HomeÜber die ästhetische Erziehung des MenschenVierundzwanzigster Brief

Vierundzwanzigster Brief

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Es lassen sich also drei verschiedene Momente oder Stufen der Entwicklung unterscheiden, die sowohl der einzelne Mensch als die ganze Gattung nothwendig und in einer bestimmten Ordnung durchlaufen müssen, wenn sie den ganzen Kreis ihrer Bestimmung erfüllen sollen. Durch zufällige Ursachen, die entweder in dem Einfluß der äußern Dinge oder in der freien Willkür des Menschen liegen, können zwar die einzelnen Perioden bald verlängert, bald abgekürzt, aber keine kann ganz übersprungen, und auch die Ordnung, in welcher sie aufeinander folgen, kann weder durch die Natur noch durch den Willen umgekehrt werden. Der Mensch in seinem physischen Zustand erleidet bloß die Macht der Natur; er entledigt sich dieser Macht in dem ästhetischen Zustand, und er beherrscht sie in dem moralischen.

Was ist der Mensch, ehe die Schönheit die freie Lust ihm entlockt und die ruhige Form das wilde Leben besänftigt? Ewig einförmig in seinen Zwecken, ewig wechselnd in seinen Urtheilen, selbstsüchtig, ohne er selbst zu sein, ungebunden, ohne frei zu sein, Sklave, ohne einer Regel zu dienen. In dieser Epoche ist ihm die Welt bloß Schicksal, noch nicht Gegenstand; alles hat nur Existenz für ihn, insofern es ihm Existenz verschafft; was ihm weder gibt noch nimmt, ist ihm gar nicht vorhanden. Einzeln und abgeschnitten, wie er sich selbst in der Reihe der Wesen findet, steht jede Erscheinung vor ihm da. Alles, was ist, ist ihm durch das Machtwort des Augenblicks; jede Veränderung ist ihm eine ganz frische Schöpfung, weil mit dem Nothwendigen in ihm die Nothwendigkeit außer ihm fehlt, welche die wechselnden Gestalten in ein Weltall zusammenbindet und, indem das Individuum flieht, das Gesetz auf dem Schauplatze festhält. Umsonst läßt die Natur ihre reiche Mannigfaltigkeit an seinen Sinnen vorübergehen; er sieht in ihrer herrlichen Fülle nichts als seine Beute, in ihrer Macht und Größe nichts als seinen Feind. Entweder er stürzt auf die Gegenstände und will sie an sich reißen, in der Begierde; oder die Gegenstände dringen zerstörend auf ihn ein, und er stößt sie von sich, in der Verabscheuung. In beiden Fällen ist sein Verhältniß zur Sinnenwelt unmittelbare Berührung, und ewig von ihrem Andrang geängstigt, rastlos von dem gebieterischen Bedürfniß gequält, findet er nirgends Ruhe als in der Ermattung und nirgends Grenzen als in der erschöpften Begier.

Zwar die gewalt’ge Brust und der Titanen
Kraftvolles Mark ist sein . . . . .
Gewisses Erbtheil; doch es schmiedete
Der Gott um seine Stirn ein ehern Band,
Rath, Mäßigung und Weisheit und Geduld
Verbarg er seinem scheuen, düstern Blick.
Es wird zur Wuth ihm jegliche Begier,
Und grenzenlos dringt seine Wuth umher.

Iphigenie auf Tauris.

Mit seiner Menschenwürde unbekannt, ist er weit entfernt, sie in Andern zu ehren, und der eigenen wilden Gier sich bewußt, fürchtet er sie in jedem Geschöpf, das ihm ähnlich sieht. Nie erblickt er Andre in sich, nur sich in Andern, und die Gesellschaft, anstatt ihn zur Gattung auszudehnen, schließt ihn nur enger und enger in sein Individuum ein. In dieser dumpfen Beschränkung irrt er durch das nachtvolle Leben, bis eine günstige Natur die Last des Stoffes von seinen verfinsterten Sinnen wälzt, die Reflexion ihn selbst von den Dingen scheidet und im Wiederscheine des Bewußtseins sich endlich die Gegenstände zeigen.

Dieser Zustand roher Natur läßt sich freilich, so wie er hier geschildert wird, bei keinem bestimmten Volk und Zeitalter nachweisen; er ist bloß Idee, aber eine Idee, mit der die Erfahrung in einzelnen Zügen aufs genaueste zusammenstimmt. Der Mensch, kann man sagen, war nie ganz in diesem thierischen Zustand, aber er ist ihm auch nie ganz entflohen. Auch in den rohesten Subjekten findet man unverkennbare Spuren von Vernunftfreiheit, so wie es in den gebildetsten nicht an Momenten fehlt, die an jenen düstern Naturstand erinnern. Es ist dem Menschen einmal eigen, das Höchste und das Niedrigste in seiner Natur zu vereinigen, und wenn seine Würde auf einer strengen Unterscheidung des einen von dem andern beruht, so beruht auf einer geschickten Aufhebung dieses Unterschieds seine Glückseligkeit. Die Kultur, welche seine Würde mit seiner Glückseligkeit in Uebereinstimmung bringen soll, wird also für die höchste Reinheit jener beiden Principien in ihrer innigsten Vermischung zu sorgen haben.

