HomePhilosophische SchriftenÜber die nothwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen

Über die nothwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen

Bewertung:
(Stimmen: 3 Durchschnitt: 5)

Der Mißbrauch des Schönen und die Anmaßungen der Einbildungskraft, da, wo sie nur die ausübende Gewalt besitzt, auch die gesetzgebende an sich zu reißen, haben sowohl im Leben als in der Wissenschaft so vielen Schaden angerichtet, daß es von nicht geringer Wichtigkeit ist, die Grenzen genau zu bestimmen, die dem Gebrauch schöner Formen gesetzt sind. Diese Grenzen liegen schon in der Natur des Schönen, und wir dürfen uns bloß erinnern, wie der Geschmack seinen Einfluß äußert, um bestimmen zu können, wie weit er denselben erstrecken darf.

Die Wirkungen des Geschmacks, überhaupt genommen, sind, die sinnlichen und geistigen Kräfte des Menschen in Harmonie zu bringen und in einem innigen Bündniß zu vereinigen. Wo also ein solches inniges Bündniß zwischen der Vernunft und den Sinnen zweckmäßig und rechtmäßig ist, da ist dem Geschmack ein Einfluß zu gestatten. Gibt es aber Fälle, wo wir, sei es nun, um einen Zweck zu erreichen, oder sei es, um einer Pflicht Genüge zu thun, von jedem sinnlichen Einfluß frei und als reine Vernunftwesen handeln müssen, wo also das Band zwischen dem Geist und der Materie augenblicklich aufgehoben werden muß, da hat der Geschmack seine Grenzen, die er nicht überschreiten darf, ohne entweder einen Zweck zu vereiteln oder uns von unserer Pflicht zu entfernen. Dergleichen Fälle gibt es aber wirklich, und sie werden uns schon durch unsere Bestimmung vorgeschrieben.

Unsere Bestimmung ist, uns Erkenntnisse zu erwerben und aus Erkenntnissen zu handeln. Zu beiden gehört eine Fertigkeit, von dem, was der Geist thut, die Sinne auszuschließen, weil bei allem Erkennen vom Empfinden und bei allem moralischen Wollen von der Begierde abstrahiert werden muß.

Wenn wir erkennen, so verhalten wir uns thätig, und unsere Aufmerksamkeit ist auf einen Gegenstand, auf ein Verhältniß zwischen Vorstellungen und Vorstellungen gerichtet. Wenn wir empfinden, so verhalten wir uns leidend, und unsere Aufmerksamkeit (wenn man es anders so nennen kann, was keine bewußte Handlung des Geistes ist) ist bloß auf unsern Zustand gerichtet, insofern derselbe durch einen empfangenen Eindruck verändert wird. Da wir nun das Schöne bloß empfinden und nicht erkennen, so merken wir dabei auf kein Verhältniß desselben zu andern Objekten, so beziehen wir die Vorstellung desselben nicht auf andere Vorstellungen, sondern auf unser empfindendes Selbst. An dem schönen Gegenstand erfahren wir nichts, aber von demselben erfahren wir eine Veränderung unsers Zustands, davon die Empfindung der Ausdruck ist. Unser Wissen wird also durch Urtheile des Geschmacks nicht erweitert, und keine Erkenntniß, selbst nicht einmal von der Schönheit, wird durch die Empfindung der Schönheit erworben. Wo also Erkenntniß der Zweck ist, da kann uns der Geschmack, wenigstens direkt und unmittelbar, keine Dienste leisten; vielmehr wird die Erkenntniß gerade so lange ausgesetzt, als uns die Schönheit beschäftigt.

Wozu dient denn aber nun, wird man einwenden, eine geschmackvolle Einkleidung der Begriffe, wenn der Zweck des Vortrags, der doch kein anderer sein kann, als Erkenntniß hervorzubringen, vielmehr dadurch gehindert als befördert wird?

Zur Ueberzeugung des Verstandes kann allerdings die Schönheit der Einkleidung eben so wenig beitragen, als das geschmackvolle Arrangement einer Mahlzeit zur Sättigung der Gäste, oder die äußere Eleganz eines Menschen zu Beurtheilung seines innern Werths. Aber eben so, wie dort durch die schöne Anordnung der Tafel die Eßlust gereizt und hier durch das Empfehlende im Aeußern die Aufmerksamkeit auf den Menschen überhaupt geweckt und geschärft wird, so werden wir durch eine reizende Darstellung der Wahrheit in eine günstige Stimmung gesetzt, ihr unsre Seele zu öffnen, und die Hindernisse in unserm Gemüth werden hinweggeräumt, die sich der schwierigen Verfolgung einer langen und strengen Gedankenkette sonst würden entgegengesetzt haben. Es ist niemals der Inhalt, der durch die Schönheit der Form gewinnt, und niemals der Verstand, dem der Geschmack beim Erkennen hilft. Der Inhalt muß sich dem Verstand unmittelbar durch sich selbst empfehlen, indem die schöne Form zu der Einbildungskraft spricht und ihr mit einem Scheine von Freiheit schmeichelt.

Aber selbst diese unschuldige Nachgiebigkeit gegen die Sinne, die man sich bloß in der Form erlaubt, ohne dadurch etwas an dem Inhalt zu verändern, ist großen Einschränkungen unterworfen und kann völlig zweckwidrig sein, je nachdem die Art der Erkenntniß und der Grad der Ueberzeugung ist, die man bei Mittheilung seiner Gedanken beabsichtet.

Es gibt eine wissenschaftliche Erkenntniß, welche auf deutlichen Begriffen und erkannten Principien ruht, und eine populäre Erkenntniß, welche bloß auf mehr oder weniger entwickelte Gefühle sich gründet. Was der letztern oft sehr beförderlich ist, kann der erstern geradezu widerstreiten.

Da, wo man eine strenge Ueberzeugung aus Principien zu bewirken sucht, da ist es nicht damit gethan, die Wahrheit bloß dem Inhalt nach vorzutragen, sondern auch die Probe der Wahrheit muß in der Form des Vortrags zugleich mit enthalten sein. Dies kann aber nichts anders heißen, als, nicht bloß der Inhalt, sondern auch die Darlegung desselben muß den Denkgesetzen gemäß sein. Mit derselben strengen Nothwendigkeit, mit welcher sich die Begriffe im Verstand an einander schließen, müssen sie sich auch im Vortrag zusammenfügen, und die Stetigkeit in der Darstellung muß der Stetigkeit in der Idee entsprechen. Nun streitet aber jede Freiheit, die der Imagination bei Erkenntnissen eingeräumt wird, mit der strengen Nothwendigkeit, nach welcher der Verstand Urtheile mit Urtheilen und Schlüsse mit Schlüssen zusammenkettet. Die Einbildungskraft strebt, ihrer Natur gemäß, immer nach Anschauungen, d. h. nach ganzen und durchgängig bestimmten Vorstellungen, und ist ohne Unterlaß bemüht, das Allgemeine in einem einzelnen Fall darzustellen, es in Raum und Zeit zu begrenzen, den Begriff zum Individuum zu machen, dem Abstrakten einen Körper zu geben. Sie liebt ferner in ihren Zusammensetzungen Freiheit und erkennt dabei kein andres Gesetz als den Zufall der Raum- und der Zeitverknüpfung; denn diese ist der einzige Zusammenhang, der zwischen unsern Vorstellungen übrig bleibt, wenn wir alles, was Begriff ist, was sie innerlich verbindet, hinwegdenken. Gerade umgekehrt beschäftigt sich der Verstand nur mit Theilvorstellungen oder Begriffen, und sein Bestreben geht dahin, im lebendigen Ganzen einer Anschauung Merkmale zu unterscheiden. Weil er die Dinge nach ihren innern Verhältnissen verknüpft, die sich nur durch Absonderung entdecken lassen, so kann der Verstand nur insofern, als er vorher trennte, d. h. nur durch Theilvorstellungen, verbinden. Der Verstand beobachtet in seinen Combinationen strenge Nothwendigkeit und Gesetzmäßigkeit, und es ist bloß der stetige Zusammenhang der Begriffe, wodurch er befriedigt werden kann. Dieser Zusammenhang wird aber jedesmal gestört, so oft die Einbildungskraft ganze Vorstellungen (einzelne Fälle) in diese Kette von Abstraktionen einschaltet und in die strenge Nothwendigkeit der Sachverknüpfung den Zufall der Zeitverknüpfung mischt. Es ist daher unumgänglich nöthig, daß da, wo es um strenge Consequenz im Denken zu thun ist, die Imagination ihren willkürlichen Charakter verleugne und ihr Bestreben nach möglichster Sinnlichkeit in den Vorstellungen und möglichster Freiheit in Verknüpfung derselben dem Bedürfniß des Verstandes unterordnen und aufopfern lerne. Deßwegen muß schon der Vortrag darnach eingerichtet sein, durch Ausschließung alles Individuellen und Sinnlichen jenes Bestreben der Einbildungskraft niederzuschlagen und sowohl durch Bestimmtheit im Ausdruck ihrem unruhigen Dichtungstrieb, als durch Gesetzmäßigkeit im Fortschritt ihrer Willkür in Combinationen Schranken zu setzen. Freilich wird sie sich nicht ohne Widerstand diesem Joch unterwerfen; aber man rechnet hier auch billig auf einige Selbstverleugnung und auf einen ernstlichen Entschluß des Zuhörers oder Lesers, um der Sache willen die Schwierigkeiten nicht zu achten, welche von der Form unzertrennlich sind.

