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Der Parasit (Picard) – Zweiter Aufzug. Erster Auftritt.

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Narbonne und Selicour sitzen.

Narbonne.
Sind wir endlich allein?

Selicour (unbehaglich).
– Ja.

Narbonne.
Es liegt mir sehr viel an dieser Unterredung. – Ich habe schon eine sehr gute Meinung von Ihnen, Herr Selicour, und bin gewiß, sie wird sich um ein Großes vermehren, ehe wir auseinander gehen. Zur Sache also, und die falsche Bescheidenheit bei Seite. Sie sollen in der Diplomatik und im Staatsrecht sehr bewandert sein, sagt man?

Selicour.
Ich habe viel darin gearbeitet, und vielleicht nicht ganz ohne Frucht. Aber für sehr kundig möchte ich mich denn darum doch nicht –

Narbonne.
Gut! Gut! Fürs erste also lassen Sie hören – Welches halten Sie für die ersten Erfordernisse zu einem guten Gesandten?

Selicour (stockend).
Vor allen Dingen habe er eine Gewandtheit in Geschäften.

Narbonne.
Eine Gewandtheit, ja, aber die immer mit der strengsten Redlichkeit bestehe.

Selicour.
So mein‘ ich’s.

Narbonne.
Weiter.

Selicour.
An dem fremden Hofe, wo er sich aufhält, suche er sich beliebt zu machen.

Narbonne.
Ja! Aber ohne seiner Würde etwas zu vergeben. Er behaupte die Ehre des Staats, den er vorstellt, und erwerbe ihm Achtung durch sein Betragen.

Selicour.
Das ist’s, was ich sagen wollte. Er lasse sich nichts bieten und wisse sich ein Ansehen zu geben. –

Narbonne.
Ein Ansehen, ja, aber ohne Anmaßung.

Selicour.
So mein‘ ich’s.

Narbonne.
Er habe ein wachsames Auge auf alles, was –

Selicour (unterbricht ihn).
Ueberall habe er die Augen; er wisse das Verborgenste aufzuspüren –

Narbonne.
Ohne den Aufpasser zu machen.

Selicour.
So mein‘ ich’s. – Ohne eine ängstliche Neugierde zu verrathen.

Narbonne.
Ohne sie zu haben. – Er wisse zu schweigen, und eine bescheidene Zurückhaltung –

Selicour (rasch).
Sein Gesicht sei ein versiegelter Brief.

Narbonne.
Ohne den Geheimnißkrämer zu machen.

Selicour.
So mein‘ ich’s.

Narbonne.
Er besitze einen Geist des Friedens und suche jeder gefährlichen Mißhelligkeit –

Selicour.
Möglichst vorzubeugen.

Narbonne.
Ganz recht. Er habe eine genaue Kenntniß von der Volksmenge der verschiedenen Länder –

Selicour.
Von ihrer Lage – ihren Erzeugnissen – ihrer Ein- und Ausfuhr – ihrer Handelsbilanz –

Narbonne.
Ganz recht.

Selicour (im Fluß der Rede).
Ihren Verfassungen – ihren Bündnissen – ihren Hilfsquellen – ihrer bewaffneten Macht. –

Narbonne.
Zum Beispiel: angenommen also, es wäre Schweden oder Rußland, wohin man Sie verschickte – so würden Sie wohl von diesen Staaten vorläufig die nöthige Kunde haben.

Selicour (verlegen).
Ich – muß gestehen, daß – Ich habe mich mehr mit Italien beschäftigt. Den Norden kenn‘ ich weniger.

Narbonne.
So! Hm!

Selicour.
Aber ich bin jetzt eben daran, ihn zu studieren.

Narbonne.
Von Italien also!

Selicour.
Das Land der Cäsaren fesselte billig meine Aufmerksamkeit zuerst. Hier war die Wiege der Künste, das Vaterland der Helden, der Schauplatz der erhabensten Tugend! Welche rührende Erinnerungen für ein Herz, das empfindet!

Narbonne.
Wohl! Wohl! Aber auf unser Thema zurück zu kommen!

Selicour.
Wie Sie befehlen! Ach, die schönen Künste haben so viel Anziehendes! Es läßt sich so Vieles dabei denken!

Narbonne.
Venedig ist’s, was mir zunächst einfällt.

Selicour.
Venedig! – Recht! Gerade über Venedig habe ich einen Aufsaß angefangen, worin ich mich über alles ausführlich verbreite. – Ich eile, ihn herzuholen. – (Steht auf.)

Narbonne.
Nicht doch! Nicht doch! Eine kleine Geduld.