HomeDie Horen1797 - Stück 4II. Schreiben Herrn Müllers. [F. Müller]

II. Schreiben Herrn Müllers. [F. Müller]

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Mahlers in Rom über die Ankündigung des Herrn Fernow von der Ausstellung des Herrn Profeßor Carstens in Rom.

Schluß.

Wäre es endlich Zeit, das Resultat unserer bisherigen Beleuchtungen zusammen zu fassen, und den Luchs aus dem Löwen-Bette zu verjagen, wohin ihn eine verblendete Vorliebe gefährlich eingeschoben hat? Wenn der Herr Professor hier sich ein wenig in der Enge fühlt, so messe er alle Schuld sich selbsten bey. Mit ein bischen mehr Rüksicht auf andre, und Unterdrückung seiner ungeheuern Eigenliebe, hätte er einer Begegnung ausweichen können, die für uns beyde gewiss nichts erfreuliches hat: denn schwerlich wird nach der Lage der Sachen sich ein Vernünftiger überzeugen können, daß er nicht selbst diese Ankündigung vorher gesehn, und mit seinem eignen Beyfalle zum Drucken befördert habe; noch solch einem Schritte, was könnte auch vor den gelindesten Richtern für ihn übrig bleiben? wenn das Gefühl eigner Geringfügigkeit (denn nur die Angst unbemerkt zu bleiben, kann zu solch unschicklichem Vordringen stacheln) ihn zu sehr peinigte, blieb keine andere Form übrig, das zu stillen, als diejenige, seinen Stuhl so unverschämt auf den Nacken einer jetzt lebenden Künstlerschaft hinpflanzen zu wollen? Überlegte er wohl, auf welch gefährlichen Punkt ihn solche Unvorsichtigkeit hinleitete, sich selbst vor einem gerüsteten Heere zum Ziele auszustellen? Wenn es der Besten einem einfiele, vor hinlänglichern Richtern, ihm entgegen zu treten, wenn er von blitzender Egide der Phantasie umgeben, mit einer durchs Wissen vulkanisch gerüsteten Faust auf ihn einstürmte, würde dann ein punisches Geschrey ihn hinter der ausgestopften Herkuleskeule noch retten?

