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Iphigenie in Aulis – Fünfter Akt. Sechster Auftritt.

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Iphigenie. Klytämnestra. Der Chor.

Iphigenie.
Nun, Mutter! –
Es netzten stille Thränen deine Augen?

Klytämnestra.
Und hab‘ ich etwa keinen Grund zu weinen?
O ich Unglückliche!

Iphigenie.
Nicht doch! Erweichen
Mußt du mich jetzt nicht, Mutter. Eine Bitte
Gewähre mir!

Klytämnestra.
Entdecke sie, mein Kind!
Die Mutter findest du gewiß.

Iphigenie.
Versprich mir,
Dein Haar nicht abzuschneiden, auch kein schwarzes
Gewand um dich zu schlagen –

Klytämnestra.
Wenn ich dich
Verloren habe? Kind, was forderst du?

Iphigenie.
Du hast mich nicht verloren – deine Tochter
Wird leben und mit Glorie dich krönen.

Klytämnestra.
Ich soll mein Kind im Grabe nicht betrauern?

Iphigenie.
Nein, Mutter! Für mich gibt’s kein Grab.

Klytämnestra.
Wie das?
Führt nicht der Tod zum Grab?

Iphigenie.
Der Tochter Zeus‘
Geheiligter Altar dient mir zum Grabe.

Klytämnestra.
Du hast mich überzeugt. Ich will dir folgen.

Iphigenie.
Beneide mich als eine Selige,
Die Segen brachte über Griechenland.

Klytämnestra.
Was aber hinterbring‘ ich deinen Schwestern?

Iphigenie.
Auch sie laß keinen Trauerschleier tragen.

Klytämnestra.
Darf ich die Schwestern nicht mit einem Worte
Der Liebe noch von dir erfreuen?

Iphigenie.
Mög‘
Es ihnen wohl ergehen! – Diesen da (auf Orestes zeigend)
Erziehe mir zum Mann!

Klytämnestra.
Küss‘ ihn noch einmal,
Zum letztenmale!

Iphigenie (ihn umarmend).
Liebstes Herz! Was nur
In deinen kleinen Kräften hat gestanden,
Das hast du redlich heut an mir gethan!

Klytämnestra.
Kann ich noch etwas Angenehmes sonst
In Argos dir erzeigen?

Iphigenie.
Meinen Vater
Und deinen Gatten – hass‘ ihn nicht!

Klytämnestra.
O, Der
Soll schwer genug an dich erinnert werden!

Iphigenie.
Ungern läßt er für Griechenland mich bluten.

Klytämnestra.
Sprich: hinterlistig, niedrig, ehrenlos,
Nicht, wie es einem Sohn des Atreus ziemet!

Iphigenie (sich umschauend).
Wer führt mich zum Altar? – Denn an den Locken
Möcht‘ ich nicht hingerissen sein.

Klytämnestra.
Ich selbst.

Iphigenie.
Nein, nimmermehr!

Klytämnestra.
Ich fasse deinen Mantel.

Iphigenie.
Sei mir zu Willen, Mutter, bleib! – Das ist
Anständiger für dich und mich! – Hier von
Des Vaters Dienern findet sich schon einer,
Der zu Dianens Wiese mich begleitet,
Wo ich geopfert werden soll. (Sie wendet sich zum Gefolge.)

Klytämnestra (folgt ihr mit den Augen).
Du gehst,
Mein Kind?

Iphigenie.
Um nie zurück zu kehren!

Klytämnestra.
Verlässest deine Mutter?

Iphigenie.
Und unwürdig
Von ihr gerissen, wie du siehst.

Klytämnestra.
O bleib!
Verlaß mich nicht! (Will auf sie zueilen.)

Iphigenie (tritt zurück).
Nein, keine Thränen mehr!
(Sie redet den Chor an, mit dem sie gekommen ist.)
Ihr Jungfrau’n, stimmt der Tochter Jupiters
Ein hohes Loblied an aus meinen Leiden,
Zum frohen Zeichen für ganz Griechenland!
Das Opfer fange an – Wo sind die Körbe?
Die Flamme lodre um den Opferkuchen!
Mein Vater fasse den Altar! Ich geh,
Heil und Triumph zu bringen den Achivern.
Kommt, führt mich hin, der Phrygier und Trojer
Furchtbare Ueberwinderin! Gebt Kronen,
Gebt Blumen, diese Locken zu bekränzen!
Erhebt den Tanz um den besprengten Tempel,
Um den Altar der Königin Diana,
Der Göttlichen, der Seligen! Denn, nun
Es einmal sein muß, will ich das Orakel
Mit meinem Blut und Opfertode tilgen.

Chor (wendet sich gegen Klytämnestra, die in stumme Traurigkeit versenkt steht).
Bald, bald, ehrwürd’ge Mutter, weinen wir mit dir!
Die heil’ge Handlung duldet keine Thränen.

Iphigenie.
Helft mir Dianen preisen, Jungfrauen,
Die, Chalcis nahe Nachbarin, in Aulis
Gebietet, wo die Flotte Griechenlands
Im engen Hafen meinetwegen weilet!
O Argos, mütterliches Land! und du,
Der frühen Kindheit Pflegerin, Mycene!

Chor.
Die Stadt des Perseus rufst du an, von den
Cyklopen für die Ewigkeit gegründet!

Iphigenie.
Ein schöner Stern ging den Achivern auf
In deinem Schooß – Doch nein! ich will ja freudig sterben.

Chor.
Im Ruhm wirst du unsterblich mit uns leben.

Iphigenie.
O Fackel Jovis! Schöner Strahl des Tages!
Ein ander Leben thut sich mir jetzt auf,
Zu einem andern Schicksal scheid‘ ich über.
Geliebte Sonne, fahre wohl! (Sie geht ab.)