Wo sich aber ein solcher Entschluß nicht voraussetzen läßt, und wo man sich keine Hoffnung machen kann, daß das Interesse an dem Inhalt stark genug sein werde, um zu dieser Anstrengung Muth zu machen, da wird man freilich auf Mittheilung einer wissenschaftlichen Erkenntniß Verzicht thun müssen, dafür aber in Ansehung des Vortrags etwas mehr Freiheit gewinnen. Man verläßt in diesem Falle die Form der Wissenschaft, die zu viel Gewalt gegen die Einbildungskraft ausübt und nur durch die Wichtigkeit des Zwecks kann annehmlich gemacht werden, und erwählt dafür die Form der Schönheit, die, unabhängig von allem Inhalt, sich schon durch sich selbst empfiehlt. Weil die Sache die Form nicht in Schutz nehmen will, so muß die Form die Sache vertreten.

Der populäre Unterricht verträgt sich mit dieser Freiheit. Da der Volksredner oder Volksschriftsteller (eine Benennung, unter der ich jeden befasse, der nicht ausschließend an den Gelehrten sich wendet) zu keinem vorbereiteten Publikum spricht und seine Leser nicht wie der andere auswählt, sondern sie nehmen muß, wie er sie findet, so kann er auch bloß die allgemeinen Bedingungen des Denkens und bloß die allgemeinen Antriebe zur Aufmerksamkeit, aber noch keine besondere Denkfertigkeit, noch keine Bekanntschaft mit bestimmten Begriffen, noch kein Interesse an bestimmten Gegenständen bei denselben voraussetzen. Er kann es also nicht darauf ankommen lassen, ob die Einbildungskraft Derer, die er unterrichten will, mit seinen Abstraktionen den gehörigen Sinn verknüpfen und zu den allgemeinen Begriffen, auf die der wissenschaftliche Vortrag sich einschränkt, einen Inhalt darbieten werde. Um sicher zu gehen, gibt er daher lieber die Anschauungen und einzelnen Fälle gleich mit, auf welche sich jene Begriffe beziehen, und überläßt es dem Verstand seiner Leser, den Begriff aus dem Stegreif daraus zu bilden. Die Einbildungskraft wird also bei dem populären Vortrag schon weit mehr ins Spiel gemischt, aber doch immer nur reproduktiv (empfangene Vorstellungen erneuernd), nicht ab er produktiv (ihre selbstbildende Kraft beweisend). Jene einzelnen Fälle oder Anschauungen sind für den gegenwärtigen Zweck viel zu genau berechnet und für den Gebrauch, der davon gemacht werden soll, viel zu bestimmt eingerichtet, als daß die Einbildungskraft es vergessen könnte, daß sie bloß im Dienst des Verstandes handelt. Der Vortrag hält sich zwar etwas näher an das Leben und an die Sinnenwelt, aber er verliert sich noch nicht in derselben. Die Darstellung ist also noch immer bloß didaktisch; denn um schön zu sein, fehlen ihr noch die zwei vornehmsten Eigenschaften, Sinnlichkeit im Ausdruck und Freiheit in der Bewegung.

Frei wird die Darstellung, wenn der Verstand den Zusammenhang der Ideen zwar bestimmt, aber mit so versteckter Gesetzmäßigkeit, daß die Einbildungskraft dabei völlig willkürlich zu verfahren und bloß dem Zufall der Zeitverknüpfung zu folgen scheint. Sinnlich wird die Darstellung, wenn sie das Allgemeine in das Besondere versteckt und der Phantasie das lebendige Bild (die ganze Vorstellung) hingibt, wo es bloß um den Begriff (die Theilvorstellung) zu thun ist. Die sinnliche Darstellung ist also, von der einen Seite betrachtet, reich, weil sie da, wo nur eine Bestimmung verlangt wird, ein vollständiges Bild, ein Ganzes von Bestimmungen, ein Individuum gibt; sie ist aber, von einer andern Seite betrachtet, wieder eingeschränkt und arm, weil sie nur von einem Individuum und von einem einzelnen Fall behauptet, was doch von einer ganzen Sphäre zu verstehen ist. Sie verkürzt also den Verstand gerade um so viel, als sie der Imagination im Ueberfluß darbietet; denn je vollständiger an Inhalt eine Vorstellung ist, desto kleiner ist ihr Umfang.

Das Interesse der Einbildungskraft ist, ihre Gegenstände nach Willkür zu wechseln; das Interesse des Verstandes ist, die seinigen mit strenger Nothwendigkeit zu verknüpfen. So sehr diese beiden Interessen mit einander zu streiten scheinen, so gibt es doch zwischen beiden einen Punkt der Vereinigung, und diesen aufzufinden, ist das eigentliche Verdienst der schönen Schreibart.

Um der Imagination Genüge zu thun, muß die Rede einen materiellen Theil oder Körper haben, und diesen machen die Anschauungen aus, von denen der Verstand die einzelnen Merkmale oder Begriffe absondert; denn so abstrakt wir auch denken mögen, so ist es doch immer zuletzt etwas Sinnliches, was unserm Denken zum Grund liegt. Nur will die Imagination ungebunden und regellos von Anschauung zu Anschauung überspringen und sich an keinen andern Zusammenhang, als den der Zeitfolge, binden. Stehen also die Anschauungen, welche den körperlichen Theil zu der Rede hergeben, in keiner Sachverknüpfung unter einander, scheinen sie vielmehr als unabhängige Glieder und als eigene Ganze für sich selbst zu bestehen, verrathen sie die ganze Unordnung einer spielenden und bloß sich selbst gehorchenden Einbildungskraft, so hat die Einkleidung ästhetische Freiheit, und das Bedürfniß der Phantasie ist befriedigt. Eine solche Darstellung, könnte man sagen, ist ein organisches Produkt, wo nicht bloß das Ganze lebt, sondern auch die einzelnen Theile ihr eigentümliches Leben haben; die bloß wissenschaftliche Darstellung ist ein mechanisches Werk, wo die Theile, leblos für sich selbst, dem Ganzen durch ihre Zusammenstimmung ein künstliches Leben ertheilen.

