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359. An Goethe, 7. September 1797

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Jena den 7. September 1797. erh. Stäfa den 23. Sept.

Endlich fange ich an, mich wieder zu fühlen und meine Stimmung wieder zu finden. Nach Abgang meines letzten Briefs an Sie hatte sich mein Uebel noch verschlimmert, ich habe mich lange nicht so schlimm befunden, bis endlich ein Vomitiv die Sachen wieder in Ordnung brachte. Fast alle meine Beschäftigungen stockten indessen und die wenigen leidlichen Augenblicke, die ich hatte, nahm der Almanach in Anspruch. Solch eine Beschäftigung hat durch ihren ununterbrochenen und unerbittlich gleichen Rhythmus etwas wohlthätiges, da sie die Willkür aufhebt und sich streng, wie die Tagszeit, meldet. Man nimmt sich zusammen, weil es sein muß, und bei bestimmten Forderungen, die man an sich macht, geschieht die Sache auch nicht schlechter. Wir sind mit dem Druck des Almanachs jetzt bald im reinen, und wenn die Beiwerke, Decke, Titelkupfer und Musik, keinen Aufenthalt machen, kann das Werkchen vor Michaelis noch versendet werden.

Mit dem Ibycus habe ich nach Ihrem Rath wesentliche Veränderungen vorgenommen, die Exposition ist nicht mehr so dürftig, der Held der Ballade interessirt mehr, die Kraniche füllen die Einbildungskraft auch mehr, und bemächtigen sich der Aufmerksamkeit genug, um bei ihrer letzten Erscheinung, durch das vorhergehende, nicht in Vergessenheit gebracht zu sein.

Was aber Ihre Erinnerung in Rücksicht auf die Entwicklung betrifft, so war es mir unmöglich, hierin ganz Ihren Wunsch zu erfüllen – Lasse ich den Ausruf des Mörders nur von den nächsten Zuschauern gehört werden, und unter diesen eine Bewegung entstehen, die sich dem Ganzen, nebst ihrer Veranlassung, erst mittheilt, so bürde ich mir ein Detail auf, das mich hier, bei so ungeduldig forteilender Erwartung, gar zu sehr embarrassirt, die Masse schwächt, die Aufmerksamkeit vertheilt u. s. w. Meine Ausführung soll aber nicht ins Wunderbare gehen, auch schon bei dem ersten Concept fiel mir das nicht ein, nur hatte ich es zu unbestimmt gelassen. Der bloße natürliche Zufall muß die Katastrophe erklären. Dieser Zufall führt den Kranichzug über dem Theater hin, der Mörder ist unter den Zuschauern, das Stück hat ihn zwar nicht eigentlich gerührt und zerknirrscht, das ist meine Meinung nicht, aber es hat ihn an seine That und also auch an das, was dabei vorgekommen, erinnert, sein Gemüth ist davon frappirt, die Erscheinung der Kraniche muß also in diesem Augenblick ihn überraschen, er ist ein roher dummer Kerl, über den der momentane Eindruck alle Gewalt hat. Der laute Ausruf ist unter diesen Umständen natürlich.

Da ich ihn oben sitzend annehme, wo das gemeine Volk seinen Platz hat, so kann er erstlich die Kraniche früher sehen, eh sie über der Mitte des Theaters schweben; dadurch gewinn‘ ich, daß der Ausruf der wirklichen Erscheinung der Kraniche vorhergehen kann, worauf hier viel ankommt, und daß also die wirkliche Erscheinung derselben bedeutender wird. Ich gewinne zweitens, daß er, wenn er oben ruft, besser gehört werden kann. Denn nun ist es gar nicht unwahrscheinlich, daß ihn das ganze Haus schreien hört, wenn gleich nicht alle seine Worte verstehen.

Dem Eindruck selbst, den seine Exclamation macht, habe ich noch eine Strophe gewidmet, aber die wirkliche Entdeckung der That, als Folge jenes Schreies, wollte ich mit Fleiß nicht umständlicher darstellen: denn sobald nur der Weg zu Auffindung des Mörders geöffnet ist (und das leistet der Ausruf, nebst dem darauf folgenden verlegenen Schrecken), so ist die Ballade aus; das andere ist nichts mehr für den Poeten.

Ich habe die Ballade, in ihrer nun veränderten Gestalt, an Böttiger gesendet, um von ihm zu erfahren, ob sich nichts darin mit altgrichischen Gebräuchen im Widerspruch befindet. Sobald ich sie zurückerhalte, lege ich die letzte Hand daran und eile dann damit in Druck. In meinem nächsten Briefe hoffe ich sie Ihnen nebst dem ganzen Rest des Almanachs abgedruckt zu senden. Auch Schlegel hat noch eine Romanze geschickt, worin Arions Geschichte mit dem Delphin behandelt ist. Der Gedanke wäre recht gut, aber die Ausführung däucht mir kalt, trocken und ohne Interesse zu sein. Er wollte auch die Sacontala als Ballade bearbeiten; ein sonderbares Unternehmen für ihn, wovor ihn sein guter Engel bewahren wolle.

