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Achter Brief

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Aber, werden Sie sagen, wozu diese ganze Untersuchung? Gleichviel, ob es unfreiwilliger Zug des Herzens, Harmonie der Charaktere, wechselseitige persönliche Nothwendigkeit für einander, oder von außen hinzugekommene Verhältnisse und freie Wahl gewesen, was das Band der Freundschaft zwischen diesen Beiden geknüpft hat – die Wirkungen bleiben dieselben, und im Gange des Stückes selbst wird dadurch nichts verändert. Wozu daher diese weit ausgeholte Mühe, den Leser aus einem Irrthum zu reißen, der ihm vielleicht angenehmer als die Wahrheit ist? Wie würde es um den Reiz der meisten moralischen Erscheinungen stehen, wenn man jedesmal in die innerste Tiefe des Menschenherzens hineinleuchten und sie gleichsam werden sehen müßte? Genug für uns, daß alles, was Marquis Posa liebt, in dem Prinzen versammelt ist, durch ihn repräsentiert wird, oder wenigstens durch ihn allein zu erhalten steht, daß er dieses zufällige, bedingte, seinem Freund nur geliehene Interesse mit dem Wesen desselben zuletzt unzertrennlich zusammenfaßt, und daß alles, was er für ihn empfindet, sich in einer persönlichen Neigung äußert. Wir genießen dann die reine Schönheit dieses Freundschaftsgemäldes als ein einfaches moralisches Element, unbekümmert, in wie viel Theile es auch der Philosoph noch zergliedern mag.

Wie aber, wenn die Berichtigung dieses Unterschieds für das ganze Stück wichtig wäre? – Wird nämlich das letzte Ziel von Posas Bestrebungen über den Prinzen hinaus gerückt, ist ihm dieser nur als Werkzeug zu einem höhern Zwecke so wichtig, befriedigt er durch seine Freundschaft für ihn einen andern Trieb, als nur diese Freundschaft, so kann dem Stücke selbst nicht wohl eine engere Grenze gesteckt sein – so muß der letzte Endzweck des Stückes mit dem Zwecke des Marquis wenigstens zusammenfallen. Das große Schicksal eines ganzen Staats, das Glück des menschlichen Geschlechts auf viele Generationen hinunter, worauf alle Bestrebungen des Marquis, wie wir gesehen haben, hinauslaufen, kann nicht wohl Episode zu einer Handlung sein, die den Ausgang einer Liebesgeschichte zum Zweck hat. Haben wir einander also über Posas Freundschaft mißverstanden, so fürchte ich, wir haben es auch über den letzten Zweck der ganzen Tragödie. Lassen Sie mich sie Ihnen aus diesem neuen Standpunkte zeigen; vielleicht, daß manche Mißverhältnisse, an denen Sie bisher Anstoß genommen, sich unter dieser neuen Ansicht verlieren.

Und was wäre also die sogenannte Einheit des Stückes, wenn es Liebe nicht sein soll und Freundschaft nie sein konnte? Von jener handeln die drei ersten Akte, von dieser die zwei übrigen; aber keine von beiden beschäftigt das Ganze. Die Freundschaft opfert sich auf, und die Liebe wird aufgeopfert; aber weder diese, noch jene ist es, der dieses Opfer von der andern gebracht wird. Also muß noch etwas Drittes vorhanden sein, das verschieden ist von Freundschaft und Liebe, für welches beide gewirkt haben, und welchem beide aufgeopfert worden – und wenn das Stück eine Einheit hat, wo anders, als in diesem Dritten, könnte sie liegen?

Rufen Sie sich, lieber Freund, eine gewisse Unterredung zurück, die über einen Lieblingsgegenstand unsers Jahrzehends – über Verbreitung reinerer sanfterer Humanität, über die höchstmögliche Freiheit der Individuen bei des Staats höchster Blüthe, kurz, über den vollendetsten Zustand der Menschheit, wie er in ihrer Natur und ihren Kräften als erreichbar angegeben liegt – unter uns lebhaft wurde und unsere Phantasie in einen der lieblichsten Träume entzückte, in denen das Herz so angenehm schwelgt. Wir schlossen damals mit dem romanhaften Wunsche, daß es dem Zufall, der wohl größere Wunder schon gethan, in dem nächsten Julianischen Cyklus gefallen möchte, unsre Gedankenreihe, unsere Träume und Ueberzeugungen, mit eben dieser Lebendigkeit und mit eben so gutem Willen befruchtet, in dem erstgebornen Sohn eines künftigen Beherrschers von — oder von — auf dieser oder der andern Hemisphäre wieder zu erwecken. Was bei einem ernsthaften Gespräche bloßes Spielwerk war, dürfte sich, wie mir vorkam, bei einem solchen Spielwerk, als die Tragödie ist, zu der Würde des Ernstes und der Wahrheit erheben lassen. Was ist der Phantasie nicht möglich? Was ist einem Dichter nicht erlaubt? Unsere Unterredung war längst vergessen, als ich unterdessen die Bekanntschaft des Prinzen von Spanien machte; und bald merkte ich diesem geistvollen Jüngling an, daß er wohl gar Derjenige sein dürfte, mit dem wir unsern Entwurf zur Ausführung bringen könnten. Gedacht, gethan! Alles fand ich mir, wie durch einen dienstbaren Geist, dabei in die Hände gearbeitet; Freiheitssinn mit Despotismus im Kampfe, die Fesseln der Dummheit zerbrochen, tausendjährige Vorurtheile erschüttert, eine Nation, die ihre Menschenrechte wieder fordert, republikanische Tugenden in Ausübung gebracht, hellere Begriffe im Umlauf, die Köpfe in Gährung, die Gemüther von einem begeisterten Interesse gehoben – und nun, um die glückliche Constellation zu vollenden, eine schön organisierte Jünglingsseele am Thron, in einsamer unangefochtener Blüthe unter Druck und Leiden hervorgegangen. Unglücklich – so machten wir aus – müßte der Königssohn sein, an dem wir unser Ideal in Erfüllung bringen wollten.