Die erste Erscheinung der Vernunft in dem Menschen ist darum noch nicht auch der Anfang seiner Menschheit. Diese wird erst durch seine Freiheit entschieden, und die Vernunft fängt erstlich damit an, seine sinnliche Abhängigkeit grenzenlos zu machen; ein Phänomen, das mir für seine Wichtigkeit und Allgemeinheit noch nicht gehörig entwickelt scheint. Die Vernunft, wissen wir, gibt sich in dem Menschen durch die Forderung des Absoluten (aus sich selbst Gegründeten und Nothwendigen) zu erkennen, welche, da ihr in keinem einzelnen Zustand seines physischen Lebens Genüge geleistet werden kann, ihn das Physische ganz und gar zu verlassen und von einer beschränkten Wirklichkeit zu Ideen aufzusteigen nöthigt. Aber obgleich der wahre Sinn jener Forderung ist, ihn den Schranken der Zeit zu entreißen und von der sinnlichen Welt zu einer Idealwelt empor zu führen, so kann sie doch durch eine (in dieser Epoche der herrschenden Sinnlichkeit kaum zu vermeidende) Mißdeutung auf das physische Leben sich richten und den Menschen, anstatt ihn unabhängig zu machen, in die furchtbarste Knechtschaft stürzen.

Und so verhält es sich auch in der That. Auf den Flügeln der Einbildungskraft verläßt der Mensch die engen Schranken der Gegenwart, in welche die bloße Thierheit sich einschließt, um vorwärts nach einer unbeschränkten Zukunft zu streben; aber indem vor seiner schwindelnden Imagination das Unendliche aufgeht, hat sein Herz noch nicht aufgehört, im Einzelnen zu leben und dem Augenblick zu dienen. Mitten in seiner Thierheit überrascht ihn der Trieb zum Absoluten – und da in diesem dumpfen Zustande alle seine Bestrebungen bloß auf das Materielle und Zeitliche gehen und bloß auf sein Individuum sich begrenzen, so wird er durch jene Forderung bloß veranlaßt, sein Individuum, anstatt von demselben zu abstrahieren, ins Endlose auszudehnen, anstatt nach Form, nach einem unversiegenden Stoff, anstatt nach dem Unveränderlichen, nach einer ewig dauernden Veränderung und nach einer absoluten Versicherung seines zeitlichen Daseins zu streben. Der nämliche Trieb, der ihn, auf sein Denken und Thun angewendet, zur Wahrheit und Moralität führen sollte, bringt jetzt, auf sein Leiden und Empfinden bezogen, nichts als ein unbegrenztes Verlangen, als ein absolutes Bedürfniß hervor. Die ersten Früchte, die er in dem Geisterreich erntet, sind also Sorge und Furcht; beides Wirkungen der Vernunft, nicht der Sinnlichkeit, aber einer Vernunft, die sich in ihrem Gegenstand vergreift und ihren Imperativ unmittelbar auf den Stoff anwendet. Früchte dieses Baumes sind alle unbedingten Glückseligkeitssysteme, sie mögen den heutigen Tag oder das ganze Leben oder, was sie um nichts ehrwürdiger macht, die ganze Ewigkeit zu ihrem Gegenstand haben. Eine grenzenlose Dauer des Daseins und Wohlseins, bloß um des Daseins und Wohlseins willen, ist bloß ein Ideal der Begierde, mithin eine Forderung, die nur von einer ins Absolute strebenden Thierheit kann aufgeworfen werden. Ohne also durch eine Vernunftäußerung dieser Art etwas für seine Menschheit zu gewinnen, verliert er dadurch bloß die glückliche Beschränktheit des Thiers, vor welchem er nun bloß den unbeneidenswerthen Vorzug besitzt, über dem Streben in die Ferne den Besitz der Gegenwart zu verlieren, ohne doch in der ganzen grenzenlosen Ferne je etwas anders als die Gegenwart zu suchen.

