit sich selbst zu bewegen hebt auf der Grenze an, wo das Pflanzenreich sich in das Thierreich verliert. Alle Bewegungen des Lebendigen sind aber von zweifacher Art: entweder verursacht sie eine Begierde oder das Gegentheil derselben; (wir haben kein schickliches Wort dafür, wo bloß von thierischer Natur die Rede ist: in die Ausdrücke Abneigung, Verabscheuung, ist schon zuviel Menschliches hineingetragen) oder Schmerz und Vergnügen drückt sich in ihnen aus. Sie lassen sich nicht weniger leicht unterscheiden, wenn sie auch, wie häufig geschieht, in demselben Augenblicke zusammentreffen. Jene haben eine bestimmte Richtung zu einem Gegenstande hin oder davon hinweg: etwas Äußres hat also auch nach Erregung der Begierde oder ihres Gegentheils, Einfluß darauf. Man kann sie mit den Bewegungen lebloser Körper vergleichen, welche durch Kräfte des Anziehens und Zurückstossens bewirkt werden. Diese hingegen erfolgen, wenn einmal ein gewisser Zustand des Schmerzens oder des Vergnügens da ist, ganz nach innern Gesetzen des körperliches Baues. Sie haben kein äußres Ziel, aber einen gemeinschaftlichen Mittelpunkt, wovon sie ausgehen, nähmlich das nach aussen hin wirkende Leben. Durch jene wird Befriedigung der Bedürfnisse und Vermeidung dessen betrieben, was Zerstörung droht oder zu drohen scheint; das Thier verrichtet dadurch die zur Erhaltung seines Daseyns nothwendigen Geschäfte. In diesen offenbaren sich keine Zustände, ohne daß es dabey auf Veränderung derselben abgesehen wäre. Sind sie schmerzlich, so haben die dadurch hervorgebrachten Äusserungen immer das Ansehen von etwas unwillkührlich erpresstem, wie sie es denn auch wirklich sind, weil kein Thier sich darein ergiebt zu leiden, ausser wenn es innrer Zerrüttung oder äußrer Gewalt durchaus nicht entfliehen kann. Die Bewegungen, welche aus Gefühlen des Wohlseyns und einem Überflusse an Lebenskraft entspringen, sind zwar eben so sehr ein blosses Spiel der Organe, und hängen von körperlichen Reizten ab, die unwiderstehlich auf die Muskeln wirken; aber sie schmeicheln uns mit einem täuschenden Schein von Freyheit, und es giebt nichts in der thierischen Welt, was dem menschlichen Genusse des Daseyns so ähnlich wäre. Der Hund begrüßt seinen Herrn, den er nach einiger Abwesenheit wiedersieht, durch tausend lebhafte Sprünge; das Füllen jagt sich muthwillig wiehernd auf der Weide herum; selbst das träge Rind, wenn es nach langem Aufenthalte in den Winterställen zum erstenmal wieder Frühlingsluft wittert, wird zu ungeschickt ausgelassenen Bewegungen und zu einem freudigen Brüllen erweckt. Was liegt wohl im Freudensprunge, im Jubelgeschrey des Wilden, so lange in beyden noch die ursprüngliche Regellosigkeit mit ihrem ganzen Ungestüm herrscht, das ein höheres Leben verriethe als das, welches er mit jenen Geschöpfen theilt? Ja es giebt Thiere, deren Organisazion sich noch viel weiter von der unsrigen entfernt, denen aber die Natur, weil sie nicht wie wir am Erdboden haften sollten, sondern für ein leichteres Element bestimmt waren, eine uns versagte behände und unermüdete Beweglichkeit verliehen hat, welche weit seltner ihren leicht befriedigten Bedürfnissen zu dienen, als ihnen an sich selbst ein feineres Ergötzen zu gewähren scheint. Von den Mücken, wenn sie in der Abendsonne spielen, sagen wir, sie tanzen; und das freye Umhergaukeln des Schmetterlings ist oft beneidet, und zum Sinnbilde eines erhöhten Daseyns erwählt worden.