Um auf der andern Seite dem Verstande Genüge zu thun und Erkenntniß hervorzubringen, muß die Rede einen geistigen Theil, Bedeutung, haben, und diese erhält sie durch die Begriffe, vermittelst welcher jene Anschauungen auf einander bezogen und in ein Ganzes verbunden werden. Findet nun zwischen diesen Begriffen, als dem geistigen Theil der Rede, der genaueste Zusammenhang statt, während daß sich die ihnen correspondierenden Anschauungen, als der sinnliche Theil der Rede, bloß durch ein willkürliches Spiel der Phantasie zusammen zu finden scheinen, so ist das Problem gelöst, und der Verstand wird durch Gesetzmäßigkeit befriedigt, indem der Phantasie durch Gesetzlosigkeit geschmeichelt wird.

Untersucht man die Zauberkraft der schönen Diktion, so wird man allemal finden, daß sie in einem solchen glücklichen Verhältniß zwischen äußerer Freiheit und innerer Nothwendigkeit enthalten ist. Zu dieser Freiheit der Einbildungskraft trägt die Individualisierung der Gegenstände und der figürliche oder uneigentliche Ausdruck das Meiste bei, jene, um die Sinnlichkeit zu erhöhen, dieser, um sie da, wo sie nicht ist, zu erzeugen. Indem wir die Gattung durch ein Individuum repräsentieren und einen allgemeinen Begriff in einem einzelnen Falle darstellen, nehmen wir der Phantasie die Fesseln ab, die der Verstand ihr angelegt hatte, und geben ihr Vollmacht, sich schöpferisch zu beweisen. Immer nach Vollständigkeit der Bestimmungen strebend, erhält und gebraucht sie jetzt das Recht, das ihr hingegebene Bild nach Gefallen zu ergänzen, zu beleben, umzugestalten, ihm in allen seinen Verbindungen und Verwandlungen zu folgen. Sie darf augenblicklich ihrer untergeordneten Rolle vergessen und sich als eine willkürliche Selbstherrscherin betragen, weil durch den strengen innern Zusammenhang hinlänglich dafür gesorgt ist, daß sie dem Zügel des Verstandes nie ganz entfliehen kann. Der uneigentliche Ausdruck treibt diese Freiheit noch weiter, indem er Bilder zusammengattet, die ihrem Inhalt nach ganz verschieden sind, aber sich gemeinschaftlich unter einem höhern Begriff verbinden. Weil sich nun die Phantasie an den Inhalt, der Verstand hingegen an jenen höhern Begriff hält, so macht die erstere eben da einen Sprung, wo der letztere die vollkommenste Stetigkeit wahrnimmt. Die Begriffe entwickeln sich nach dem Gesetz der Nothwendigkeit, aber nach dem Gesetz der Freiheit gehen sie an der Einbildungskraft vorüber; der Gedanke bleibt derselbe, nur wechselt das Medium, das ihn darstellt. So erschafft sich der beredte Schriftsteller aus der Anarchie selbst die herrlichste Ordnung und errichtet auf einem immer wechselnden Grunde, auf dem Strome der Imagination, der immer fortfließt, ein festes Gebäude.

Stellt man zwischen der wissenschaftlichen, der populären und der schönen Diktion eine Vergleichung an, so zeigt sich, daß alle drei zwar den Gedanken, um den es zu thun ist, der Materie nach, gleich getreu überliefern und uns also alle drei zu einer Erkenntniß verhelfen, daß aber die Art und der Grad dieser Erkenntniß bei einer jeden merklich verschieden sind. Der schöne Schriftsteller stellt uns die Sache, von der er handelt, vielmehr als möglich und als wünschenswürdig vor, als daß er uns von der Wirklichkeit oder gar von der Nothwendigkeit derselben überzeugen könnte; denn sein Gedanke kündigt sich bloß als eine willkürliche Schöpfung der Einbildungskraft an, die für sich allein nie im Stand ist, die Realität ihrer Vorstellungen zu verbürgen. Der populäre Schriftsteller erweckt uns den Glauben, daß es sich wirklich so verhalte, aber weiter bringt er es auch nicht; denn er macht uns die Wahrheit jenes Satzes zwar fühlbar, aber nicht absolut gewiß. Das Gefühl aber kann wohl lehren, was ist, aber niemals, was sein muß. Der philosophische Schriftsteller erhebt jenen Glauben zur Ueberzeugung; denn er erweist aus unbezweifelten Gründen, daß es sich nothwendig so verhalte.

Wenn man von den bisherigen Grundsätzen ausgehet, so wird es nicht schwer sein, einer jeden von diesen drei verschiedenen Formen der Diktion ihre schickliche Stelle anzuweisen. Im Ganzen genommen, wird sich als Regel annehmen lassen, daß da, wo es nicht bloß an dem Resultat, sondern zugleich an den Beweisen liegt, die wissenschaftliche Schreibart, und da, wo es überhaupt nur um das Resultat zu thun ist, die populäre und schöne Schreibart den Vorzug verdienen. Wann aber der populäre Ausdruck in den schönen übergehen darf, das entscheidet der größere oder geringere Grad des Interesse, den man vorauszusetzen und zu bewirken hat.

Der reine wissenschaftliche Ausdruck setzt uns (mehr oder weniger, je nachdem er philosophischer oder populärer ist) in den Besitz einer Erkenntniß; der schöne Ausdruck leiht uns dieselbe bloß zu augenblicklichem Genuß und Gebrauche. Der erste gibt uns – wenn ich mir die Vergleichung erlauben darf – den Baum mit sammt der Wurzel, aber freilich müssen wir uns gedulden, bis er blühet und Früchte trägt; der schöne Ausdruck bricht uns bloß die Blüthen und Früchte davon ab, aber der Baum, der sie trug, wird nicht unser, und wenn jene verwelkt und genossen sind, ist unser Reichthum verschwunden. So widersinnig es nun wäre, Demjenigen die bloße Blume oder Frucht abzubrechen, der den Baum selbst in seinen Garten verpflanzt haben will, ebenso ungereimt würde es sein, Dem, welchem gerade jetzt nur nach einer Frucht gelüstet, den Baum selbst mit seinen künftigen Früchten anzubieten. Die Anwendung ergibt sich von selbst, und ich bemerke bloß, daß der schöne Ausdruck eben so wenig für den Lehrstuhl, als der schulgerechte für den schönen Umgang und für die Rednerbühne taugt.

Der Lernende sammelt für spätere Zwecke und für einen künftigen Gebrauch; daher der Lehrer dafür zu sorgen hat, ihn zum völligen Eigentümer der Kenntnisse zu machen, die er ihm beibringt. Nichts aber ist unser, als was dem Verstand übergeben wird. Der Redner hingegen bezweckt einen schnellen Gebrauch und hat ein gegenwärtiges Bedürfniß seines Publikums zu befriedigen. Sein Interesse ist es also, die Kenntnisse, welche er ausstreut, so schnell, als er immer kann, praktisch zu machen, und dies erreicht er am sichersten, wenn er sie dem Sinn übergibt und für die Empfindung zubereitet. Der Lehrer, der sein Publikum bloß auf Bedingungen übernimmt und berechtigt ist, die Stimmung des Gemüths, die zur Aufnahme der Wahrheit erfordert wird, schon bei demselben vorauszusetzen, richtet sich bloß nach dem Objekt seines Vortrags, da im Gegentheil der Redner, der mit seinem Publikum keine Bedingung eingehen darf und die Neigung erst zu seinem Vortheil gewinnen muß, sich zugleich nach den Subjekten zu richten hat, an die er sich wendet. Jener, dessen Publikum schon da war und wiederkommt, braucht bloß Bruchstücke zu liefern, die mit vorhergegangenen Vorträgen erst ein Ganzes ausmachen; dieser, dessen Publikum ohne Aufhören wechselt, unvorbereitet kommt und vielleicht nie zurückkehrt, muß sein Geschäft bei jedem Vortrag vollenden; jede seiner Aufführungen muß ein Ganzes für sich sein und ihren vollständigen Aufschluß enthalten.