Doch wir müssen ihn nicht zu tief sinken lassen, sondern in Betracht, daß er unser Kunst-Bruder ist, vielmehr ihn als einen Kranken und in eigne Waffen Gefallnen mitleidig ansehn, und darum liebreich ihm unter die Arme greifen, indem ich, statt jener auf seien Rechnung angefüllten Schläuche voll faulen Windes, hier (jeder giebt was er hat) ihm ein Körbchen mit frischen, auf eignem Grunde gezognen Früchten darreiche, bis, wenn sie auch, gleich den Hesperidischen, nicht leuchten, in jetziger Lage dennoch ihn stärken sollen. Er lasse es sich darum nicht niederschlagen, daß er kein Original-Genie, kein Original-Genie, kein Titanen Bruder (nicht ich, die Natur spricht das Urtheil, die jedem Talent sein Spiel-Raum anweißt, welchen er ausfüllen, aber nie überschreiten kann) ist, noch seyn könne, mit zu viel andern hat er gleiches Schicksal gemein. Ihm bleiben Eigenschaften genug übrig, mit denen er in seiner Kunst groß und respektabel werden kann. Ein fertiges Erinnerungs-Vermögen, zu dem aufgeklärter Verstand sich gesellet, vereint mit richtiger Urtheilskraft und gutem Geschmack (Fähigkeiten, die ihn in den Stand setzen, bequem nach andern Produkten sich zu besamen) dringen aus allen seine Arbeiten hervor. Manche, denen man Originalität nicht absprechen konnte, sind beym Mangel hinlänglicher Pflege im eignen Überflusse verarmt; dahingegen andre, welchen die Natur ein geringeres Pfund verliehen hatte, mit Emsigkeit und durch ein glückliches Wuchern in der Kunst sich aufhelfen und so ihren Funken an der Gluth mächtiger Sonne anflammten. Dies wäre der Punkt, worauf er jetzt vorzüglich spannen sollte, wobey Dominichino, Nick, Poußin, Eust. Lesueur, ja selbst Hannibal Caracci zu schicklichen Geleitern ihm dienen, die mit gleicher Besamungsgabe, ihn an Kenntniß und Wissenschaft so weit hinter sich zurücke lassen. Bedacht müßte er daher vor allem seyn, durch Richtung zur Natur seinen Studien mehr Sicherheit zu verleihen, und diese simple Maxime, die bis jetzt in seinem Geiste so viel Widerstand fand, allem Wirken einverleiben, daß auf der Natur nur das Ideal blühe, also in der Vorstellung nichts groß und schön seyn könne, wenn es nicht wahr und richtig ist; daß nur darum Apollo von Belvedere und die Colossen auf Monte Cavallo uns gefallen dürfen, weil sie diesen Widerspruchsfreyen Charakter an sich tragen. Vor allem müßte er kräftig ringen, den materiellen Thiel seiner Kunst unter sich zu bringen; das heißt: als Mahler gut und schön mahlen zu können, nicht weil Rafael, Mich. Angelo, da Vinci, Frau Bartholomeo, Andrea del Sarto etc. die ächte Erzväter des funfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts ein gleiches gethan; sondern weil die Natur in ihrem Farben-Reichthume und Plastick, belehrende Winke für angenehme Rundung im Auftrage, Harmonie und liebliches Colorit giebt, wobey selbst die Wahrheit durch Leichtigkeit und Ordnung erhellet, für den Antheil ein neues und schöneres Leben gewinnet. Er lasse letzlich es für einen Pythischen Ausspruch bey sich gelten, daß man eben so wenig in der Kunst als auf der Wage es Wechslers scheinen dürfe, daher das, wofür man gelten will, rein nach dem Werthe wiegen müsse, wenn der Antheil, den wir fodern, uns nicht bald versagen soll; kurz daß ein Kunstwerk nicht ausser sich, sondern allein in sich selbst seine Stütze finden müsse. Wird er dann auf solchen Wegen auch nur ein einziges Stück, eine Figur nur, der Wahrheit getreu, vollenden, und so das heilige Feuer, welches, im Gefühle der Schönheit, zum Adel der Menschheit im Menschen ruht, aufbewahren, so kann er für seine Beruhigung als Künstler getrost die Augen schliessen, er hat zum Besten der Kunst, bey jetziger Lage der Dinge, zu ihrem Fortgang nach der Vollkommenheit hin, dann genug und mehr beygetragen, als durch viele solcher Ausstellungen. Ein Longin günstigerer Jahrhunderte wird einst zu neuer Flamme den unverloschnen Funken anfachen, und seinem Genius, wenn auch die Asche von ihm lange verwehet ist, den Kranz aufsetzen, welcher von der Unsterblichkeit selbst dem bescheidnen Ringer nach Vollkommenheit geflochten ist.

