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391. An Schiller, 23. Dezember 1797

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In der Beilage erhalten Sie meinen Aufsatz, den ich zu beherzigen, anzuwenden, zu modificiren und zu erweitern bitte. Ich habe mich seit einigen Tagen dieser Kriterien beim Lesen der Ilias und des Sophokles bedient, so wie bei einigen epischen und tragischen Gegenständen, die ich in Gedanken zu motiviren versuchte, und sie haben mir sehr brauchbar, ja entscheidend geschienen.

Es ist mir dabei recht aufgefallen, wie es kommt, daß wir Modernen die Genres so sehr zu vermischen geneigt sind, ja daß wir gar nicht einmal im Stande sind sie von einander zu unterscheiden. Es scheint nur daher zu kommen, weil die Künstler, die eigentlich die Kunstwerke innerhalb ihrer reinen Bedingungen hervorbringen sollten, jenem Streben der Zuschauer und Zuhörer, alles völlig wahr zu finden, gefällig nachgeben. Meyer hat bemerkt, daß man alle Arten der bildenden Kunst hat bis zur Malerei hinantreiben wollen, indem diese durch Haltung und Farben die Nachahmung als völlig wahr darstellen kann. So sieht man auch im Gang der Poesie daß alles zum Drama, zur Darstellung des vollkommen Gegenwärtigen sich hindrängt. So sind die Romane in Briefen völlig dramatisch, man kann deßwegen mit Recht förmliche Dialoge, wie auch Richardson gethan hat, einschalten; erzählende Romane mit Dialogen untermischt würden dagegen zu tadeln sein.

Sie werden hundertmal gehört haben, daß man nach Lesung eines guten Romans gewünscht hat, den Gegenstand auf dem Theater zu sehen, und wie viel schlechte Dramen sind daher entstanden! Eben so wollen die Menschen jede interessante Situation gleich in Kupfer gestochen sehen; damit nur ja ihrer Imagination keine Thätigkeit übrig bleibe, so soll alles sinnlich wahr, vollkommen gegenwärtig, dramatisch sein und das Dramatische selbst soll sich dem wirklich Wahren völlig an die Seite stellen. Diesen eigentlich kindischen, barbarischen, abgeschmackten Tendenzen sollte nun der Künstler aus allen Kräften widerstehen, Kunstwerk von Kunstwerk durch undurchdringliche Zauberkreise sondern, jedes bei seiner Eigenschaft und seinen Eigenheiten erhalten, so wie es die Alten gethan haben und dadurch eben solche Künstler wurden und waren. Aber wer kann sein Schiff von den Wellen sondern, auf denen es schwimmt? Gegen Strom und Wind legt man nur kleine Strecken zurück.

So war z. B. bei den Alten das Basrelief ein nur wenig erhobenes Werk, eine flache geschmackvolle Andeutung eines Gegenstandes auf einer Fläche; allein dabei konnte der Mensch nicht bleiben, es wurde halb erhoben, ganz erhoben, Glieder abgesondert, Figuren abgesondert, Perspective angebracht, Straßen, Wolken, Berge und Landschaften vorgestellt, und weil nun auch dies durch Menschen von Talent geschah, so fand das völlig Unzulässige desto eher Eingang, als man es dadurch gerade dem ungebildeten Menschen um so mehr nach seinem Sinne machte. So kommt unter Meyers Abhandlung die sehr artige, hierher gehörige Geschichte vor, wie man in Florenz die aus Thon gebildeten Figuren erst glasirt, dann einfärbig, endlich mehrfärbig gemalt und emaillirt hat.

Um nun zu meinem Aufsatze zurückzukommen, so habe ich den darin aufgestellten Maßstab an Hermann und Dorothea gehalten und bitte Sie desgleichen zu thun, wobei sich ganz interessante Bemerkungen machen lassen, als z. B.

1. Daß kein ausschließlich episches Motiv, das heißt kein retrogradirendes, sich darin befinde, sondern daß nur die vier andern, welche das epische Gedicht mit dem Drama gemein hat, darinne gebraucht sind.

2. Daß es nicht außer sich wirkende, sondern nach innen geführte Menschen darstellt und sich auch dadurch von der Epopöe entfernt und dem Drama nähert.

3. Daß es sich mit Recht der Gleichnisse enthält, weil bei einem mehr sittlichen Gegenstande das Zubringen von Bildern aus der physischen Natur nur mehr lästig gewesen wäre.