Eben so verhält es sich mit dem Gebrauch der Stimme. Die meisten thierischen Laute gehören wohl zu den Bewegungen der zweyten Art, welche einen Zustand verkündigen, nicht zu jenen, wodurch etwas erreicht oder vermieden werden soll. Zwar scheinen sich manche Thiere allerley dadurch zu verstehen zu geben, einander herbeyzurufen, ja ganze Unterredungen zu halten. Indessen könnte man, ohne sich grade wie jener morgenländische Weise dafür auszugeben, man wisse die Sprache der Vögel zu deuten, doch wohl unternehmen, dergleichen Laute und die Antworten darauf, mit Ausschliessung alles Absichtlichen, bloß aus dem Antriebe eines gefühlten Bedürfnisses, und aus ähnlichen, durch die gehörte Stimme eines verwandten Thiers angeregten Reitzen zu erklären. Wie dem auch sey, betrachtet man die Bewegungen der Stimme nicht als Mittel, Gegenstände zu bezeichnen, sondern nur als Ausdruck innrer Zustände, worauf sie doch beym Gesange zurückgeführt werden, so fehlt so viel, daß der Mensch sich hierin eines angebohrnen Vorzugs rühmen könnte, daß er vielmehr nur durch eine Ausbildung, die er allein sich selbst zu geben vermag, und durch die fortgesetzte Übung vieler Geschlechter, sich die Biegsamkeit, den Umfang der Singstimmen, und das feine Gehör für das Harmonische in den Übergängen erwirbt, welche manchen Gattungen der Vögel ohne Unterricht eigen sind. Doch an künstlicher Schönheit des Gesanges mag der Mensch sie noch so weit übertreffen; die zarte Regsamkeit der Organisazion, wodurch bey ihnen allen Gefühlen der Lust und des Verlangens Stimme gegeben wird, so daß ihr innigstes Leben in der Kehle zu wohnen scheint, muß er an diesen kleinen Musen der thierischen Schöpfung bewundernd lieben, und kann dieselbe höchstens nur mit ihnen theilen.

An den Bewegungen der Glieder und der Stimme, wodurch der Mensch wirkliche Gefühle ausdrückt (von Nachahmung kann hier noch nicht die Rede seyn) ist also das Zeitmaaß das erste unterscheidende Kennzeichen seiner Natur. Daraus, daß auch manche Thiere an Beobachtung desselben gewöhnt werden können, folgt, wie wir gesehen haben, daß die Fähigkeit, Bewegungen in gemeßnen Zeiten vorzunehmen, auch im Menschen bloß der Organisazion angehört. Aber kein Thier beschränkt auf diese Weise von selbst, ohne menschliche Anleitungen, die Freyheit seiner gleichgültigen, geschweige dann seiner leidenschaftlichen Verrichtungen. Daraus folgt unwiderleglich, daß es durch kein Bedürfniß dazu getrieben wird. Da folglich das Bedürfniß, welches den Menschen allgemein auf Erfindung des Zeitmaaßes geleitet hat, unter allen mit ähnlichen Sinnen versehenen Geschöpfen von ihm allein gefühlt wird, so kann es nicht bloß körperlich seyn, sondern muß aus der ihm eigenthümlichen geistigen Beschaffenheit errühren. Wenn dich so trockne Erörterungen nicht ermüden, meine Freundin, so laß uns auf dem zurückgelegten einige Schritte umkehren, um dieß deutlicher zu entwickeln.

