Charakterisierung der Johanna, Zeichnung von Friedrich Pecht

Johanna, Charakter aus dem Schiller-Drama Die Jungfrau von Orleans, Zeichnung von Friedrich Pecht, 1859

Johanna, Charakter aus dem Schiller-Drama „Die Jungfrau von Orleans“, Zeichnung von Friedrich Pecht, 1859

Charakterisierung der Johanna

aus der „Schiller-Galerie“, 1859



So ohne ihresgleichen ist die Erscheinung dieses begeisterten Mädchens in der Geschichte, dass sie darum heute noch einen Gegenstand des Nachdenkens und der Bewunderung für den Staatsmann und Politiker ausmacht, wie des Enthusiasmus und der vollkommen gerechtfertigten Verehrung für jedes gefühlvolle Herz. Alle Aufhellungen, die dieser merkwürdigen Episode in der französischen Geschichte seither geworden sind, haben nur dazu gedient, den Eindruck des Wunderbaren nicht nur zu verstärken, sondern auch Schillers Auffassung der Johanna vollständig zu rechtfertigen, gegenüber der wahrhaft widerwärtigen Art, wie einzelne ihrer eigenen Landsleute sie zu einem Gegenstand des frivolsten Witzes, des gemeinsten Spottes gemacht haben, und besonders Voltaire sich ein vernichtendes Zeugnis seiner niedrigen Denkungsart in seiner berüchtigten Behandlung der „Pucelle“ ausstellte.
Die neuem geschichtlichen Forschungen bestätigen also, wie bemerkt, die Schiller’sche Darstellung der Jugendzeit, der wahrscheinlichen innern Entwickelung des Mädchens durchaus. Wir treffen sie in der Einsamkeit des Hirtenlebens, dessen Isolierung das Gemüt so sehr zum Nachdenken, zur Vertiefung in sich selber, zur Schwärmerei einladet, aufgewachsen, da ist sie jener hohen Begeisterung, jener glühenden Ekstase fähig geworden, ist ferner in der Notwendigkeit gewesen, bei ihrer Schutzlosigkeit in dieser Öde den verwegensten Mut auszubilden. Sie prangt in der Fülle der Jugend, der eben entfalteten Schönheit, ist in das Alter eingetreten, wo über das Schicksal der Jungfrau entschieden wird, wo sich ein unbestimmter Drang in ihr regt, der entweder wie bei der Mehrzahl der Frauen in der Liebe seine Erfüllung findet, oder bei einzelnen sich mit grenzenloser Begeisterung einem idealen Interesse, in gewöhnlichen Zeiten meist dem der Religion hingibt. Bei Johannas hochfliegendem Geiste musste der letztere Fall eintreten, die Neigung und also auch das Auftreten von Visionen lag bei solcher Seelenstimmung wohl ganz nahe, da aber musste sich ihre Erscheinung notwendig an das knüpfen, was ihre Seele am meisten bewegte. Dass zu der Zeit das dumpfe Tosen der Stürme, die ihr Vaterland durchrasten, auch endlich an ihr Ohr drang, ihr Herz mit energischem Hasse gegen die fremden Unterdrücker füllte, ist vollkommen begreiflich, nicht minder als die ungeheuere Wirkung, die er in diesem Gemüte, das nur noch einen Gegenstand für seine Begeisterung suchte, ausüben konnte.

In diese einfache und großartige Natur fiel der Gedanke an die Not des Vaterlandes wie ein Funke, der ihr ganzes Innere in Flammen setzte, das nur ein würdiges Ziel gebraucht hatte, um sich zur größten Ekstase zu erheben, in der sie ihren Angehörigen, deren Seelen nicht gleichen Schwunges fähig, wie ein Rätsel erscheinen musste. Einem aufgeregten, von Natur aus schon heroischen Gemüte lag der Wunsch, des Vaterlandes Befreiung zu versuchen, durchaus nicht so fern, sowenig als dass aus diesem Wunsche die Träume und Gesichte der Nacht eine Vokation, — eine Pflicht machten.

Dass die plötzliche Erscheinung der begeisterten Jungfrau aber bei einem Volke, welches jederzeit des Umschlags in den größten Enthusiasmus aus der äußersten Mutlosigkeit und umgekehrt fähig war, umso mehr zünden musste, wenn sie eben dann auftrat, als die letztere, erzeugt durch das unentschlossene Benehmen des Königs, ihren höchsten Grad schon überschritten hatte, die durch langes Missgeschick entmutigte Nation, durch den Druck und die Schande aufs höchste gereizt, sich bereits wieder sagte:

Nichtswürdig ist die Nation, die nicht
Ihr Alles freudig setzt an ihre Ehre —

dies alles ist, wenn auch merkwürdig und im höchsten Grade interessant, doch keineswegs unerklärlich. Im Gegenteil, dass sie bei dieser ersten Überraschung den Umschlag in diesen Enthusiasmus, der alles vor sich niederwarf, bewirken konnte, ist um so erklärlicher, als zahlreiche Weissagungen aller Art die Geister der Masse nicht nur, sondern auch der Gebildeten auf eine solche wunderbare Erscheinung vorbereitet hatten.
Indem Johanna aber zugleich fühlt, dass sie durch diese kriegerische Mission aus dem Kreise ihres Geschlechts heraustritt, liegt der Gedanke ihr doppelt nahe, entspricht vollkommen der Denkungsart der Zeit, dass dies nur zu sühnen sei, indem sie, als Gott geweiht, der irdischen Liebe zu entsagen habe. Es ist weiter der feste Glaube an ihre Mission, wenn sie sich verpflichtet fühlt, keinen Feind zu schonen, und ohne Gewissensbisse auch den Knaben Montgomery niederstößt; wie sie denn demselben gegenüber den Glauben an ihre Verpflichtung zur Schonungslosigkeit auch ausspricht:

Ich bin nur eine Jungfrau, eine Schäferin
Geboren; nicht des Schwerts gewohnt ist diese Hand,
Die den unschuldig frommen Hirtenstab geführt.
Doch, weggerissen von der heimatlichen Flur,
Von Vaters Busen, von der Schwestern lieber Brust,
Muss ich hier, ich muss — mich treibt die Götterstimme‚ nicht
Eignes Gelüsten — euch zu bitterm Harm, mir nicht
Zur Freude, ein Gespenst des Schreckens, würgend gehn,
Den Tod verbreiten und sein Opfer sein zuletzt!
Denn nicht den Tag der frohen Heimkehr werd’ ich sehn —

so empfindet sie auch, nachdem sie so vollständig und unwiderruflich aus der Stellung gewöhnlicher Frauen herausgetreten ist, dass sie nicht wieder dahin zurückkehren kann, dass sie nicht nur Opfer schlachten, sondern auch selber eins werden muss. Als dieses verleugnete weibliche Herz aber doch seine Rechte geltend macht, wenn ihr die Liebe bei Lionels Anblick naht, so verwirrt sie diese Empfindung, erscheint ihr als Schuld:

Wer? Ich? Ich eines Mannes Bild
In meinem reinen Busen tragen?
Dies Herz, von Himmelsglanz erfüllt,
Darf einer ird’schen Liebe schlagen?
Ich, meines Landes Retterin,
Des höchsten Gottes Kriegerin,
Für meines Landes Feind entbrennen?

Jedwede Aufregung, wie die, welche Johanna emporgetragen und das Volk mit ihr, macht einer Ernüchterung Platz, wenn ihr Ziel erreicht ist; als die Wirkung dieser notwendigen Reaktion haben wir nach dem Einzug in Rheims am Ziel des Siegs die Anklage des eigenen Vaters, die Undankbarkeit des Hofs anzusehen, während Johannas eigenes Schuldbewusstsein sie verhindert, rasch der Anklage zu widersprechen, sie an der eigenen Mission zweifeln lässt, eben gerade nach dem Eintreten des Moments, wo ihre Wirkung sich am glänzendsten bewahrt hatte, weil, nachdem sie einmal aus der Natur herausgetreten‚ sie die Rückkehr derselben als einen Widerspruch, es als eine Untreue empfindet, wenn sie ihr unterliegt. Dieselbe Ernüchterung rings um sich gewahrend, wird sie noch mehr irre an sich: was ihr eben noch als Vokation Gottes erschienen war, scheint ihr jetzt selbst wenn auch kein Blendwerk des Teufels, doch wenigstens die Anklage und Verdammung eine Prüfung, die sie als Busse ertragen müsse.
Wie das ganze Volk, findet auch sie den Glauben an ihre hohe Mission erst in seiner ganzen Stärke wieder, als die Not, die drängende, von neuem naht, da überkommt sie aber die alte Begeisterung sofort wieder, die sie zum Siege und in den Tod führt, wo sie noch einmal das Gefühl der wiedergefundenen Übereinstimmung mit sich selber selig ausspricht:

Nein, ich bin keine Zauberin! Gewiss,
Ich bin’s nicht. …
— Ja, jetzt erkenn’ ich deutlich alles wieder!
Das ist mein König! Das sind Frankreichs Fahnen!
Doch meine Fahne seh’ ich nicht. — Wo ist sie?
Nicht ohne meine Fahne darf ich kommen;
Von meinem Meister ward sie mir vertraut:
Vor seinem Thron muss ich sie niederlegen;
Ich darf sie zeigen, denn ich trug sie treu.