Daher ist es kein Wunder, wenn ein noch so gründlicher dogmatischer Vortrag in der Conversation und auf der Kanzel kein Glück macht, und ein noch so geistvoller schöner Vortrag auf dem Lehrstuhl keine Früchte trägt – wenn die schöne Welt Schriften ungelesen läßt, die in der gelehrten Epoche machen, und der Gelehrte Werke ignoriert, die eine Schule der Weltleute sind und von allen Liebhabern des Schönen mit Begierde verschlungen werden. Jedes kann in dem Kreis, für den es bestimmt ist, Bewunderung verdienen, ja, an innerm Gehalt können beide vollkommen gleich sein, aber es hieße etwas Unmögliches verlangen, wenn ein Werk, das den Denker anstrengt, zugleich dem bloßen Schöngeist zum leichten Spiele dienen sollte.

Aus diesem Grunde halte ich es für schädlich, wenn für den Unterricht der Jugend Schriften gewählt werden, worin wissenschaftliche Materien in schöne Form eingekleidet sind. Ich rede hier ganz und gar nicht von solchen Schriften, wo der Inhalt der Form aufgeopfert worden ist, sondern von wirklich vortrefflichen Schriften, die die schärfste Sachprobe aushalten, aber diese Probe in ihrer Form nicht enthalten. Es ist wahr, man erreicht mit solchen Schriften den Zweck, gelesen zu werden, aber immer auf Unkosten des wichtigern Zweckes, warum man gelesen werden will. Der Verstand wird bei dieser Lektüre immer nur in seiner Zusammenstimmung mit der Einbildungskraft geübt und lernt also nie die Form von dem Stoffe scheiden und als ein reines Vermögen handeln. Und doch ist schon die bloße Uebung des Verstandes ein Hauptmoment bei dem Jugendunterricht, und an dem Denken selbst liegt in den meisten Fällen mehr als an dem Gedanken. Wenn man haben will, daß ein Geschäft gut besorgt werde, so mag man sich ja hüten, es als ein Spiel anzukündigen. Vielmehr muß der Geist schon durch die Form der Behandlung in Spannung gesetzt und mit einer gewissen Gewalt von der Passivität zur Thätigkeit fortgestoßen werden. Der Lehrer soll seinem Schüler die strenge Gesetzmäßigkeit der Methode keineswegs verbergen, sondern ihn vielmehr darauf aufmerksam und wo möglich darnach begierig machen. Der Studierende soll lernen einen Zweck verfolgen und um des Zwecks willen auch ein beschwerliches Mittel sich gefallen lassen. Frühe schon soll er nach der edleren Lust streben, welche der Preis der Anstrengung ist. Bei dem wissenschaftlichen Vortrag werden die Sinne ganz und gar abgewiesen, bei dem schönen werden sie ins Interesse gezogen. Was wird die Folge davon sein? Man verschlingt eine solche Schrift, eine solche Unterhaltung mit Antheil; aber wird man um die Resultate befragt, so ist man kaum im Stande, davon Rechenschaft zu geben. Und sehr natürlich; denn die Begriffe dringen zu ganzen Massen in die Seele, und der Verstand erkennt nur, wo er unterscheidet; das Gemüth verhielt sich während der Lektüre vielmehr leidend als thätig, und der Geist besitzt nichts, als was er thut.

Dies gilt übrigens bloß von dem Schönen gemeiner Art und von der gemeinen Art, das Schöne zu empfinden. Das wahrhaft Schöne gründet sich auf die strengste Bestimmtheit, auf die genaueste Absonderung, auf die höchste innere Nothwendigkeit; nur muß diese Bestimmtheit sich eher finden lassen, als gewaltsam hervordrängen. Die höchste Gesetzmäßigkeit muß da sein, aber sie muß als Natur erscheinen. Ein solches Produkt wird dem Verstand vollkommen Genüge thun, sobald es studiert wird, aber eben weil es wahrhaft schön ist, so dringt es seine Gesetzmäßigkeit nicht auf, so wendet es sich nicht an den Verstand insbesondere, sondern spricht als reine Einheit zu dem harmonierenden Ganzen des Menschen, als Natur zu Natur. Ein gemeiner Beurtheiler findet es vielleicht leer, dürftig, viel zu wenig bestimmt; gerade dasjenige, worin der Triumph der Darstellung besteht, die vollkommene Auflösung der Theile in einem reinen Ganzen, beleidigt ihn, weil er nur zu unterscheiden versteht und nur für das Einzelne Sinn hat. Zwar soll bei philosophischen Darstellungen der Verstand, als Unterscheidungsvermögen, befriediget werden, es sollen einzelne Resultate für ihn daraus hervorgehen; dies ist der Zweck, der auf keine Weise hintangesetzt werden darf. Wenn aber der Schriftsteller durch die strengste innere Bestimmtheit dafür gesorgt hat, daß der Verstand diese Resultate nothwendig finden muß, sobald er sich nur darauf einläßt, aber damit allein nicht zufrieden und genöthigt durch seine Natur (die immer als harmonische Einheit wirkt und, wo sie durch das Geschäft der Abstraktion diese Einheit verloren, solche schnell wieder herstellt), wenn er das Getrennte wieder verbindet und durch die vereinigte Aufforderung der sinnlichen und geistigen Kräfte immer den ganzen Menschen in Anspruch nimmt, so hat er wahrhaftig nicht um so viel schlechter geschrieben, als er dem Höchsten näher gekommen ist. Der gemeine Beurtheiler freilich, der ohne Sinn für jene Harmonie immer nur auf das Einzelne dringt, der in der Peterskirche selbst nur die Pfeiler suchen würde, welche dieses künstliche Firmament unterstützen, dieser wird es ihm wenig Dank wissen, daß er ihm eine doppelte Mühe machte: denn ein solcher muß ihn freilich erst übersetzen, wenn er ihn verstehen will, so wie der bloße nackte Verstand, entblößt von allem Darstellungsvermögen, das Schöne und Harmonische in der Natur wie in der Kunst erst in seine Sprache umsetzen und auseinander legen, kurz, so wie der Schüler, um zu lesen, erst buchstabieren muß. Aber von der Beschränktheit und Bedürftigkeit seiner Leser empfängt der darstellende Schriftsteller niemals das Gesetz. Dem Ideal, das er in sich selbst trägt, geht er entgegen, unbekümmert, wer ihm etwa folgt und wer zurückbleibt. Es werden Viele zurückbleiben: denn so selten es schon ist, auch nur denkende Leser zu finden, so ist es doch noch unendlich seltener, solche anzutreffen, welche darstellend denken können. Ein solcher Schriftsteller wird es also der Natur der Sache nach sowohl mit Denjenigen verderben, welche nur anschauen und nur empfinden: denn er legt ihnen die saure Arbeit des Denkens auf; als mit Denjenigen, welche nur denken: denn er fordert von ihnen, was für sie schlechthin unmöglich ist, lebendig zu bilden. Weil aber Beide nur sehr unvollkommene Repräsentanten gemeiner und echter Menschheit sind, welche durchaus Harmonie jener beiden Geschäfte fordert, so bedeutet ihr Widerspruch nichts; vielmehr bestätigen ihm ihre Urtheile, daß er erreichte, was er suchte. Der abstrakte Denker findet seinen Inhalt gedacht und der anschauende Leser seine Schreibart lebendig: beide billigen also, was sie fassen, und vermissen nur, was ihr Vermögen übersteigt.