Ich schilderte dir in meinem vorigen Briefe die überwältigende Heftigkeit der Leidenschaft in rohen Gemüthern, und den starken Treib, sie in die wildesten Äußerungen zu ergießen, der selbst dem Gefühle gänzlicher Erschöpfung nicht nachgiebt. So schwer es uns fällt in solchen Ausschweifungen die Würde der Vernunft zu erkennen, so ist es doch unläugbar, daß der Mensch nur durch das, was ihn über die Thiere erhebt, derselben fähig wird. Thierische Leidenschaften werden bloß durch körperliche Antriebe erregt; sie werden daher auch durch dergleichen Antreibe von entgegengesetzter Art, sobald die letzten die stärkern sind, unfehlbar wieder aufgehoben. Nur solche Leidenschaften, die ein wahres Bedürfniß zum Ziele haben, können, wenn die Befriedigung verschoben wird, zu einer für das Thier selbst zerrüttenden Heftigkeit gelangen. Andre, wobey dieß nicht der Fall ist, zum Beyspiele, wenn ein Thier durch Neckereyen zum Zorne gereitzt worden, hören bald von selbst auf, befriedigt oder unbefriedigt, wenn der Gegenstand den Sinnen entrückt ist. Der Mensch hingegen ist mit seinem Daseyn nicht auf die Eindrücke des Augenblicks eingeschränkt. Er hat das Vermögen, Vorstellungen selbstthätig festzuhalten und zu erwecken. So wie darauf die ganze Entwickelung der menschlichen Erkenntnißkräfte beruht, so läßt sich auch ohne dasselbe keine Anlage zur Sittlichkeit denken. Ohne Vergleichung könnte der Verstand nicht urtheilen und der Wille nicht wählen. Aber lange ehe der Mensch von seinen Vorstellungen einen sittlichen Gebrauch machen, und sich durch ihr Gegengewicht wider alle sinnlichen Reize bey einem Vorsatze behaupten lernt, wirken sie sinnlich, und ihre ganze Macht wirft sich verstärkend auf die Seite der Leidenschaften. Diese beherrschen also, bis die Vernunft sie unter ihre Botmäßigkeit gebracht hat, den menschlichen Körper unumschränkt, da sie bey dem Thiere nur seinen Bedürfnissen oder seiner Sicherheit dienen, weswegen auch jede Zähmung derselben, wie nützlich der Mensch sie für seine Absichten mit den Thieren finden möge, als eine wahre Ausartung anzusehen ist. Wie frühe schon leidenschaftliche Vorstellungen über körperliche Empfindungen im Menschen die Oberhand gewinnen, darüber lassen sich an ganz kleinen Kindern die auffallendsten Beobachtungen machen. Wie oft lassen sie ihren Verdruß über ein weggenommenes Spielzeug, wodurch doch kein eigentliches Bedürfniß, sondern nur der Trieb nach Beschäftigung befriedigt wird, so laut und anhaltend ausbrechen, daß ihnen die Anstrengung sehr schmerzlich werden muß, und lassen dennoch nicht davon ab! Die Unart des Kindes und die Ausgelassenheit des wilden fließen aus Einer Quelle her; den ganzen Unterschied machen unentwickelte und entwickelte Organe, Mangel und Überfluß an Kräften.

Der Mensch nun, vermöge der Zusammensetzung seines Wesens, einem verderblichen Übermaaße in den Leidenschaften ausgesetzt ist, und bey dem ersten Erwachen seiner Freyheit unvermeidlich darein verfällt, so ist ihm eben dadurch aufgegeben, sie zu mäßigen, und Ordnung in seinem Innern zu erschaffen. Aber die gewaltigen Stürme des Gemüths, wodurch diese Foderung um so nothwendiger und dringender wird, verhindern den unerzognen Sohn der Natur sie anzuerkennen, ja sie nur zu vernehmen. Ungezügelte Freyheit ist sein höchstes Gut; in ihr genießt er das volle Gefühl seiner Kraft: wie sollte er nicht alles von sich weisen, was sich anmaaßt sie im geringsten einzuschränken? Der Mensch hätte also immerfort durch alle Zeiten im Stande der Wildheit verharren können, er hätte durchaus darin verharren müssen, wäre nicht die Natur selbst durch manche wohlthätige Kraft, die sie in ihm, und um ihn her verbarg, Vermittlerin zwischen seinen Sinnen und seiner Vernunft geworden. er nimmt die Hand nicht wahr, welche ihn leitet, und erst wann er von einer höhern Stufe der Bildung zurücksieht, erstaunt er in seinen frühen Träumen Vorbilder seiner theuersten Wahrheiten, in dem, was oft sein Spiel war, Vorübungen der ernsten Pflicht zu erkennen. Gesang und Tanz, die liebsten Beschäftigungen des Menschengeschlechts in seiner Kindheit, bieten ein Beyspiel hievon dar. Der Ausdruck der Leidenschaften wurde weit früher als sie selbst gebändigt. Das letzte hätte einen Vorsatz erfodert, welchen zu fassen das sinnliche Geschöpft noch ganz unfähig war; jenes geschah ohne ein absichtliches Wollen durch das Bedürfniß die anfangs unwillkührliche und instinktmäßige Beobachtung des Zeitmaaßes in ausdrückenden Bewegungen und Tönen stellte das Gleichgewicht zwischen Seele und Körper wieder her, welches durch die Übermacht wilder Gemüthsbewegungen und des gleich starken Triebes, sie auszulassen, aufgehoben worden war. Hatte der Mensch diese wohlthätige Wirkung erst einmal erfahren, so kehrte er natürlicher Weise bey jedem neuen Anlasse zu dem zurück, was sie ihm verschafft hatte und machte es sich zur Gewohnheit. Die geordnete Freyheit, die er in seinem Innern noch nicht kannte, mußte ihm doch in den äußern Verkündigungen desselben gefallen: er ahnete darin entfernt seine höhere Bestimmung. Indem er sich seiner Leidenschaft ungebunden hingab, schmeichelte ihm ein gemessener Rhythmus mit einer Art von Herrschaft über sie. Zwar stellt sich der Mensch in seinem ganzen äußern Thun so dar, wie es der Beschaffenheit und Lage seines Innern gemäß ist; allein diese innige Gemeinschaft zwischen Gefühl und Ausdruck ist nicht bloß einseitige Abhängigkeit. Der Ausdruck, wie sich jeder dieß leicht durch eigne Erfahrung bestätigen kann, wirkt nach innen zurück, und verändert das Gefühl selbst, wenn ihm eine fremde Ursache einen verschiednen Grad der Stärke, oder eine verschiedne Richtung gegeben hat. Auf solche Weise mußten Leidenschaften, indem ihre kräftigen Ausbrüche durch Einführung eines ordnenden Maaßes in Gesang und Tanz umgeschaffen wurden, ebenfalls gemildert werden.