4. Daß es aus der dritten Welt, ob es gleich nicht auffallend ist , noch immer genug Einfluß empfangen hat, indem das große Weltschicksal theils wirklich, theils durch Personen, symbolisch, eingeflochten ist und von Ahnung, von Zusammenhang einer sichtbaren und unsichtbaren Welt doch auch leise Spuren angegeben sind; welches zusammen nach meiner Ueberzeugung an die Stelle der alten Götterbilder tritt, deren physisch-poetische Gewalt freilich dadurch nicht ersetzt wird.

Schließlich muß ich noch von einer sonderbaren Aufgabe melden, die ich mir in diesen Rücksichten gegeben habe, nämlich zu untersuchen: ob zwischen Hektors Tod und der Abfahrt der Griechen von der Trojanischen Küste, noch ein episches Gedicht inne liege, oder nicht? ich vermuthe fast das letzte und zwar aus folgenden Ursachen:

1. Weil sich nichts Retrogradirendes findet , sondern alles unaufhaltsam vorwärts schreitet.

2. Weil alle noch einigermaßen retardirende Vorfälle das Interesse auf mehrere Menschen zerstreuen und, obgleich in einer großen Masse, doch Privatschicksalen ähnlich sehn. Der Tod des Achilles scheint mir ein herrlich tragischer Stoff, der Tod des Ajax, die Rückkehr des Philoktet sind uns von den Alten noch übrig geblieben. Polyrena, Hekuba und andere Gegenstände aus dieser Epoche waren auch behandelt. Die Eroberung von Troja selbst ist, als ein Erfüllungsmoment eines großen Schicksals, weder episch noch tragisch und kann bei einer ächten epischen Behandlung nur immer vorwärts oder rückwärts in der Ferne gesehen werden. Virgils rhetorisch-sentimentale Behandlung kann hier nicht in Betracht kommen.

So viel von dem was ich gegenwärtig einsehe, salvo meliori; denn, wenn ich mich nicht irre, so ist diese Materie, wie viele andere, eigentlich theoretisch unaussprechlich; was das Genie geleistet hat sehen wir allenfalls, wer will sagen was es leisten könnte oder sollte.

Nun da die Boten gehen, nur noch ein Lebewohl für Sie und Ihre liebe Frau. Halten Sie sich ja stille bis die böse Zeit vorüber ist. Von unserm Almanach höre ich überall her manches gute; wann ich kommen kann weiß ich noch nicht, die Theaterangelegenheiten halten mich fürcht‘ ich länger als ich glaubte, so lebhaft auch mein Wunsch ist Sie wiederzusehen. Nochmals ein Lebe Wohl.

Weimar den 23. December 1797.

G.

Ueber epische und dramatische Dichtung
von
Goethe und Schiller.

Der Epiker und Dramatiker sind beide den allgemeinen poetischen Gesetzen unterworfen, besonders dem Gesetze der Einheit und dem Gesetze der Entfaltung; ferner behandeln sie beide ähnliche Gegenstände, und können beide alle Arten von Motiven brauchen; ihr großer wesentlicher Unterschied beruht aber darin, daß der Epiker die Begebenheit als vollkommen vergangen vorträgt, und der Dramatiker sie als vollkommen gegenwärtig darstellt. Wollte man das Detail der Gesetze, wonach beide zu handeln haben, aus der Natur des Menschen herleiten, so müßte man sich einen Rhapsoden und einen Mimen, beide als Dichter, jenen mit seinem ruhig horchenden, diesen mit seinem ungeduldig schauenden und hörenden Kreise umgeben, immer vergegenwärtigen, und es würde nicht schwer fallen zu entwickeln, was einer jeden von diesen beiden Dichtarten am meisten frommt, welche Gegenstände jede vorzüglich wählen, welcher Motive sie sich vorzüglich bedienen wird! ich sage vorzüglich: denn, wie ich schon zu Anfang bemerkte, ganz ausschließlich kann sich keine etwas anmaßen.

Die Gegenstände des Epos und der Tragödie sollten rein menschlich, bedeutend und pathetisch sein: die Personen stehen am besten auf einem gewissen Grade der Cultur, wo die Selbstthätigkeit noch auf sich allein angewiesen ist, wo man nicht moralisch, politisch, mechanisch, sondern persönlich wirkt. Die Sagen aus der heroischen Zeit der Griechen waren in diesem Sinne den Dichtern besonders günstig.

