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396. An Goethe, 2. Januar 1798

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Jena den 2. Januar 1798.

Es soll mir ein gutes Omen sein, daß Sie es sind, an den ich zum erstenmal unter dem neuen Datum schreibe. Das Glück sei Ihnen in diesem Jahre eben so hold als in den zwei letzt vergangenen, ich kann Ihnen nichts beßres wünschen. Möchte auch mir die Freude in diesem Jahre beschert sein, das beste aus meiner Natur in einem Werke zu sublimiren, wie Sie mit der Ihrigen es gethan.

Ihre eigene Art und Weise zwischen Reflexion und Produktion zu alterniren ist wirklich beneidens- und bewundernswerth. Beide Geschäfte trennen sich in Ihnen ganz, und das eben macht, daß beide als Geschäft so rein ausgeführt werden. Sie sind wirklich so lang Sie arbeiten im Dunkeln und das Licht ist bloß in Ihnen: und wenn Sie anfangen zu reflectiren, so tritt das innere Licht von Ihnen heraus und bestrahlt die Gegenstände Ihnen und Andern. Bei mir vermischen sich beide Wirkungsarten und nicht sehr zum Vortheil der Sache.

Von Hermann und Dorothea las ich kürzlich eine Recension in der Nürnberger Zeitung, welche mir wieder bestätigt, daß die Deutschen nur fürs allgemeine, fürs verständige und fürs moralische Sinn haben. Die Beurtheilung ist voll guten Willens, aber auch nicht etwas darin, was ein Gefühl des poetischen zeigte oder einen Blick in die poetische Oekonomie des Ganzen verrieth . Bloß an Stellen hängt sich der gute Mann und vorzugsweise an die, welche ins Allgemeine und Breite gehen und einem etwas ans Herz legen.

Haben Sie vielleicht das seltsame Buch von Retif: Coeur humain dévoilé je gesehen oder davon gehört? Ich hab‘ es nun gelesen, so weit es da ist, und ungeachtet alles widerwärtigen, platten und revoltanten mich sehr daran ergötzt. Denn eine so heftig sinnliche Natur ist mir nicht vorgekommen und die Mannigfaltigkeit der Gestalten, besonders weiblicher, durch die man geführt wird, das Leben und die Gegenwart der Beschreibung, das Charakteristische der Sitten und die Darstellung des französischen Wesens in einer gewissen Volksklasse muß interessiren. Mir, der so wenig Gelegenheit hat, von außen zu schöpfen und die Menschen im Leben zu studiren, hat ein solches Buch, in welche Klasse ich auch den Cellini rechne, einen unschätzbaren Werth.

Dieser Tage las ich zu meiner großen Lust im Intelligenzblatt der Lit. Zeitung eine Erklärung von dem jüngern Schlegel, daß er mit dem Herausgeber des Lyceums nichts mehr zu schaffen habe. So hat also doch unsre Prophezeiung eingetroffen, daß dieses Band nicht lange dauren werde!

Leben Sie wohl für heute; ich erwarte nun morgen eine bestimmte Anzeige, wie bald Sie zu uns kommen. Meine Frau grüßt Sie bestens. Meyern hoffe ich doch wenigstens auf einen Tag wieder bei uns zu sehen.

Sch.