Charakterisierung des Karl Moor, Zeichnung von Friedrich Pecht

Karl Moor, Charakter aus dem Schiller-Drama Die Räuber, Zeichnung von Friedrich Pecht, 1859

Karl Moor – Der verstoßene Sohn wird Hauptmann einer Räuberbande

Charakterisierung von Karl Moor

aus der “Schiller-Galerie”, 1859



Unsere eigene Natur ist der Zettel, die Welt der Einschlag, die zusammen erst das Gewebe des ganzen Menschen bilden. Die fertige Persönlichkeit ist nicht bloß das Produkt der angeborenen geistigen Anlage und Empfindungsweise, sie ist auch das der ihr im Laufe des Lebens entgegentretenden Erfahrungen, der Einwirkungen der Außenwelt, die jene entwickeln, aber auch umformen, und mit jenen zusammen erst einen Charakter bilden. Gerade die reichsten Naturen müssen durch den unvermeidlichen Kontakt mit dem Leben umso mehr umgebildet werden, je mannichfaltiger sich dieses gestaltet, und es ist vollkommen unrichtig, wenn man von einem begabten Menschen erwartet, dass er im fünfzigsten Jahre derselbe sein soll wie im achtzehnten, wo sein Leben meist noch ein unbeschriebenes Blatt Papier war, dem die Erfahrung erst die mannichfaltigste Färbung geben, es arm und dunkel oder glänzend und reich erscheinen lassen kann. Es sind daher diejenigen, bei denen diese Einwirkung der Außenwelt eine geringe Veränderung hervorbringt, und denen man daher vorzugsweise das Prädikat von „Charakteren“ zu geben liebt, in der Regel entweder arme Naturen‚ oder ihr Leben war arm.

Letzteres ist aber bei einer so reich begabten Künstlerseele, wie die Schillers war, geradezu ein Ding der Unmöglichkeit, da eine solche allemal das ganze Leben ihrer Zeit mitlebt, in sich aufnimmt und widerspiegelt, wie ein Diamant den kleinsten Lichtstrahl auffasst und tausendfältig bricht, während eine Welt voll Sonnenlicht dem Kiesel keinen Glanz verleihen kann. Wenn die Reibung des äußern Lebens aber den Edelstein immer mehr zu seinem rechten Werte bringt, ihn immer strahlender macht, so vermag sie den Kiesel nicht zu andern; sie kann ihn abschleifen, zerbröckeln, niemals aber seinen Werth erhöhen, und wenn sie ihn auch über und über in Gold fasste, während jener erst durch sie zu seiner rechten Bedeutung kommt.

Man kann sich daher nicht wundern, wenn wir die Persönlichkeit des Dichters als eine so ganz andere beim Anfang seiner Laufbahn sehen, als wir sie bei erlangter Reife nach der Läuterung eines reichen innern und äußern Lebens wiederfinden. Da diese die erhabenste und Ehrfurcht einflößendste, nachdem sie sich siegreich durchs Leben durchgerungen, so kann es uns nur umso mehr interessieren, sie bis in ihre Anfänge bei der ersten gewaltigen Äusserung zu verfolgen, wie sie uns in den „Räubern“ vorliegt.

Im Anfang war die Kraft, muss man hier, wie in der Bibel, sagen, wo wir sie sofort den Kampf mit der ganzen Weltordnung aufnehmen und in der energischsten Weise durchführen sehen, soweit ihr eben diese Welt erreichbar und bekannt geworden. Dass das nur ein sehr kleines Stück ist; dass Karl mit seiner großen Natur nichts anderes zu tun weiß, als aus innerer Empörung gegen das „tintenklecksende Säculum“ in die Walder zu gehen, Räuberhauptmann zu werden und sich mit der Polizei herumzuschlagen, dieses kindische Missverhältnis zwischen der Absicht, die er hat, und den Mitteln, die er zu ihrer Erreichung wählt: — das zeigt uns besser als alles, wie so etwas nur auf den staubigen Bänken der Karlsschule reifen konnte!

Die unwiderstehliche Wirkung, die er auf die damalige Jugend ausübte, wird uns aber durch das außerordentliche Talent erklärt, welches der Dichterjüngling an die Erreichung dieses bizarren Ziels wendet. Gleicht Karl in seiner tollen Jagd auf die dicken Pfaffen und reichen Pächter durchaus jenem Riesen, der mit Mühlsteinen nach Spatzen warf, und malt uns damit deutlicher als alles den engen Horizont des Dichters, der vorläufig nur — von Stuttgart bis Ludwigsburg ging, so begreift man das Entsetzen, welches den welterfahrenen Goethe bei solch unbändigen Gebaren anwandeln musste, wie den Jubel der Jugend, der dieses Studententum so aus der Seele geschrieben war, und die sich von Karl blos dadurch unterschied, dass dieser erstens die Mühlsteine wirklich zu schleudern vermag, und zweitens bald genug zur Erkenntnis seines törichten Beginnens kommt. Sagt er doch selber von sich:

Da steht der Knabe, schamroth und ausgehöhnt vor dem Auge des Himmels, der sich anmasste, mit Jupiter’s Keule zu spielen, und Pygmäen niederwarf, da er Titanen zerschmettern sollte.