Ein solcher Schriftsteller ist aber aus eben diesem Grunde ganz und gar nicht dazu gemacht, einen Unwissenden mit dem Gegenstande, den er behandelt, bekannt zu machen oder, im eigentlichsten Sinne des Worts, zu lehren. Dazu ist er glücklicher Weise auch nicht nöthig, weil es für den Unterricht der Schüler nie an Subjekten fehlen wird. Der Lehrer in strengster Bedeutung muß sich nach der Bedürftigkeit richten; er geht von der Voraussetzung des Unvermögens aus, da hingegen jener von seinem Leser oder Zuhörer schon eine gewisse Integrität und Ausbildung fordert. Dafür schränkt sich aber seine Wirkung auch nicht darauf ein, bloß todte Begriffe mitzutheilen; er ergreift mit lebendiger Energie das Lebendige und bemächtiget sich des ganzen Menschen, seines Verstandes, seines Gefühls, seines Willens zugleich.

Wenn es für die Gründlichkeit der Erkenntniß nachtheilig befunden wurde, bei dem eigentlichen Lernen den Forderungen des Geschmacks Raum zu geben, so wird dadurch keineswegs behauptet, daß die Bildung dieses Vermögens bei dem Studierenden zu frühzeitig sei. Ganz im Gegentheil soll man ihn aufmuntern und veranlassen, Kenntnisse, die er sich auf dem Wege der Schule zu eigen machte, auf dem Wege der lebendigen Darstellung mitzutheilen. Sobald das Erstere nur beobachtet worden ist, kann das Zweite keine andern als nützliche Folgen haben. Gewiß muß man einer Wahrheit schon in hohem Grad mächtig sein, um ohne Gefahr die Form verlassen zu können, in der sie gefunden wurde; man muß einen großen Verstand besitzen, um selbst in dem freien Spiele der Imagination sein Objekt nicht zu verlieren. Wer mir seine Kenntnisse in schulgerechter Form überliefert, der überzeugt mich zwar, daß er sie richtig faßte und zu behaupten weiß; wer aber zugleich im Stande ist, sie in einer schönen Form mitzutheilen, der beweist nicht nur, daß er dazu gemacht ist, sie zu erweitern, er beweist auch, daß er sie in seine Natur aufgenommen und in seinen Handlungen darzustellen fähig ist. Es gibt für die Resultate des Denkens keinen andern Weg zu dem Willen und in das Leben, als durch die selbstthätige Bildungskraft. Nichts, als was in uns selbst schon lebendige That ist, kann es außer uns werden, und es ist mit Schöpfungen des Geistes wie mit organischen Bildungen: nur aus der Blüthe geht die Frucht vor.

Wenn man überlegt, wie viele Wahrheiten als innere Anschauungen längst schon lebendig wirkten, ehe die Philosophie sie demonstrierte, und wie kraftlos öfters die demonstriertesten Wahrheiten für das Gefühl und den Willen bleiben, so erkennt man, wie wichtig es für das praktische Leben ist, diesen Wink der Natur zu befolgen und die Erkenntnisse der Wissenschaft wieder in lebendige Anschauung umzuwandeln. Nur auf diese Art ist man im Stande, an den Schätzen der Weisheit auch Diejenigen Antheil nehmen zulassen, denen schon ihre Natur untersagte, den unnatürlichen Weg der Wissenschaft zu wandeln. Die Schönheit leistet hier in Rücksicht auf die Erkenntniß eben das, was sie im Moralischen in Rücksicht auf die Handlungsweise leistet: sie vereinigt die Menschen in den Resultaten und in der Materie, die sich in der Form und in den Gründen niemals vereinigt haben würden.

Das andre Geschlecht kann und darf, seiner Natur und seiner schönen Bestimmung nach, mit dem männlichen nie die Wissenschaft, aber durch das Medium der Darstellung kann es mit demselben die Wahrheit theilen. Der Mann läßt es sich noch wohl gefallen, daß sein Geschmack beleidigt wird, wenn nur der innere Gehalt den Verstand entschädigt. Gewöhnlich ist es ihm nur desto lieber, je härter die Bestimmtheit hervortritt, und je reiner sich das innere Wesen von der Erscheinung absondert. Aber das Weib vergibt dem reichsten Inhalt die vernachlässigte Form nicht, und der ganze innere Bau seines Wesens gibt ihm ein Recht zu dieser strengen Forderung. Dieses Geschlecht, das, wenn es auch nicht durch Schönheit herrschte, schon allein deswegen das schöne Geschlecht heißen müßte, weil es durch Schönheit beherrscht wird, zieht alles, was ihm vorkommt, vor den Richterstuhl der Empfindung, und was nicht zu dieser spricht oder sie gar beleidigt, ist für dasselbe verloren. Freilich kann ihm in diesem Kanal nur die Materie der Wahrheit, aber nicht die Wahrheit selbst überliefert werden, die von ihrem Beweis unzertrennlich ist. Aber glücklicher Weise braucht es auch nur die Materie der Wahrheit, um seine höchste Vollkommenheit zu erreichen, und die bisher erschienenen Ausnahmen können den Wunsch nicht erregen, daß sie zur Regel werden möchten.

Das Geschäft also, welches die Natur dem andern Geschlecht nicht bloß nachließ, sondern verbot, muß der Mann doppelt auf sich nehmen, wenn er anders dem Weibe in diesem wichtigen Punkt des Daseins auf gleicher Stufe begegnen will. Er wird also so viel, als er nur immer kann, aus dem Reich der Abstraktion, wo er regiert, in das Reich der Einbildungskraft und Empfindung hinüberzuziehen suchen, wo das Weib zugleich Muster und Richterin ist. Er wird, da er in dem weiblichen Geiste keine dauerhaften Pflanzungen anlegen kann, so viele Blüthen und Früchte, als immer möglich ist, auf seinem eigenen Feld zu erzielen suchen, um den schnell verwelkenden Vorrath auf dem andern desto öfter erneuern und da, wo keine natürliche Ernte reift, eine künstliche unterhalten zu können. Der Geschmack verbessert – oder verbirgt – den natürlichen Geistesunterschied beider Geschlechter, er nährt und schmückt den weiblichen Geist mit den Produkten des männlichen und läßt das reizende Geschlecht empfinden, wo es nicht gedacht, und genießen, wo es nicht gearbeitet hat.

Dem Geschmack ist also, unter den Einschränkungen, deren ich bisher erwähnte, bei Mittheilung der Erkenntniß zwar die Form anvertraut, aber unter der ausdrücklichen Bedingung, daß er sich nicht an dem Inhalt vergreife. Er soll nie vergessen, daß er einen fremden Auftrag ausrichtet und nicht seine eigenen Geschäfte führt. Sein ganzer Antheil soll darauf eingeschränkt sein, das Gemüth in eine der Erkenntniß günstige Stimmung zu versetzen; aber in allem dem, was die Sache betrifft, soll er sich durchaus keiner Autorität anmaßen.

Wenn er das Letztere thut – wenn er sein Gesetz, welches kein anderes ist, als der Einbildungskraft gefällig zu sein und in der Betrachtung zu vergnügen, zum obersten erhebt – wenn er dieses Gesetz nicht bloß auf die Behandlung, sondern auch auf die Sache anwendet und nach Maßgabe desselben die Materialien nicht bloß ordnet, sondern wählt, so überschreitet er nicht nur, sondern veruntreut seinen Auftrag und verfälscht das Objekt, das er uns treu überliefern sollte. Nach dem, was die Dinge sind, wird jetzt nicht mehr gefragt, sondern wie sie sich am besten den Sinnen empfehlen. Die strenge Consequenz der Gedanken, welche bloß hätte verborgen werden sollen, wird als eine lästige Fessel weggeworfen; die Vollkommenheit wird der Annehmlichkeit, die Wahrheit der Theile der Schönheit des Ganzen, das innere Wesen dem äußern Eindruck aufgeopfert. Wo aber der Inhalt sich nach der Form richten muß, da ist gar kein Inhalt; die Darstellung ist leer, und anstatt sein Wissen vermehrt zu haben, hat man bloß ein unterhaltendes Spiel getrieben.