Ihren vorletzten Brief vom 16. August erhielt ich viel später, da Böttiger, der ihn zu besorgen hatte, abwesend war. Das sentimentale Phänomen in Ihnen befremdet mich gar nicht, und mir dünkt, Sie selbst haben es sich hinlänglich erklärt. Es ist ein Bedürfniß poetischer Naturen, wenn man nicht überhaupt menschlicher Gemüther sagen will, so wenig leeres als möglich um sich zu leiden, so viel Welt, als nur immer angeht, sich durch die Empfindung anzueignen, die Tiefe aller Erscheinungen zu suchen, und überall ein Ganzes der Menschheit zu fordern. Ist der Gegenstand als Individuum leer und mithin in poetischer Hinsicht gehaltlos, so wird sich das Ideenvermögen daran versuchen und ihn von seiner symbolischen Seite fassen, und so eine Sprache für die Menschheit daraus machen. Immer aber ist das Sentimentale (in gutem Sinn) ein Effect des poetischen Strebens, welches, sei es aus Gründen die in dem Gegenstand, oder solchen, die in dem Gemüth liegen, nicht ganz erfüllt wird. Eine solche poetische Forderung, ohne eine reine poetische Stimmung und ohne einen poetischen Gegenstand, scheint Ihr Fall gewesen zu sein, und was Sie mithin an sich erfuhren, ist nichts als die allgemeine Geschichte der sentimentalischen Empfindungsweise und bestätiget alles das, was wir darüber mit einander festgesetzt haben.

Nur eins muß ich dabei noch erinnern. Sie drücken sich so aus, als wenn es hier sehr auf den Gegenstand ankäme; was ich nicht zugeben kann. Freilich der Gegenstand muß etwas bedeuten, so wie der poetische etwas sein muß; aber zuletzt kommt es auf das Gemüth an, ob ihm ein Gegenstand etwas bedeuten soll, und so däucht mir das Leere und Gehaltreiche mehr im Subject als im Object zu liegen. Das Gemüth ist es, welches hier die Grenze steckt, und das Gemeine oder Geistreiche kann ich auch hier wie überall nur in der Behandlung, nicht in der Wahl des Stoffes finden. Was Ihnen die zwei angeführten Plätze gewesen sind, würde Ihnen unter andern Umständen, bei einer mehr aufgeschlossenen poetischen Stimmung, jede Straße, Brücke, jedes Schiff, ein Pflug oder irgend ein anderes mechanisches Werkzeug vielleicht geleistet haben.

Entfernen Sie aber ja diese sentimentalen Eindrücke nicht, und geben Sie denselben einen Ausdruck so oft Sie können. Nichts, außer dem poetischen, reinigt das Gemüth so sehr von dem Leeren und Gemeinen, als diese Ansicht der Gegenstände, eine Welt wird dadurch in das einzelne gelegt, und die flachen Erscheinungen gewinnen dadurch eine unendliche Tiefe. Ist es auch nicht poetisch, so ist es, wie Sie selbst es ausdrücken, menschlich: und das menschliche ist immer der Anfang des poetischen, das nur der Gipfel davon ist.

Heute, als den 8ten, erhalte ich einen Brief von Cotta der mir sagt, daß Sie seit dem 30sten in Stuttgart wären. Ich kann Sie mir nicht in Stuttgart denken, ohne gleichfalls in eine sentimentale Stimmung zu gerathen. Was hätte ich vor sechzehn Jahren darum gegeben, Ihnen auf diesem Boden zu begegnen, und wie wunderbar wird mir’s, wenn ich die Zustände und Stimmungen, welche dieses Local mir zurückruft, mit unserm gegenwärtigen Verhältnis zusammendenke.

Ich bin sehr erwartend, wie lang Sie in dortigen Gegenden zu verweilen Neigung und Veranlassung gefunden. Hoffentlich fand Sie mein Brief vom 30sten noch dort; der gegenwärtige aber trifft Sie wahrscheinlich erst in Zürich und bei unserm Freund, den ich herzlich grüße.

Schreiben Sie mir doch in Ihrem nächsten Briefe, wie es mit den für Sie bestimmten Exemplarien des Almanachs soll gehalten werden, wohin und an wen ich sie zu schicken habe.

Herzlich freue ich mich, daß Sie auch an die Horen gedacht haben und mich auf den October etwas dafür hoffen lassen. Bei den Anstalten, die Sie machten sich der Erfahrungsmasse um Sie herum zu bemächtigen, muß Ihnen ein unerschöpflicher Stoff zufließen.

Es war mir sehr angenehm, daß Hölderlin sich Ihnen noch präsentirt hat; er schrieb mir nichts davon, daß er’s thun wollte und muß sich also auf einmal ein Herz gefaßt haben. Hier ist auch wieder ein poetisches Genie, von Schlegels Art und Weise. Sie werden ihn im Almanach finden. Er hat Schlegels Pygmalion nachgeahmt und in demselben Geschmack einen symbolischen Phaethon geliefert. Das Product ist närrisch genug, aber die Versification und einzelne gute Gedanken geben ihm doch einiges Verdienst.

Leben Sie recht wohl und fahren Sie fort wie bisher mich Ihrem Geiste folgen zu lassen. Herzliche Grüße von meiner Frau. Ihr Kleiner höre ich ist ganz wieder hergestellt.

Sch.