Dies wäre es, bester Freund, was ich Ihnen über den Künstlercharakter des Herrn Professor Carstens, bey Gelegenheit der Fernowschen Ankündigung zu sagen habe. Schliessen Sie nun auf das Weitere selbst. Sie sehen, daß jene Kunstepoche, die mit einem Bauche voll Verderben Ihre Imagination bisher, gleich dem Trojanischen Pferde bedrohet hatte, nun da ihre besten Stützen niedergesagt sind, in ein leeres Brettergerüst, mit hohlem Gepolter zusammenstürzet. Bey diesem Falle halte ich mich meiner ersten Pflicht entledigt, und trage nun auch die zweyte, Ihnen über einiges, was der Herr Verf. Als spekulativer Kopf berühren wollen, meine Bemerkungen mitzutheilen, um so hurtiger ab, damit ich von meiner Freyheit, der ich, wie Shakespears Ariel im Sturme, voll Hofnungswonne mich entgegensehen, bald genug gänzlichen Besitz nehmen kann. Bevor wir uns aber zu diesem letzten Gange anschicken, erlauben Sie mir, daß ich in einer kurzen Apostrophe zuerst mich an meine hiesige Genossen, insbesondere deutsche Kunstbrüder wende, und ihnen, die unter jener grossen Beleuchtung von heutigen Künstlern, durch eine so ehrenvolle Ausnahme und Erhöhung des Einzigen sich in dieser deutschen Ankündigung nothwendig zuerst und am meisten an Pranger gerückt fühlen, zu Gemüth führe, der Sache nicht mehr Gewicht beyzulegen, als sie verdient; augenscheinlich beweißt die That, daß der Herr Ankündiger sich in der Lage noch nicht befindet, das Eigenthümliche und Schätzbare in der Kunst fassen zu können, er würde sonst durch plumpes Ignoriren mancher dieser heutigen Künstler, die in dem Betracht auch einem halben Auge fühlbar seyn dürften, sich nicht den untersten Beschuldigungen haben blos stellen wollen. Nur Blindheit konnte zu solch einem Seilgange ihn geschickt machen, wofür auch den Kühnsten bey offnen Augen hätte graußen müssen. Ferne sey es daher von mir, bey so leuchtender Unschuld auch nur einem Hauche von falscher Vermuthung weiter gegen ihn Raum zu gönnen, im Gegentheile lade ich jeden ächten Kenner und Künstler mit mir ein, eigner Würde gemäß, zu dessen beßrer Überzeugung beyzutragen, und seinen hier in Nacht und Nebel befangnen Geist, wenn anders dieser nicht lichtscheu, mit Wohlgefallen im Dunkeln irrt, einer glücklichen Morgenröthe desto schneller entgegen zu leiten. Für diese Gutmüthigkeit von unsrer Seite, die der Herr Verfasser ganz allein der Hochachtung beymessen darf, welche wir für jedes Talent, also auch für die seinige hegen, hoffen wir gleichfalls auch, wenn fernerhin ihm belieben sollte, mit dergleichen Ideen spielen zu wollen, daß er dabey ein bischen mehr Respekt für sich selbst, und zugleich für andre sich einpflanzen, und nicht so geradezu zeigen möge, daß die Kunst bey ihm das Plätzchen ist, wo jeder ohne Umstände nach Nothdurft und Bequemlichkeit sich benehmen dürfe. Hauptsächlich wünschen wir, daß er fleißig in jedem Spiegel, den wir beym anfange gleich für ihn aufgestellt haben, sich betrachtete, auch die Feder zum Entscheiden: eher nicht wieder ergreifen wolle, bis er alle Eigenschaften, die wir vom ächten Kunstrichter dort verlangen, sich erworben hat. Freylich werden dann ein paar Dutzend Jährchen bey stillem Fleisse ihm dahin streichen, allein die Ausbeute dürfte dann auch durch ächten Kenntniß-Reichthum und Wahrheits-Schäze für ihn desto ergiebiger seyn, und jede Aufopferung zehnfach ersetzen. Durch eine genaue und zugleich lebendige Übersicht der Theile zum Ganzen würden dann über der Beurtheilung eines Kunstwerks sich Quellen von Grund und Ungrund, von Schätzung und Herabsetzung, von Verdruß und Antheil für ihn aufschliessen, von denen seine bis jetzt schlummernde Theorie ihn nichts träumen lassen konnte. Dann erst dürfte das bey den Italiänern so bedeutene piu è meno, welches nach ihrem Ausdruck den Pietro vom Maestro Pietro unterscheidet, ihm vollkommen fühlbar werden, und ein einzelnes Glied an einer Vorstellung, in so fern es nach seiner Lage und Form, für oder wider die Wahrheit spricht, und dem Ganzen anpasst oder widerstrebet, ein durch das Wissen gerechtfertigtes Vergnügen oder Missvergnügen bey ihm erwecken, welche nach Maaß für sein Gefühl eben so vollzählig seyn würden, wie jene, die aus der Harmonie, oder Disharmonie des Ganzen zu seiner Idee entspringen. Dann erst würde ein plumpes Prahlen nach Anatomie ihn nicht mehr für Knochen und Muskel-Kenntnisse hinhalten, sondern die Richtigkeit ihm allein genug thun können, welche sich in genauer Beobachtung, durch Hervordrang oder Versteckung ersterer, und Steigen oder Sinken letzterer bey der Bewegung nach dem Affekte offenbaret; wie z.B. der Borghesische Fechter, die zwey Ringer in Florenz und Laocoon unter den Antiken, und bey den neuern, die schwebende und sinkende, hangende und tragende Figuren im jüngsten Gerichte Mich. Angelos (welches in diesem Betracht sein Meisterwerk bleibt,) dieß zum Bewundern zeigen. Immer genauer dann die Produkte des Fleisses und Genies unterscheidend, würde er so leicht nicht mehr in Gefahr gerathen, eine durch den Versand zusammengeborgte Kunstarbeit mit einem Werk, das nach tiefer Einsicht und Überzeugung aus der Phantasie hervorgeht, vergleichen zu wollen, und wenn er doch Geistesverwandtschaft aufsuchen müßte, diese weniger dann nach innerer Kraft und Wirkung knüpfen. So auf allen Stufen des Geschmacks, auf jedem Wege der Wahrheit bewandert, würde sein immer anstrebender Geist sich endlich zur Spitze erheben, von dort herab er auf alle Plane der Kunst ungehindert schauen könnte; dann erst dürfte ihr Zweck Sonnenhell und voll wie das Resultat tiefer Überzeugung ihm entgegen leuchten, welcher nur dieser allein ist und seyn kann: ein in der Wahrheit gegründetes Interesse, durch die Schönheit der Vollkommenheit entgegen zu führen etc. Dieses und noch mehreres andere Gute, welches ich der Kürze wegen jetzt übergehe, und für eine bessere Gelegenheit aufspare, sich zueignend, würde eine lang bestätigte Erfahrung, die jungen Theoretikern nur so gerne fremd und unbekannt bleibt, ihm durch die Praktik, dann gemein, wie den Gebrauch seiner eignen Hände machen, nämlich: daß nur der, welcher vieles hat, geben könne, daß aber derjenige, welcher wenig besitzt, und andere doch bereichern will, wenn er auch nicht zu den ganz Verlornen gehört, gewiss nicht solchen beygezählt werden könne, nach welchen beyfällig verständige Leute die Augen richten.