Das epische Gedicht stellt vorzüglich persönlich beschränkte Thätigkeit, die Tragödie persönlich beschränktes Leiden vor; das epische Gedicht den außer sich wirkenden Menschen: Schlachten, Reisen, jede Art von Unternehmung die eine gewisse sinnliche Breite fordert; die Tragödie den nach innen geführten Menschen, und die Handlungen der ächten Tragödie bedürfen daher nur weniges Raums.

Der Motive kenne ich fünferlei Arten:

  1. Vorwärtsschreitende, welche die Handlung fördern; deren bedient sich vorzüglich das Drama
  2. Rückwärtsschreitende, welche die Handlung von ihrem Ziele entfernen; deren bedient sich das epische Gedicht fast ausschließlich.
  3. Retardirende, welche den Gang aufhalten, oder den Weg verlängern; dieser bedienen sich beide Dichtarten mit dem größten Vortheile.
  4. Zurückgreifende, durch die dasjenige was vor der Epoche des Gedichts geschehen ist, hereingehoben wird.
  5. Vorgreifende, die dasjenige was nach der Epoche des Gedichts geschehen wird, anticipiren; beide Arten braucht der epische so wie der dramatische Dichter, um sein Gedicht vollständig zu machen.

Die Welten, welche zum Anschauen gebracht werden sollen, sind beiden gemein:

  1. die physische, und zwar erstlich die nächste, wozu die dargestellten Personen gehören und die sie umgiebt. In dieser steht der Dramatiker meist auf Einem Punkte fest, der Epiker bewegt sich freier in einem großem Local; zweitens die entferntere Welt, wozu ich die ganze Natur rechne. Diese bringt der epische Dichter, der sich überhaupt an die Imagination wendet, durch Gleichnisse näher, deren sich der Dramatiker sparsamer bedient.
  2. die sittliche ist beiden ganz gemein, und wird am glücklichsten in ihrer physiologischen und pathologischen Einfalt dargestellt.
  3. die Welt der Phantasieen, Ahnungen, Erscheinungen, Zufälle und Schicksale. Diese steht beiden offen, nur versteht sich, daß sie an die sinnliche herangebracht werde; wobei denn für die Modernen eine besondere Schwierigkeit entsteht, weil wir für die Wundergeschöpfe, Götter, Wahrsager und Orakel der Alten, so sehr es zu wünschen wäre, nicht leicht Ersatz finden.

Die Behandlung im Ganzen betreffend, wird der Rhapsode, der das vollkommen Vergangene vorträgt, als ein weiser Mann erscheinen, der in ruhiger Besonnenheit das Geschehene übersieht; sein Vortrag wird dahin zwecken, die Zuhörer zu beruhigen, damit sie ihm gern und lange zuhören, er wird das Interesse egal vertheilen, weil er nicht im Stande ist, einen allzulebhaften Eindruck geschwind zu balanciren, er wird nach Belieben rückwärts und vorwärts greifen und wandeln; man wird ihm überall folgen, denn er hat es nur mit der Einbildungskraft zu thun, die sich ihre Bilder selbst hervorbringt, und der es auf einen gewissen Grad gleichgültig ist, was für welche sie ausruft. Der Rhapsode sollte als ein höheres Wesen in seinem Gedicht nicht selbst erscheinen; er läse hinter einem Vorhange am allerbesten, so daß man von aller Persönlichkeit abstrahirte und nur die Stimme der Musen im Allgemeinen zu hören glaubte.

Der Mime dagegen ist gerade in dem entgegengesetzten Fall; er stellt sich als ein bestimmtes Individuum dar, er will daß man an ihm und seiner nächsten Umgebung ausschließlich Theil nehme, daß man die Leiden seiner Seele und seines Körpers mitfühle, seine Verlegenheiten theile und sich selbst über ihn vergesse. Zwar wird auch er stufenweise zu Werke gehen, aber er kann viel lebhaftere Wirkungen wagen, weil bei sinnlicher Gegenwart auch sogar der stärkere Eindruck durch einen schwächern vertilgt werden kann. Der zuschauende Hörer muß von Rechtswegen in einer steten sinnlichen Anstrengung bleiben, er darf sich nicht zum Nachdenken erheben, er muß leidenschaftlich folgen, seine Phantasie ist ganz zum Schweigen gebracht, man darf keine Ansprüche an sie machen, und selbst was erzählt wird muß gleichsam darstellend vor die Augen gebracht werden.