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119. An Goethe, 20. November 1795

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Jena den 20. November 1795.

Den Verlust, den Sie erlitten, haben wir herzlich beklagt. Sie können sich aber damit trösten, daß er so früh erfolgt ist, und mehr Ihre Hoffnung trifft. Ich könnte mich schwer darein finden, wenn mir mit meinem Kleinen jetzt noch ein Unglück begegnete.

Seit etwa sechs Tagen habe ich mich ganz leidlich befunden, und die gute Zeit auch brav benutzt, um in meiner Abhandlung vorzurücken.

Schlegel schrieb mir kürzlich und schickte etwas für die Horen. Er ist sehr entzückt über das Mährchen; auch Humboldts haben große Freude daran. Werden Sie vielleicht Muße finden das neue noch für den Januar fertig zu bringen? Wenn ich es in den ersten Tagen des Januars spätestens hätte, so könnte es noch in das erste Stück kommen. Mir wäre dieß ungemein lieb, da wir doch gut anfangen müssen, und ich noch nichts im Fach der Darstellung habe.

Ueber den neuen Theil des Meisters, wofür wir Ihnen schönstens danken, habe ich schon allerlei Urtheil eingezogen. Jedermann findet das sechste Buch an sich selbst sehr interessant, wahr und schön, aber man fühlt sich dadurch im Fortschritt aufgehalten. Freilich ist dieses Urtheil kein ästhetisches, denn beim ersten Lesen, besonders einer Erzählung, dringt mehr die Neugierde auf den Erfolg und das Ende, als der Geschmack auf das Ganze.

Sind Sie noch Willens den letzten Theil ein Jahr lang zurückzuhalten?

Herr v. Soden schickt mir heute eine schreckliche Production: Aurora oder das Kind der Hölle, die eine elende Nachahmung der Biondetta ist. Prächtig ist der Gedanke, daß er die ganze Zauberei als eine bloße Maschinerie einer Liebhaberin des Helden entwickelt, die ihn dadurch erobern will. So verpufft endlich das ganze Pathos. Auch das übrige ist dieses weisen Einfalls würdig.

Leben Sie recht wohl und alle Musen seien mit Ihnen. Meine Frau grüßt.

Sch.