Verzeihen Sie, wenn ich bey dieser unzeitigen Digression, wozu freylich nur die Liebe des Nächsten mich verleiten konnte, Sie gleichsam im Angesichte Ihrer selbst vergessen hatte. Ich bin bereit, und will dadurch alles wieder einbringe, daß ich mich ohne weitern Umschweif jenem Gegenstande, den Ihr deutender Finger für meine Betrachtung auszeichnete, nun entgegenschwinge. Dieser schließt sich, in einer seligen Aussicht für des Herrn Verfassers Geist auf, woran er, durch diese ganze Ankündigung hin, sich weidet, daß es sich nemlich durch eine glückliche Revolution im Geschmack der Künstler, ein neues Leben für die Kunst hoffen lasse. Zwar trat er beym Anfange seines Schreibens mit saurer Meine gegen den Geschmack heutiger Zeit auf, allein das war, wie man bald nachher merken konnte, nur eine Kriegslist, um den einzigen, den er so gerne als den einzigsten Kunstheyland in die Wolken heben wollte, dadurch eine bequemere Nische zu bauen. Er verzeihe mir, wenn ich die Vippern und Basilisken gegen den guten Stil, eben nicht gewahr werde, noch mehr, wenn ich sogar behaupte, daß in keiner Zeit seit Raphael her, so viel reiner Geschmack bey den Künstlern (wenn dieß nur nicht für allgemein gelten soll) geherrscht habe, als in unsern, freylich für die Kunstpflege ungünstigen, Tagen; worinnen dennoch gesunde Critik, mit der Wissenschaft, was die Kunst verlangt, auf einen ungleich höhern Grad gestiegen sind. Die eigentliche Ursache, welche das Aufkommen und die Ausbreitung des guten Geschmacks hindert, müßte daher ganz ausser dem Künstler, vielmehr in der Unfähigkeit, heut zu Tage an der Kunst sich interessiren zu können, das heißt, in einem unförmlich aufgeklärten Jahrhundert gesucht werden, worinn der menschliche Geist durch eine für seine innere Harmonie und moralische Gesundheit unproportionirte Wissenssucht, und ungewöhnliches Bestreben, seine politische Existenz zu erhöhen, für den Genuß, der aus beschaulichem Vergnügen entspricht, ist abgestumpft worden; daß also im Allgemeinen genommen jetzt nur auf eine virtuose Weise grosser Stil und reiner Geschmack, bey glücklicher Cultur des Gefühls und Kunstpflege hier und da Wurzel schlagen und im einzelnen blühen können; daß aber unter einer ungeheuern Masse von Opposition die augenblicklichen Wirkungen davon, ohne feste Spuren hinterlassen zu können, vom anbraußenden Strome immer verschlungen bleiben. Nach dieser Aussicht allein lassen sich so viele widersprechende Äusserungen, welche wir heut zu Tage bey der Kunst wahrnehmen, allein enträthseln. Könnt ein einem Jahrhundert, wo überhaupt die Wirkungen darstellender Genien, dem Zeitvertreib untergeordnet sind, wo Raisonniren höher als Darstellen geschätzt wird, daher die Zunge eines mittelmäßigen Kunstplauderers mehr als die Hand des geschicktesten Künstlers gilt, wo weniger der Künstler seiner Produkte als des Ranges wegen, womit er die Gesellschaft ziert, hervorgezogen ist (einzelne Ausnahmen beweisen nichts gegen das Ganze) wo man der Kunstwerke satt, mit deren Besitznehmung gemeiniglich mehr Nebenabsichten als Pflegung und Genuß für die Kunst selbst verbindet, könnte, frage ich, hier Raphael mehr als Markstein seines eignen Geschmacks seyn? in einer Zeit, wo der Luxus für berauschende Sinnesergötzungen mit der Ökonomie auf moralische, in gleichem Schritte vorangeht, wo Egoismus und Gewinnsucht die bürgerliche Gesellschaft geisseln und bis in die Mecenaten und Kennerschaft eindringen, wo bey der Lauheit im aufmuntern und Unterstützen wahrer Talente, Schiefheit der Direction öffentlicher Anstalten zum Gedeihen der Kunst, dem ächten Künstler nichts übrig bleibt, will er sich nicht zu Fabrikenspeculation herab, oder in eckelhafte Verflechtungen und Cabalen einlassen, wozu ungerne der Genius sich bequemet, als seine Kraft in Projekten zu verdunsten, die selten ihre Wirkungen bis ausser seiner Werkstätte verbreiten können, weil im Betracht notwendiger Kosten, die das Studium fodert, und die er öfters nicht bestreiten kann, ihm, über der Arbeit zur eignen Genughtuung, auch die Hände gebunden sind. Könnte bey solchem Mangel an Gelegenheit auch der mächtigste Genius unerwartete Schritte thun, der, wenn er auch mit der Stirne sich in die Wolken hebt, dennoch wie der Baum mit der Wurzel in der Erde, auf sein Jahrhundert sich begründen muß? Freylich ist’s nicht weniger verdrießlich, guten Geschmack wie gute Sitte zu predigen, nur müßte man erst zusehen, wo und wem; auch nicht gleich sich einen Lucifer zu seyn dünken, der allein des Tages Thore entriegelt. Bevor der Herr Verf. Und sein wackrer Gespann Rom betraten, hat man gewußt, was guter Geschmack in der Kunst heisse, wer Raphael, Michael Angelo und die Antiken seyen, das alles hat man durch die That beiwesen, wie der Augenschein in mancher Künstler-Werkstätte hier bewähren kann: dennoch ist bey Vernünftigen kein Hauch zu solchen Prätensionen erwacht, weil keine Wahrscheinlichkeit dem Verstande für die mindeste Erfüllung Gewährschaft leisten konnte.