»Sein Sie
»Ein Mensch auf König Philipps Thron! Sie haben
»Auch Leiden kennen lernen –«

Aus dem Schooße der Sinnlichkeit und des Glücks durfte er nicht genommen werden; die Kunst durfte noch nicht Hand an seine Bildung gelegt, die damalige Welt ihm ihren Stempel noch nicht aufgedrückt haben. Aber wie sollte ein königlicher Prinz aus dem sechzehnten Jahrhundert – Philipps des Zweiten Sohn – ein Zögling des Mönchvolks, dessen kaum aufwachende Vernunft von so strengen und so scharfsichtigen Hütern bewacht wird, zu dieser liberalen Philosophie gelangen? Sehen Sie, auch dafür war gesorgt. Das Schicksal schenkte ihm einen Freund – einen Freund in den entscheidenden Jahren, wo des Geistes Blume sich entfaltet, Ideale empfangen werden und die moralische Empfindung sich läutert – einen geistreichen, gefühlvollen Jüngling, über dessen Bildung selbst – was hindert mich, dieses anzunehmen? – ein günstiger Stern gewacht, ungewöhnliche Glücksfälle sich ins Mittel geschlagen und den irgend ein verborgner Weise seines Jahrhunderts diesem schönen Geschäft zugebildet hat. Eine Geburt der Freundschaft also ist diese heitere menschliche Philosophie, die der Prinz auf dem Throne in Ausübung bringen will. Sie kleidet sich in alle Reize der Jugend, in die ganze Anmuth der Dichtung; mit Licht und Wärme wird sie in seinem Herzen niedergelegt, sie ist die erste Blüthe seines Wesens, sie ist seine erste Liebe. Dem Marquis liegt äußerst viel daran, ihr diese jugendliche Lebendigkeit zu erhalten, sie als einen Gegenstand der Leidenschaft bei ihm fortdauern zu lassen, weil nur Leidenschaft ihm die Schwierigkeiten besiegen helfen kann, die sich ihrer Ausübung entgegensetzen werden. Sagen Sie ihm, trägt er den Königin auf:

»daß er für die Träume seiner Jugend
»Soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird,
»Nicht öffnen soll dem tödtenden Insekte
»Gerühmter besserer Vernunft das Herz
»Der zarten Götterblume; daß er nicht
»Soll irre werden, wenn des Staubes Weisheit
»Begeisterung, die Himmelstochter, lästert.
»Ich hab‘ es ihm zuvor gesagt –«

Unter beiden Freunden bildet sich also ein enthusiastischer Entwurf, den glücklichsten Zustand hervorzubringen, der der menschlichen Gesellschaft erreichbar ist, und von diesem enthusiastischen Entwurfe, wie er nämlich im Conflict mit der Leidenschaft erscheint, handelt das gegenwärtige Drama. Die Rede war also davon, einen Fürsten aufzustellen, der das höchste mögliche Ideal bürgerlicher Glückseligkeit für sein Zeitalter dereinst wirklich machen sollte – nicht diesen Fürsten erst zu diesem Zwecke zu erziehen; denn dieses mußte längst vorhergegangen sein und konnte auch nicht wohl zum Gegenstand eines solchen Kunstwerks gemacht werden; noch weniger ihn zu diesem Werke wirklich Hand anlegen zu lassen, denn wie sehr würde dieses die engen Grenzen eines Trauerspiels überschritten haben? – Die Rede war davon, diesen Fürsten nur zu zeigen, den Gemütszustand in ihm herrschend zu machen, der einer solchen Wirkung zum Grunde liegen muß, und ihre subjektive Möglichkeit auf einen hohen Grad der Wahrscheinlichkeit zu erheben, unbekümmert, ob Glück und Zufall sie wirklich machen wollen.