Schriftsteller, welche mehr Witz als Verstand und mehr Geschmack als Wissenschaft besitzen, machen sich dieser Betrügerei nur allzu oft schuldig, und Leser, die mehr zu empfinden als zu denken gewohnt sind, zeigen sich nur zu bereitwillig, sie zu verzeihen. Ueberhaupt ist es bedenklich, dem Geschmack seine völlige Ausbildung zu geben, ehe man den Verstand als reine Denkkraft geübt und den Kopf mit Begriffen bereichert hat. Denn da der Geschmack nur immer auf die Behandlung und nicht auf die Sache sieht, so verliert sich da, wo er der alleinige Richter ist, aller Sachunterschied der Dinge. Man wird gleichgültig gegen die Realität und setzt endlich allen Werth in die Form und in die Erscheinung.

Daher der Geist der Oberflächlichkeit und Frivolität, den man sehr oft bei solchen Ständen und in solchen Zirkeln herrschen sieht, die sich sonst nicht mit Unrecht der höchsten Verfeinerung rühmen. Einen jungen Menschen in diese Zirkel der Grazien einzuführen, ehe die Musen ihn als mündig entlassen haben, muß ihm nothwendig verderblich werden, und es kann gar nicht fehlen, daß eben das, was dem reifen Jüngling die äußere Vollendung gibt, den unreifen zum Gecken macht. Stoff ohne Form ist freilich nur ein halber Besitz; denn die herrlichsten Kenntnisse liegen in einem Kopf, der ihnen keine Gestalt zu geben weiß, wie todte Schätze vergraben. Form ohne Stoff hingegen ist gar nur der Schatten eines Besitzes, und alle Kunstfertigkeit im Ausdruck kann Demjenigen nichts helfen, der nichts auszudrücken hat.

Wenn also die schöne Kultur nicht auf diesen Abweg führen soll, so muß der Geschmack nur die äußere Gestalt, Vernunft und Erfahrung aber das innere Wesen bestimmen. Wird der Eindruck auf den Sinn zum höchsten Richter gemacht und die Dinge bloß auf die Empfindung bezogen, so tritt der Mensch niemals aus der Dienstbarkeit der Materie, so wird es niemals Licht in seinem Geist, kurz, so verliert er eben so viel an Freiheit der Vernunft, als er der Einbildungskraft zu viel verstattet.

Das Schöne thut seine Wirkung schon bei der bloßen Betrachtung, das Wahre will Studium. Wer also bloß seinen Schönheitssinn übte, der begnügt sich auch da, wo schlechterdings Studium nöthig ist, mit der superficiellen Betrachtung und will auch da bloß verständig spielen, wo Anstrengung und Ernst erfordert wird. Durch die bloße Betrachtung wird aber nie etwas gewonnen. Wer etwas Großes leisten will, muß tief eindringen, scharf unterscheiden, vielseitig verbinden und standhaft beharren. Selbst der Künstler und Dichter, obgleich beide nur für das Wohlgefallen bei der Betrachtung arbeiten, können nur durch ein anstrengendes und nichts weniger als reizendes Studium dahin gelangen, daß ihre Werke uns spielend ergötzen.

Dieses scheint mir auch der untrügliche Probierstein zu sein, woran man den bloßen Dilettanten von dem wahrhaften Kunstgenie unterscheiden kann. Der verführerische Reiz des Großen und Schönen, das Feuer, womit es die jugendliche Imagination entzündet, und der Anschein von Leichtigkeit, womit es die Sinne täuscht, haben schon manchen Unerfahrenen beredet, Palette oder Leier zu ergreifen und auszugießen in Gestalten oder Tönen, was in ihm lebendig wurde. In seinem Kopf arbeiten dunkle Ideen wie eine werdende Welt, die ihn glauben machen, daß er begeistert sei. Er nimmt das Dunkle für das Tiefe, das Wilde für das Kräftige, das Unbestimmte für das Unendliche, das Sinnlose für das Uebersinnliche – und wie gefällt er sich nicht in seiner Geburt! Aber des Kenners Urtheil will dieses Zeugniß der warmen Selbstliebe nicht bestätigen. Mit ungefälliger Kritik zerstört er das Gaukelwerk der schwärmenden Bildungskraft und leuchtet ihm in den tiefen Schacht der Wissenschaft und Erfahrung hinunter, wo, jedem Ungeweihten verborgen, der Quell aller wahren Schönheit entspringt. Schlummert nun echte Geniuskraft in dem fragenden Jüngling, so wird zwar anfangs seine Bescheidenheit stutzen, aber der Muth des wahren Talents wird ihn bald zu Versuchen ermuntern. Er studiert, wenn die Natur ihn zum plastischen Künstler ausstattete, den menschlichen Bau unter dem Messer des Anatomikers, steigt in die unterste Tiefe, um auf der Oberfläche wahr zu sein, und fragt bei der ganzen Gattung herum, um dem Individuum sein Recht zu erweisen. Er behorcht, wenn er zum Dichter geboren ist, die Menschheit in seiner eigenen Brust, um ihr unendlich wechselndes Spiel auf der weiten Bühne der Welt zu verstehen, unterwirft die üppige Phantasie der Disciplin des Geschmackes und läßt den nüchternen Verstand die Ufer ausmessen, zwischen welchen der Strom der Begeisterung brausen soll. Ihm ist es wohlbekannt, daß nur aus dem unscheinbar Kleinen das Große erwächst, und Sandkorn für Sandkorn trägt er das Wundergebäude zusammen, das uns in einem einzigen Eindruck jetzt schwindelnd faßt. Hat ihn hingegen die Natur bloß zum Dilettanten gestempelt, so erkältet die Schwierigkeit seinen kraftlosen Eifer, und er verläßt entweder, wenn er bescheiden ist, eine Bahn, die ihm Selbstbetrug anwies, oder, wenn er es nicht ist, verkleinert er das große Ideal nach dem kleinen Durchmesser seiner Fähigkeit, weil er nicht im Stande ist, seine Fähigkeit nach dem großen Maßstab des Ideals zu erweitern. Das echte Kunstgenie ist also immer daran zu erkennen, daß es, bei dem glühendsten Gefühl für das Ganze, Kälte und ausdauernde Geduld für das Einzelne behält und, um der Vollkommenheit keinen Abbruch zu thun, lieber den Genuß der Vollendung aufopfert. Dem bloßen Liebhaber verleidet die Mühseligkeit des Mittels den Zweck, und er möchte es gern beim Hervorbringen so bequem haben als bei der Betrachtung.

Bisher ist von den Nachtheilen geredet worden, welche aus einer übertriebenen Empfindlichkeit für das Schöne der Form und aus zu weit ausgedehnten ästhetischen Forderungen für das Denken und für die Einsicht erwachsen. Von weit größerer Bedeutung aber sind eben diese Anmaßungen des Geschmackes, wenn sie den Willen zu ihrem Gegenstand haben; denn es ist doch etwas ganz anders, ob uns der übertriebene Hang für das Schöne an Erweiterung unseres Wissens verhindert, oder ob er den Charakter verderbt und uns Pflichten verletzen macht. Belletristische Willkürlichkeit im Denken ist freilich etwas sehr Uebles und muß den Verstand verfinstern; aber eben diese Willkürlichkeit, auf Maximen des Willens angewandt, ist etwas Böses und muß unausbleiblich das Herz verderben. Und zu diesem gefahrvollen Extrem neigt die ästhetische Verfeinerung den Menschen, sobald er sich dem Schönheitsgefühle ausschließend anvertraut und den Geschmack zum unumschränkten Gesetzgeber seines Willens macht.