Fühlt der Herr Verf. sich als einen hundertarmigen Briareus, alle Unschicklichkeiten, welche jetzt die Kunst beklemmen, aus dem Wege zu räumen? Besitzt er die Orpheische Leyer, die bellende Herzzerfressende Hyäne zu stillen? Vermag er die taumelnde Menade zur naiven Grazie umzubilden? durch eine eben so starke Erhöhung des Gefühls zum Schönen, den Vorsprung, welchen der Verstand zu rasch gethan hat, auszugleichen, im Harmonievollen Umlaufe der Kräfte frisch den Lebenspuls zu wecken, und so im Verlangen nach edlerem Genusse den bildenden Künsten aufs neue Antheil zu bereiten? Vermag er das? was nur bey langsamer Umwälzung vielleicht vieler Jahrhunderte sich von der Natur hoffen läßt, die nach immerwährenden Kreislaufe durch alle Grade von Perfectionen nothwendig wieder zur ersten Simplicität, woraus sie, wer weiß wie vielmal schon, von andern Seiten ausgegangen war, zurückkehren muß. Darf er in das mächtige Rad eingreifen und seinen schweren Gang nach diesem Gleichgewichte beeiligen? Wohl! wo nicht, so sage er allen schönen Hoffnungen gute Nacht, das Leben der Kunst durch die Wirkung eines oder mehrerer Künstler heut zu Tage erhöht zu sehn, es wird nicht gelingen, legte auch Apollo selbst mit allen Neunen Hand an das Werk: denn wo dem Künstler nicht sein Jahrhundert Ambos ist, und im Geiste der Zeitgenossen keine zum Antheil bereitwillige Materie für ihn liegt, wird zum Schmieden sein Arm vergeblich den Hammer durch die Luft treiben, strotzte auch jede seiner Adern von prometheischer Kraft.

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