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297. An Schiller, 15. April 1797

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Schon durch Humboldt habe ich vernommen, daß Ihr Ernst wieder außer Gefahr sei und mich im stillen darüber gefreut; nun wünsche ich Ihnen herzlich zu dessen Genesung Glück.

Das Oratorium ist gestern recht gut aufgeführt worden und ich habe manche Betrachtung über historische Kunst machen können. Es ist recht schade daß wir dergleichen Erfahrungen nicht gemeinschaftlich erleben, denn wir würden uns doch viel geschwinder in dem Einen, was noth ist bestärken.

Montags gehen die vier Ersten Musen ab, indeß ich mich mit den fünf letztern fleißig beschäftige, und nun besonders die prosodischen Bemerkungen Freund Humboldts benutze.

Zugleich habe ich noch immer die Kinder Israel in der Wüste begleitet, und kann bei Ihren Grundsätzen hoffen, daß dereinst mein Versuch über Moses Gnade vor Ihren Augen finden soll. Meine kritisch-historisch-poetische Arbeit geht davon aus: daß die vorhandenen Bücher sich selbst widersprechen und sich selbst verrathen, und der ganze Spaß den ich mir mache, läuft dahinaus , das menschlich wahrscheinliche von dem absichtlichen und blos imaginirten zu sondern und doch für meine Meinung überall Belege aufzufinden. Alle Hypothesen dieser Art bestechen blos durch das Natürliche des Gedankens und durch die Mannigfaltigkeit der Phänomene auf die er sich gründet. Es ist mir recht wohl, wieder einmal etwas auf kurze Zeit zu haben bei dem ich mit Interesse, im eigentlichen Sinne, spielen kann. Die Poesie, wie wir sie seit einiger Zeit treiben, ist eine gar zu ernsthafte Beschäftigung. Leben Sie recht wohl und erfreuen sich der schönen Jahrszeit.

Weimar den 15. April 1797.

G.