Die moralische Bestimmung des Menschen fordert völlige Unabhängigkeit des Willens von allem Einfluß sinnlicher Antriebe, und der Geschmack, wie wir wissen, arbeitet ohne Unterlaß daran, das Band zwischen der Vernunft und den Sinnen immer inniger zu machen. Nun bewirkt er dadurch zwar, daß die Begierden sich veredeln und mit den Forderungen der Vernunft übereinstimmender werden; aber selbst darauf kann für die Moralität zuletzt große Gefahr entstehen.

Dafür nämlich, daß bei dem ästhetisch verfeinerten Menschen die Einbildungskraft auch in ihrem freien Spiele sich nach Gesetzen richtet, und daß der Sinn sich gefallen läßt, nicht ohne Beistimmung der Vernunft zu genießen, wird von der Vernunft gar leicht der Gegendienst verlangt, in dem Ernst ihrer Gesetzgebung sich nach dem Interesse der Einbildungskraft zu richten und nicht ohne Beistimmung der sinnlichen Triebe dem Willen zu gebieten. Die sittliche Verbindlichkeit des Willens, die doch ganz ohne alle Bedingung gilt, wird unvermerkt als ein Contract angesehen, der den einen Theil nur so lange bindet, als der andere ihn erfüllt. Die zufällige Zusammenstimmung der Pflicht mit der Neigung wird endlich als nothwendige Bedingung festgesetzt und so die Sittlichkeit in ihren Quellen vergiftet.

Wie der Charakter nach und nach in diese Verderbniß gerathe, läßt sich auf folgende Art begreiflich machen.

So lange der Mensch noch ein Wilder ist, seine Triebe bloß auf materielle Gegenstände gehen und ein Egoism von der gröbern Art seine Handlungen leitet, kann die Sinnlichkeit nur durch ihre blinde Stärke der Moralität gefährlich sein und sich den Vorschriften der Vernunft bloß als eine Macht widersetzen. Die Stimme der Gerechtigkeit, der Mäßigung, der Menschlichkeit wird von der lauter sprechenden Begierde überschrieen. Er ist fürchterlich in seiner Rache, weil er die Beleidigung fürchterlich empfindet. Er raubt und mordet, weil seine Gelüste dem schwachen Zügel der Vernunft noch zu mächtig sind. Er ist ein wüthendes Thier gegen Andere, weil ihn selbst der Naturtrieb noch thierisch beherrscht.

Vertauscht er aber diesen wilden Naturstand mit dem Zustande der Verfeinerung, veredelt der Geschmack seine Triebe, weist er denselben würdigere Objekte in der moralischen Welt an, mäßigt er ihre rohen Ausbrüche durch die Regel der Schönheit, so kann es geschehen, daß eben diese Triebe, die vorher nur durch ihre blinde Gewalt furchtbar waren, durch einen Anschein von Würde und durch eine angemaßte Autorität der Sittlichkeit des Charakters noch weit gefährlicher werden und unter der Maske von Unschuld, Adel und Reinigkeit eine weit schlimmere Tyrannei gegen den Willen ausüben.

Der Mensch von Geschmack entzieht sich freiwillig dem groben Joch des Instinkts. Er unterwirft seinen Trieb nach Vergnügen der Vernunft und versteht sich dazu, die Objekte seiner Begierden sich von dem denkenden Geist bestimmen zu lassen. Je öfter nun der Fall sich erneuert, daß das moralische und das ästhetische Urtheil, das Sittengefühl und das Schönheitsgefühl, in demselben Objekte zusammentreffen und in demselben Ausspruche sich begegnen, desto mehr wird die Vernunft geneigt, einen so sehr vergeistigten Trieb für einen der ihrigen zu halten und ihm zuletzt das Steuer des Willens mit uneingeschränkter Vollmacht zu übergeben.

So lange noch Möglichkeit vorhanden ist, daß Neigung und Pflicht in demselben Objekt des Begehrens zusammentreffen, so kann diese Repräsentation des Sittengefühls durch das Schönheitsgefühl keinen positiven Schaden anrichten, obgleich, streng genommen, für die Moralität der einzelnen Handlungen dadurch nichts gewonnen wird. Aber der Fall verändert sich gar sehr, wenn Empfindung und Vernunft ein verschiedenes Interesse haben – wenn die Pflicht ein Betragen gebietet, das den Geschmack empört, oder wenn sich dieser zu einem Objekt hingezogen sieht, das die Vernunft als moralische Richterin zu verwerfen gezwungen ist.

Jetzt nämlich tritt auf einmal die Nothwendigkeit ein, die Ansprüche des moralischen und ästhetischen Sinnes, die ein so langes Einverständniß beinahe unentwirrbar vermengte, auseinander zu setzen, ihre gegenseitigen Befugnisse zu bestimmen und den wahren Gewalthaber im Gemüthe zu erfahren. Aber eine so ununterbrochene Repräsentation hat ihn in Vergessenheit gebracht, und die lange Observanz, den Eingebungen des Geschmacks unmittelbar zu gehorchen und sich dabei wohl zu befinden, mußte diesem unvermerkt den Schein eines Rechts erwerben. Bei der Untadelhaftigkeit, womit der Geschmack seine Aussicht über den Willen verwaltete, konnte es nicht fehlen, daß man seinen Ansprüchen nicht eine gewisse Achtung zugestand, und diese Achtung ist es eben, was die Neigung jetzt mit verfänglicher Dialektik gegen die Gewissenspflicht geltend macht.

Achtung ist ein Gefühl, welches nur für das Gesetz, und was demselben entspricht, kann empfunden werden. Was Achtung fordern kann, macht auf unbedingte Huldigung Anspruch. Die veredelte Neigung, welche sich Achtung zu erschleichen gewußt hat, will also der Vernunft nicht mehr untergeordnet, sie will ihr beigeordnet sein. Sie will für keinen treubrüchigen Unterthan gelten, der sich gegen seinen Oberherrn auflehnt; sie will als eine Majestät angesehen sein und mit der Vernunft als sittliche Gesetzgeberin, wie Gleich mit Gleichem, handeln. Die Wagschalen stehen also, wie sie vorgibt, dem Rechte nach gleich. und wie sehr ist da nicht zu fürchten, daß das Interesse den Ausschlag geben werde!

Unter allen Neigungen, die von dem Schönheitsgefühl abstammen und das Eigenthum seiner Seelen sind, empfiehlt keine sich dem moralischen Gefühl so sehr, als der veredelte Affekt der Liebe, und keine ist fruchtbarer an Gesinnungen, die der wahren Würde des Menschen entsprechen. Zu welchen Höhen trägt sie nicht die menschliche Natur, und was für göttliche Funken weiß sie nicht oft auch aus gemeinen Seelen zu schlagen! Von ihrem heiligen Feuer wird jede eigennützige Neigung verzehrt, und reiner können Grundsätze selbst die Keuschheit des Gemüths kaum bewahren, als die Liebe des Herzens Adel bewacht. Oft, wo jene noch kämpften, hat die Liebe schon für sie gesiegt und durch ihre allmächtige Thatkraft Entschlüsse beschleunigt, welche die bloße Pflicht der schwachen Menschheit umsonst würde abgefordert haben. Wer sollte wohl einem Affekt mißtrauen, der das Vortreffliche in der menschlichen Natur so kräftig in Schutz nimmt und den Erbfeind aller Moralität, den Egoism, so siegreich bestreitet?