Daß der Rhythmus gleich von den frühesten Zeiten nach seiner Entstehung diese Wirkung gehabt, darüber giebt es, wie sich von selbst versteht, keine historischen Nachrichten, und kann dergleichen nicht geben. Welches Alterthum viele Sagen der Völker auch von sich rühmen mögen, so sind sie doch gewiss alle viel spätern Ursprungs, und nur der Geist des Wunderbaren, welcher in ihnen herrscht, entrückt sie in jene dämmernde Ferne. Poesie wurde nachher das einzige Mittel wodurch jedes Geschlecht dem folgenden die Haupteindrücke seines Lebens als den köstlichsten Nachlaß übergab. In ihrer ersten Gestalt, wo sie noch nichts weiter war als unmittelbarer Ausbruch einer bestimmten, gegenwärtigen Leidenschaft, lebte sie selbst nicht länger als das, was ihr Odem gegeben hatte. Allein gesetzt auch, Überlieferung wäre schon möglich gewesen: wie hätte der Mensch, noch kaum zur Besinnung erwacht, der Rückkehr in sich selbst fähig seyn sollen, welche erfodert wurde, um sich von einer solchen allmähligen, nie von andern Gefühlen abgesonderten Wirkungen auf sein Innres Rechenschaft zu geben? Wie viel gehörte nicht dazu, bis er überhaupt nur so weit kam, zu sich selbst zu sagen, er habe eine Seele! Wir sehen es ja aus manchem Denkmahl alter oder wenig gebildeter Sprachen, daß Völker, unter denen schon viele andre Betrachtungen angestellt worden waren, immer noch große Mühe hatten, von der wollenden und denkenden Kraft, welche dem Menschen inwohnt, sich eine nur nicht gar verworrene Vorstellung, wie von einem körperlichen Werkzeuge zu machen. Indessen haben wir doch in einigen Mythen, welche die ersten Fortschritte des Menschengeschlechts bildlich erklären sollten, das gültigste Zeugniß, das man in einer Sache dieser Art verlangen kann. Die Anfänge des gesitteten Lebens werden mit der Erfindung der Musik zusammengestellt; die als Götter oder Herren verehrten Stifter beyder, Osiris und Isis bey den Ägyptiern, bey den Griechen vorzüglich Orpheus, sollen sich der Macht des Gesanges bedient haben, um die rohen Gemüther zu zähmen. Freylich läßt sich hievon auch eine andre nicht zu verwerfende Deutung geben, daß man nämlich ein so großes Wunder nicht sowohl dem Rhythmus der Lieder, als den Empfindungen, die aus ihnen athmeten, den Lehren, die sie vortrugen, zuschreibt. Aber alsdann verjüngt man diese Sagen gewissermaaßen, und betrachtet jene Nahmen, mit welchen eine religiöser Glaube nachher so viel allgemeines verflocht, als wirkliche Personen, deren Wohlthaten ihr Andenken auf die Nachwelt gebracht haben. denn damit sich einzelne Menschen unter ihren Mitbrüdern durch menschlicheres Gefühl und höhere Erkenntniß auszeichnen können, muß schon das ganze Geschlecht nicht mehr auf der untersten Stufe stehen. Der Gesang muß schon ein Gegenstand des Wohlgefallens geworden seyn, wenn durch seine Hülfe sanften Empfindungen, weisen Sprüchen Eingang verschafft werden soll. Die ältesten aller Erfindungen dankt das Menschengeschlecht Niemanden insbesondre: sie gehören seiner eignen Natur, und demnächst dem Himmel und der Erde an, insofern diese durch günstige Einflüsse ihrer Entwickelung zu Hülfe kamen. Der älteste Orpheus war wohl nirgends persönlich gegenwärtig: er wohnte überall verborgen im thierischen Menschen, und als er zum ersten Mahl göttlich hervortrat, und das wüste Toben der Leidenschaft durch melodischen Rhythmus fesselte und zähmte, konnte kein Ohr und kein Herz seiner Zaubergewalt widerstehen.