Aber wenn sich die Vernunft auch in ihrem Objekt nicht vergreift und in der Frage nicht irrt, so wird die Sinnlichkeit noch lange Zeit die Antwort verfälschen. Sobald der Mensch angefangen hat, seinen Verstand zu brauchen und die Erscheinungen umher nach Ursachen und Zwecken zu verknüpfen, so dringt die Vernunft, ihrem Begriffe gemäß, auf eine absolute Verknüpfung und auf einen unbedingten Grund. Um sich eine solche Forderung auch nur aufwerfen zu können, muß der Mensch über die Sinnlichkeit schon hinausgeschritten sein; aber eben dieser Forderung bedient sie sich, um den Flüchtling zurückzuholen. Hier wäre nämlich der Punkt, wo er die Sinnenwelt ganz und gar verlassen und zum reinen Ideenreich sich aufschwingen mußte; denn der Verstand bleibt ewig innerhalb des Bedingten stehen und frägt ewig fort, ohne je auf ein Letztes zu gerathen. Da aber der Mensch, von dem hier geredet wird, einer solchen Abstraktion noch nicht fähig ist, so wird er, was er in seinem sinnlichen Erkenntnißkreise nicht findet und über denselben hinaus in der reinen Vernunft noch nicht sucht, unter demselben in seinem Gefühlkreise suchen und dem Scheine nach finden. Die Sinnlichkeit zeigt ihm zwar nichts, was sein eigener Grund wäre und sich selbst das Gesetz gäbe; aber sie zeigt ihm etwas, was von keinem Grunde weiß und kein Gesetz achtet. Da er also den fragenden Verstand durch keinen letzten und innern Grund zur Ruhe bringen kann, so bringt er ihn durch den Begriff des Grundlosen wenigstens zum Schweigen und bleibt innerhalb der blinden Nöthigung der Materie stehen, da er die erhabene Nothwendigkeit der Vernunft noch nicht zu erfassen vermag. Weil die Sinnlichkeit keinen andern Zweck kennt als ihren Vortheil und sich durch keine andere Ursache als den blinden Zufall getrieben fühlt, so macht er jenen zum Bestimmer seiner Handlungen und diesen zum Beherrscher der Welt.

Selbst das Heilige im Menschen, das Moralgesetz, kann bei seiner ersten Erscheinung in der Sinnlichkeit dieser Verfälschung nicht entgehen. Da es bloß verbietend und gegen das Interesse seiner sinnlichen Selbstliebe spricht, so muß es ihm so lange als etwas Auswärtiges erscheinen, als er noch nicht dahin gelangt ist, jene Selbstliebe als das Auswärtige und die Stimme der Vernunft als sein wahres Selbst anzusehen. Er empfindet also bloß die Fesseln, welche die letztere ihm anlegt, nicht die unendliche Befreiung, die sie ihm verschafft. Ohne die Würde des Gesetzgebers in sich zu ahnen, empfindet er bloß den Zwang und das ohnmächtige Widerstreben des Unterthans. Weil der sinnliche Trieb dem moralischen in seiner Erfahrung vorhergeht, so gibt er dem Gesetz der Nothwendigkeit einen Anfang zu der Zeit, einen positiven Ursprung, und durch den unglückseligsten aller Irrthümer macht er das Unveränderliche und Ewige in sich zu einem Accidens des Vergänglichen. Er überredet sich, die Begriffe von Recht und Unrecht als Statuten anzusehen, die durch einen Willen eingeführt wurden, nicht die an sich selbst und in alle Ewigkeit gültig sind. Wie er in Erklärung einzelner Naturphänomene über die Natur hinausschreitet und außerhalb derselben sucht, was nur in ihrer innern Gesetzmäßigkeit kann gefunden werden, ebenso schreitet er in Erklärung des Sittlichen über die Vernunft hinaus und verscherzt seine Menschheit, indem er auf diesem Weg eine Gottheit sucht. Kein Wunder, wenn eine Religion, die mit Wegwerfung seiner Menschheit erkauft wurde, sich einer solchen Abstammung würdig zeigt, wenn er Gesetze, die nicht von Ewigkeit her banden, auch nicht für unbedingt und in alle Ewigkeit bindend hält. Er hat es nicht mit einem heiligen, bloß mit einem mächtigen Wesen zu thun. Der Geist seiner Gottesverehrung ist also Furcht, die ihn erniedrigt, nicht Ehrfurcht, die ihn in seiner eigenen Schätzung erhebt.

Obgleich diese mannigfaltigen Abweichungen des Menschen von dem Ideale seiner Bestimmung nicht alle in der nämlichen Epoche statt haben können, indem derselbe von der Gedankenlosigkeit zum Irrthum, von der Willenlosigkeit zur Willensverderbniß mehrere Stufen zu durchwandern hat, so gehören doch alle zum Gefolge des physischen Zustandes, weil in allen der Trieb des Lebens über den Formtrieb den Meister spielt. Es sei nun, daß die Vernunft in dem Menschen noch gar nicht gesprochen habe und das Physische noch mit blinder Nothwendigkeit über ihn herrsche, oder daß sich die Vernunft noch nicht genug von den Sinnen gereinigt habe und das Moralische dem Physischen noch diene: so ist in beiden Fällen das einzige in ihm gewalthabende Princip ein materielles und der Mensch, wenigstens seiner letzten Tendenz nach, ein sinnliches Wesen; mit dem einzigen Unterschied, daß er in dem ersten Fall ein vernunftloses, in dem zweiten ein vernünftiges Thier ist. Er soll aber keines von beiden, er soll Mensch sein; die Natur soll ihn nicht ausschließend und die Vernunft soll ihn nicht bedingt beherrschen. Beide Gesetzgebungen sollen vollkommen unabhängig von einander bestehen und dennoch vollkommen einig sein.