Aber man wage es ja nicht mit diesem Führer, wenn man nicht schon durch einen bessern gesichert ist. Der Fall soll eintreten, daß der geliebte Gegenstand unglücklich ist, daß er um unsertwillen unglücklich ist, daß es von uns abhängt, ihn durch Aufopferung einiger moralischen Bedenklichkeiten glücklich zu machen. »Sollen wir ihn leiden lassen, um ein reines Gewissen zu behalten? Erlaubt dieses der uneigennützige, großmüthige, seinem Gegenstand ganz dahingegebene, über seinen Gegenstand ganz sich selbst vergessende Affekt? Es ist wahr, es läuft wider unser Gewissen, von dem unmoralischen Mittel Gebrauch zu machen, wodurch ihm geholfen werden kann – aber heißt das lieben, wenn man bei dem Schmerz des Geliebten noch an sich selbst denkt? Wir sind doch also mehr für uns besorgt, als für den Gegenstand unserer Liebe, weil wir lieber diesen unglücklich sehen, als es durch die Vorwürfe unsers Gewissens selbst sein wollen?« So sophistisch weiß dieser Affekt die moralische Stimme in uns, wenn sie seinem Interesse entgegen steht, als eine Anregung der Selbstliebe verächtlich zu machen und unsere sittliche Würde als ein Bestandstück unserer Glückseligkeit vorzustellen, welche zu veräußern in unserer Willkür steht. Ist unser Charakter nicht durch gute Grundsätze fest verwahrt, so werden wir schändlich handeln, bei allem Schwung einer exaltierten Einbildungskraft, und über unsere Selbstliebe einen glorreichen Sieg zu erfechten glauben, indem wir, gerade umgekehrt, ihr verächtliches Opfer sind. In dem bekannten französischen Roman Liaisons dangereuses findet man ein sehr treffendes Beispiel dieses Betruges, den die Liebe einer sonst reinen und schönen Seele spielt. Die Präsidentin von Tourvel ist aus Ueberraschung gefallen, und nun sucht sie ihr gequältes Herz durch den Gedanken zu beruhigen. daß sie ihre Tugend der Großmuth geopfert habe.

Die sogenannten unvollkommenen Pflichten sind es vorzüglich, die das Schönheitsgefühl in Schutz nimmt und nicht selten gegen die vollkommenen behauptet. Da sie der Willkür des Subjekts weit mehr anheimstellen und zugleich einen Glanz von Verdienstlichkeit von sich werfen, so empfehlen sie sich dem Geschmack ungleich mehr als die vollkommenen, die unbedingt mit strenger Nöthigung gebieten. Wie viele Menschen erlauben sich nicht, ungerecht zu sein, um großmüthig sein zu können! Wie Viele gibt es nicht, die, um einem Einzelnen wohl zu thun, die Pflicht gegen das Ganze verletzen, und umgekehrt; die sich eher eine Unwahrheit als eine Indelicatesse, eher eine Verletzung der Menschlichkeit als der Ehre verzeihen, die, um die Vollkommenheit ihres Geistes zu beschleunigen, ihren Körper zu Grund richten und, um ihren Verstand auszuschmücken, ihren Charakter erniedrigen. Wie Viele gibt es nicht, die selbst vor einem Verbrechen nicht erschrecken, wenn ein löblicher Zweck dadurch zu erreichen steht, die ein Ideal politischer Glückseligkeit durch alle Gräuel der Anarchie verfolgen, Gesetze in den Staub treten, um für bessere Platz zu machen, und kein Bedenken tragen, die gegenwärtige Generation dem Elende preiszugeben, um das Glück der nächstfolgenden dadurch zu befestigen. Die scheinbare Uneigennützigkeit gewisser Tugenden gibt ihnen einen Anstrich von Reinigkeit, der sie dreist genug macht, der Pflicht ins Angesicht zu trotzen, und Manchem spielt seine Phantasie den seltsamen Betrug, daß er über die Moralität noch hinaus und vernünftiger als die Vernunft sein will.

Der Mensch von verfeinertem Geschmack ist in diesem Stück einer sittlichen Verderbniß fähig, vor welcher der rohe Natursohn, eben durch seine Rohheit, gesichert ist. Bei dem Letztern ist der Abstand zwischen dem, was der Sinn verlangt, und dem, was die Pflicht gebietet, so abstechend und so grell, und seine Begierden haben so wenig Geistiges, daß sie sich, auch wenn sie ihn noch so despotisch beherrschen, doch nie bei ihm in Ansehen setzen können. Reizt ihn also die überwiegende Sinnlichkeit zu einer unrechten Handlung, so kann er der Versuchung zwar unterliegen, aber er wird sich nicht verbergen, daß er fehlt, und der Vernunft sogar in demselben Augenblick huldigen, wo er ihrer Vorschrift entgegen handelt. Der verfeinerte Zögling der Kunst hingegen will es nicht Wort haben, daß er fällt, und um sein Gewissen zu beruhigen, belügt er es lieber. Er möchte zwar gern der Begierde nachgeben, aber ohne dadurch in seiner eigenen Achtung zu sinken. Wie bewerkstelligt er nun dieses? Er stürzt die höhere Autorität vorher um, die seiner Neigung entgegensteht, und ehe er das Gesetz übertritt, zieht er die Befugniß des Gesetzgebers in Zweifel. Sollte man es glauben, daß ein verkehrter Wille den Verstand so verkehren könne? Alle Würde, auf welche eine Neigung Anspruch machen kann, hat sie bloß ihrer Uebereinstimmung mit der Vernunft zu verdanken, und nun ist sie so verblendet als dreist, auch bei ihrem Widerstreit mit der Vernunft sich dieser Würde anzumaßen, ja, sich derselben sogar gegen das Ansehen der Vernunft zu bedienen.

So gefährlich kann es für die Moralität des Charakters ausschlagen, wenn zwischen den sinnlichen und den sittlichen Trieben, die doch nur im Ideale und nie in der Wirklichkeit vollkommen einig sein können, eine zu innige Gemeinschaft herrscht. Zwar die Sinnlichkeit wagt bei dieser Gemeinschaft nichts, da sie nichts besitzt, was sie nicht hingeben müßte, sobald die Pflicht spricht und die Vernunft das Opfer fordert. Für die Vernunft aber, als sittliche Gesetzgeberin, wird desto mehr gewagt, wenn sie sich von der Neigung schenken läßt, was sie ihr abfordern könnte; denn unter dem Schein von Freiwilligkeit kann sich leicht das Gefühl der Verbindlichkeit verlieren, und ein Geschenk läßt sich verweigern, wenn der Sinnlichkeit einmal die Leistung beschwerlich fallen sollte. Ungleich sicherer ist es also für die Moralität des Charakters, wenn die Repräsentation des Sittengefühls durch das Schönheitsgefühl wenigstens momentweise aufgehoben wird, wenn die Vernunft öfters unmittelbar gebietet und dem Willen seinen wahren Beherrscher zeigt.

Man sagt daher ganz richtig, daß die echte Moralität sich nur in der Schule der Widerwärtigkeit bewähre und eine anhaltende Glückseligkeit leicht eine Klippe der Tugend werde. Glückselig nenne ich Den, der, um zu genießen, nicht nöthig hat, unrecht zu thun, und, um recht zu handeln, nicht nöthig hat, zu entbehren. Der ununterbrochen glückliche Mensch sieht also die Pflicht nie von Angesicht, weil seine gesetzmäßigen und geordneten Neigungen das Gebot der Vernunft immer anticipieren und keine Versuchung zum Bruch des Gesetzes das Gesetz bei ihm in Erinnerung bringt. Einzig durch den Schönheitssinn, den Statthalter der Vernunft in der Sinnenwelt, regiert, wird er zu Grabe gehen, ohne die Würde seiner Bestimmung zu erfahren. Der Unglückliche hingegen, wenn er zugleich ein Tugendhafter ist, genießt den erhabenen Vorzug, mit der göttlichen Majestät des Gesetzes unmittelbar zu verkehren und, da seiner Tugend keine Neigung hilft, die Freiheit des Dämons noch als Mensch zu beweisen.