Der Trieb, Andre gleichsam in sein eignes Daseyn aufzunehmen, und wiederum in ihnen vervielfacht zu leben, der zwar nicht selbst die Fähigkeit zur Sprache ist, aber sie doch hervorgerufen hat, macht die eigentlich menschliche Grundlage der Geselligkeit aus, wie viel andre Umstände und Bedürfnisse auch dazu einladen oder nöthigen mögen. Schon in den frühesten Zeiten des geselligen Standes (und wann lebte der Mensch wohl völlig einsam?) mußte daher häufig der Fall kommen, daß dieselben Gefühle mehrere Gemüther zu gleicher Zeit bewegten, entweder weil einer sie den Übrigen durch sichtbaren und hörbaren Ausdruck mitgetheilt hatte, oder weil das, was sie hervorbrachte, alle gemeinschaftlich betraf. Das Beysammenseyn einer Anzahl von Menschen in leidenschaftlichem Zustande, von denen jeder sich ganz seiner Willkühr überlässt, muß auch dann, wann sie alle nach derselben Richtung hinstreben, unausbleiblich tumultuarisch werden. Man hat es ja häufig unter gesitteten Völkern erlebt, daß in solchen Fällen die Wahrheit Rasende machte, und der Patriotismus Gräuelthaten verübte. Es entsteht ein Chaos von Kräften, worin selbst das Gleichartige sich zu kennen aufhört und mit blinder Feindseligkeit gegen einander treibt. Will eine Versammlung ihrer würdig handeln, das heißt, nicht als roh zusammengehäufte Masse, sondern als ein Ganzes, von Einem Willen beseelt, so muß jeder Einzelne sich bis auf einen gewissen Grad seiner Freyheit entäußern, um dagegen von allen Übrigen vertreten zu werden. Der allgemeine Wille bedarf einer Stimme, die ihn rein und vernehmlich verkündige: wenn die Eintracht einer versammelten Menge nicht mit sinnlicher Gegenwart in ihrer Mitte erscheint, so ist sie so gut als nicht vorhanden. Gäbe es nun ein Mittel, wodurch viele Menschen sich im Ausdrucke derselben Empfindungen vereinigen könnten, ohne sich gegenseitig zu stören noch zu übertäuben, und wodurch bey einem noch so vielfachen, gewaltigen Wiederhalle des lauten Lebensodems doch alles Mißfällige vermieden würde: so müßte dabey die gemeinschaftliche Regung, durch die erklärte Theilnahme Aller bestätigt, sich zwar um so tiefer in die Gemüther pflanzen, aber es könnte nicht fehlen, der milde Sieg des geselligen Triebes über den selbstischen, würde ihre äußere Stürme um vieles besänftigen. Die Leidenschaften der einzelnen Glieder der Gesellschaft glichen alsdann nicht mehr wild laufenden Wassern, die beym geringsten Aufschwellen eine Überschwemmung verursachen müssen, sondern wären wie Bäche in einem Strom versammelt, und flössen in ihm zwar unaufhaltsam, doch um so ruhiger fort, je tiefer und breiter sein Bett geworden wäre. Ein solches Mittel ist aber Gesang und Tanz, sobald beyde durch das Zeitmaaß geordnet sind, denn das wird wesentlich erfodert, wenn man nicht bacchantisch durcheinander toben soll. Dieses könnte man als die zweyte Art ansehen, wie der Rhythmus, bloß als Gesetz der Bewegung betrachtet, den wilden Menschen ein wohlthätiger, gottlicher Orpheus ward. Er war es, der ausdrückende Gebährden und Töne, in denen sonst nur uneingeschränkte, hartnäckige Willkühr geherrscht, an ein friedliches Nebeneinanderseyn gewöhnte, sie zum Bande der Geselligkeit und zugleich zu ihrem schönsten Sinnbilde umschuf. Kein Wunder also, wenn Gesang und Tanz unter wenig gebildeten Völkern von jeher die Seele aller Zusammenkünste war, und noch ist. Ein gemischter Haufe wird dadurch in Chöre gesondert und gereiht.