Karl, in dem der Dichter seine eigene Subjektivität wie nirgend anders niederlegt, ist in dem, was er uns von seinem innern Leben sagt, bereits voll jenes hohen Sinnes, jener Verachtung alles Gemeinen und Niedrigen, die der entschiedenste Charakterzug der Schillerschen Muse bleibt, derjenige, der sie auf allen ihren sonstigen Umwandelungen unverändert begleitet; wie die Studenten- und spätere Räuberwirtschaft im Stück geschildert wird, das zeugt von einer plastischen Kraft, die uns dieselbe lebendig werden und im Gedächtnis eingegraben bleiben lasst. Trotzdem, dass wir Karls Irrtümer beständig tadeln oder selbst belächeln, so fesselt uns das Heroische im Charakter desselben doch. Er sieht in seinem Unmut nur die Schattenseite der Dinge, aber diese trefflich, wie wir aus seiner echt studentischen Schilderung des Jahrhunderts, weiter aus der Äußerung sehen, dass „das Gesetz noch nie einen großen Mann gebildet“. Dass die großen Männer aber dazu da sind, die Gesetze zu machen, nicht sie zu zerstören — das pflegt man mit zwanzig Jahren und einer glühenden Seele eben noch nicht so genau zu wissen!

Schlechte Dichter sagen uns, ihr Held sei geistreich, bedeutend, groß, während er die gewöhnlichsten Dinge verbringt; Schillers Karl ist es wenigstens bis zu einem gewissen Grade wirklich, in allem was er äußert, spricht sich jedenfalls ein ungewöhnlicher Mensch aus, trotz der Überschwänglichkeit, trotz seines Irrtums, ja selbst trotz des schwulstigen Pathos, in das er alle Augenblicke zurückfällt.
Wenn ihn aber der Dichter diesen Irrtum vollkommen erkennen und aussprechen lässt:

O über mich Narren, der ich wahnte, die Welt durch Greuel zu verschönern und die Gesetze durch Gesetzlosigkeit aufrecht zu halten!
Ich nannte es Rache und Recht. — Ich maßte mir an, o Vorsicht, die Schatten deines Schwertes auszuwetzen und deine Parteilichkeit gut zu machen — aber — o eitle Kinderei — da. steh’ ich am Rande eines entsetzlichen Lebens, und erfahre nun mit Zähneklappern und Heulen, dass zwei Menschen, wie ich, den ganzen Bau der sittlichen Welt zu Grunde richten würden. Gnade — Gnade dem Knaben, der dir vorgreifen wollte — dein eigen ist die Rache. … Aber noch blieb mir etwas übrig, womit ich die beleidigten Gesetze versöhnen und die misshandelte Ordnung wiederum heilen kann —
und so die Lösung und Versöhnung der Gräuel herbeiführt, in die er durch den tollen Übermut und Ungestüm der Jugend Schritt für Schritt immer tiefer hineingeraten, — so ist das, fürchten wir, wenigstens in dieser Form ein späterer Zusatz, eine Reflexion, die der Dichter selbst über Karl machte, als er das Stück überarbeitete.

Für die Darstellung des Künstlers sind uns durch die Andeutungen des Dichters hinlängliche Winke gegeben, da gleich im Anfang seine hohe, stolze und mächtige Gestalt erwähnt wird, später Franz ihn bei seinem Besuch auf dem Schlosse seiner Väter an dem wilden sonnverbrannten Gesicht, dem langen Hals, seinen schwarzen feuerwerfenden Augen, den finstern überhängenden buschigen Augenbrauen erkennt. Die Szene, in der wir ihn dargestellt sehen, ist der berühmte tiefsinnige Monolog, wo er, von dem Wiedersehen Amalias zurückkommend, .mit verzweifelnder Seele an die Selbstvernichtung denkt und vor sich hinmurmelt:

Wenn der armselige Druck dieses armseligen Dings (die Pistole vors Gesicht haltend) den Weisen dem Thoren — den Feigen dem Tapfern — den Edeln dem Schelmen gleichmacht?

Verübt Karl alle möglichen Gräuel und räsoniert nachher empfindsam darüber, so ist dieser schreiende Widerspruch zwischen seinen Empfindungen und seinem Thun freilich nicht zu lösen: er lag noch in der Seele des Dichters selber, der einen fremden Menschen zeichnen wollte, und ihm doch immer die eigenen Empfindungen lieh.