HomeDie Horen1797 - Stück 10XV. Die Begegnung. [Friedrich Schiller]

XV. Die Begegnung. [Friedrich Schiller]

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Noch sah ich sie, umringt von ihren Frauen,
Die herrlichste von allen stand sie da,
Wie eine Sonne war sie anzuschauen,
Ich stand von fern und wagte mich nicht nah,
Es faßte mich mit wollustvollem Grauen,
Als ich den Glanz vor mir verbreitet sah,
Doch schnell, als hätten Flügel mich getragen,
Ergriff es mich, die Saiten anzuschlagen.

Was ich in jenem Augenblik empfunden,
Und was ich sang, vergebens sinn‘ ich nach,
Ein neu Organ hatt‘ ich in mir gefunden,
Das meines Herzens heilge Regung sprach,
Die Seele wars, die Jahre lang gebunden,
Durch alle Fesseln jezt auf einmal brach,
Und Töne fand in ihren tiefsten Tiefen,
Die ungeahnt und göttlich in ihr schliefen.

Und als die Saiten lange schon geschwiegen,
Die Seele endlich mir zurüke kam,
Da sah ich in den engelgleichen Zügen
Die Liebe ringen mit der holden Schaam,
Und alle Himmel glaubt‘ ich zu erfliegen,
Als ich das leise süsse Wort vernahm –
O droben nur in selger Geister Chören
Werd ich des Tones Wohllaut wieder hören!

Das treue Herz, das trostlos sich verzehrt,
Und still bescheiden nie gewagt zu sprechen,
Ich kenne den ihm selbst verborgnen Werth,
Am rohen Glük will ich das Edle rächen.
Dem Armen sey das schönste Loos bescheert,
Nur Liebe darf der Liebe Blume brechen.
Der schönste Schaz gehört dem Herzen an;
Das ihn erwiedern und empfinden kann.

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