Daß diese menschlich natürlichen Künste Sache der Gesellschaft wurden, konnte und mußte zum Theil auf ihre weitere Bildung den entschiedensten Einfluß haben. Zuverläßig beschränkte es zuvörderst ihre ursprüngliche Freyheit, und fügte zu dem, worin man ohne Absicht, fast ohne Bewußtseyn übereinstimmte, äußerliche Gesetze der Übereinkunft und des Herkommens hinzu. Um Verwirrung zu vermeiden war eine gewisse Anordnung, besonders beym Tanze, unentbehrlich; und da diese nicht im Wesen des Alle beseelenden Gefühls lag, so gewann der Verstand dabey Raum, besonnener zu verfahren, zu wählen und das an sich Gleichgültige allmählig mit dem Gefallenden zu vertauschen. Das Verlangen nach diesem ist so tief und wesentlich im Menschen gegründet, daß er es fast eben so früh zu offenbaren anfängt, als er Erzeugnisse der Natur für irgend einen Zweck benutzt. Es genügt ihm nicht, daß sein Werkzeug diesen erreiche: er will sich gern durch etwas höheres als Schöpfer darin erkennen. Der Bogen des Wilden muß nicht bloß in die Ferne treffen; das Holz oder Horn, woraus er verfertigt ist, muß auch zierlich geschnitzt und geglättet seyn. Bald wird die Aussenseite seines eignen Körpers ihm ein Gegenstand dieses künstlerischen Triebes: Putz war überall, ausgenommen in ganz rauhen Himmelsstrichen, das frühere Bedürfniß, und bedeckende Kleidung nur ein späterer Fortschritt zur Üppigkeit. Mag uns der Putz der Wilden (so schelten wir einander Nationenweise, sagt ein wackrer Forscher, ohne daß einmahl jemand so keck oder so billig wäre, zu sagen, was ein Mensch und was ein Wilder sey) noch so abentheuerlich, widersinnig, ja abscheulich vorkommen; das eigenthümliche Gepräge unsrer Natur, welches ihm seine Bestimmung giebt, kann zwar darin entstellt, aber nie ganz ausgelöscht werden. Im Wohlgefallen an vermeyntlich schönem Zierrath, und in dem Vermögen der Einbildungskraft, ihn zu erfinden, liegen die edelsten Künste, die sich je unter geistreichen Völkern bis zur Reife entfaltet haben, wie in ihrem Keime beschlossen. Man glaube auch nicht etwa, daß eine beträchtliche Höhe der Ausbildung dazu gehöre, ehe diese Anlagen wirksam werden können, weil wir im gesitteten Europa unter den geringeren Ständen oft jede Spur davon vermissen. Wenn durch eine drückende Lage das freye Spiel der Kräfte, und mit ihm zugleich der wohlthätige Einfluß der Natur gehemmt wird, ohne daß die Vortheile der Verfeinerung zum Ersatz dafür dienen, so wird der Mensch dadurch in einen Stand der Barbarey zurückgeworfen, dem ungebundne, kräftige Wildheit gewiß weit vorzuziehen ist.

Doch ich kehre von dieser kleine Abschweifung zurück. Das erste Aufdämmern des vorher schlafenden Triebes nach Schönheit eröffnet wieder eine ganz neue, weite Aussicht künftiger Entwickelungen der drey rhythmischen Künste. Die Seele fing an sich im Ausdrucke ihrer Gefühle, wenigstens solcher, die nicht geradezu schmerzlich sind, zu gefallen, und wiederhohlte ihn daher gern, auch wenn das Bedürfniß, was sie anfangs dazu gedrungen hatte, schon gestillt war. Nun erst wurde also Tanz und Gesang als Ergötzung getrieben. Es mußte endlich dahin kommen, daß man sich durch Hülfe der Phantasie freywillig aus einem ruhigen Zustande in lebhafte Regungen versetzte. So entstand eigentliche Dichtung; so kam Nachahmung zum Vorschein; denn alles Vorhergehende war reine, unvermischte Wahrheit gewesen.

Du wirst bemerkt haben, liebe Freundin, daß ich im Gange aller obigen Betrachtungen zwey Sätze ohne Beweis angenommen und stillschweigend zum Grunde gelegt, weil sie mir von selbst einzuleuchten schienen. Erstlich: Poesie sey ursprünglich von der Art gewesen, die man in der Kunstsprache lyrisch nennt. Zweytens: man habe sie immer unvorbereitet nach der Eingebung des Augenblicks gesungen; mit einem Ausdrucke, der uns Deutschen wie die Sache selbst fremd ist, improvisirt. Was jenes betrifft, so erinnre ich hier nur mit wenigen Worten, daß dem empfindenden Wesen sein eigner Zustand das Nächste ist; daß der Geist der Dinge zuerst nur in ihrer Beziehung auf diesen wahrnimmt, und schon zu einer sehr hellen Besonnenheit gediehen seyn muß, um seine Betrachtung derselben, wenn ich sagen darf, ganz aus sich heraus zu stellen. Durch welche Veranlassungen und auf welchen Wegen die andern Gattungen, die in der lyrischen eingewickelt lagen, sich in der Folge von ihr gesondert, erzähle ich dir ein andres Mahl. Vorbereitung läßt sich ohne Absicht nicht denken: und wie sollte diese bey den ältesten Gesängen, Kindern der Leidenschaft und des Bedürfnisses Statt gefunden haben? Das Natürliche geht immer vor dem Künstlichen her. Zu der Zeit, da noch alle Menschen dichteten, waren die Dichter wohl nicht so ängstlich für die Ewigkeit ihrer Werke besorgt, als heut zu Tage: das Lied, das auf ihren Lippen gebohren ward, starb auch in demselben Augenblicke. Es dem Gedächtnisse einzuprägen, konnte ihnen schwerlich einfallen, eben so wenig als wir alle Worte, in der Hitze eines leidenschaftlichen Gesprächs ausgeschüttet, aufzubewahren gedenken. Das gemeinschaftliche Singen gab vielleicht auch hiezu den ersten Anlaß. Sollte der Chor wiederhohlen, was Einer vorgesungen hatte, so mußte er sich Worte und Melodie wenigstens für so lange merken; das Gedächtniß wurde mit ins Spiel gezogen, wie gering auch der Dienst seyn mochte, den man ihm anfangs zumuthete. Doch dieß läßt sich auch aus einer andern Ursache ableiten. Die Sprache war so äußerst arm an Worten und Wendungen, der Kreis der Vorstellungen so enge gezogen, daß man nicht vermeiden konnte, häufig auf eben dasselbe zurückzukommen. Wenige Ausrufungen hießen schon ein Lied: sei genügten dem einfältigen Herzen, erschöpften aber auch den ganzen Reichthum des kindischen Geistes. Oft gesungen, blieben sie natürlich samt ihren Anordnungen im Gedächtnisse hängen, und boten sich bey einer ähnlichen Gelegenheit von selbst wieder dar.

Um deine Geduld zu belohnen, liebste Amalie, wenn du diesen Brief, ohne etwas zu überspringen, bis zu Ende gelesen hast, füge ich etwas hinzu, worüber du wenigstens einen Augenblick lächeln magst; ein paar Proben von Poesie, welche ein Weltumsegler aus der Südsee zurückgebracht. Folgendes Lied dichteten einige Neuseeländer aus dem Stegereif, als sie den Tod eines ihnen befreundeten Taheitiers erfuhren:

Aeghih, matte, ah wäh, Tupaia!
Gegangen, todt! O weh! tupaia!

Das zweyte ist fröhlicher. Die Taheitierinnen begrüßen damit ihre Göttin O-Hinna, die nach ihrem Glauben in den Flecken des Mondes wohnt:

Te-Uwa no te malama,
Te-Uwa te hinarro.

Dem Monde ist doch von jeher in allen Landen viel artiges gesagt worden. Lebe wohl!

Die Fortsetzung folgt.

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