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406. An Goethe, 19. Januar 1798

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Jena den 19. Januar 1798.

Es wird Ihnen interessant und belehrend sein, wenn Sie Ihre Gedanken, die in jenem ältern und in Ihrem neuesten Aufsatz aufgestellt sind, nach den Kategorien durchgehen. Ihr Unheil wird ganz bestätigt werden, und es wird Ihnen zugleich ein neues Vertrauen zu dem regulativen Gebrauch der Philosophie in Erfahrungssachen erwachsen. Ich will mich hier nur bei einigen Anwendungen aufhalten, und zwar gleich in Beziehung auf Ihren neuesten Aufsatz.

Die Vorstellung der Erfahrung unter den dreierlei Phänomenen ist vollkommen erschöpfend, wenn Sie sie nach den Kategorien prüfen. Der gemeine Empirism, der nicht über das empirische Phänomen hinausgeht, hat (der Quantität nach) immer nur Einen Fall, ein einziges Element der Erfahrung und mithin keine Erfahrung: der Qualität nach asserirt er immer nur eine bestimmte Existenz, ohne zu unterscheiden, von ihr auszuschließen, ihr entgegenzusetzen, mit Einem Wort, zu vergleichen; der Relation nach ist er in Gefahr das Zufällige als das Substantielle aufzunehmen; der Modalität nach bleibt er bloß auf eine bestimmte Wirklichkeit eingeschränkt, ohne das Mögliche zu ahnen, oder seine Erkenntniß bis gar zu einer Notwendigkeit zu führen. Nach meinem Begriff ist der gemeine Empirism nie einem Irrthum ausgesetzt, denn der Irrthum entsteht erst in der Wissenschaft. Was er bemerkt, bemerkt er wirklich, und weil er nicht den Kitzel fühlt, aus seinen Wahrnehmungen Gesetze für das Object zu machen, so können seine Wahrnehmungen ohne irgend eine Gefahr immer einzeln und accidentell sein.

b.

Erst mit dem Rationalism entsteht das wissenschaftliche Phänomen und der Irrthum. In diesem Felde nämlich fangen die Denkkräfte ihr Spiel an, und die Willkür tritt ein mit der Freiheit dieser Kräfte, die sich so gern dem Objecte substituiren.

Der Quantität nach verbindet der Rationalism immer mehrere Fälle, und so lang er sich bescheidet, die Pluralität nicht für Totalität auszugeben, d. h. objective Gesetze zu machen, so ist er unschädlich, ja nützlich, da er der Weg zur Wahrheit ist, welche nur dadurch gefunden wird, daß man von dem einzelnen sich loszumachen weiß. In seinem Misbrauch hingegen wird er verderblich für die Wissenschaft, weil er, wie Sie in Ihrem Aufsatz sehr einleuchtend sagen, die ungeheure Verbindungsgewalt des menschlichen Geistes auf Kosten einer gewissen republikanischen Freiheit der Facten geltend machen will, kurz weil er in die bloße Pluralität schon seine Einheit legen will, und also eine Totalität giebt, die keine ist.

Der Qualität nach setzt der Rationalism, wie billig ist, die Phänomene einander entgegen; er unterscheidet und vergleicht: welches gleichfalls (so wie der Rationalism überhaupt) löblich und gut und der einzige Weg zur Wissenschaft ist. Aber jener Despotism der Denkkräfte zeigt sich auch hier sogleich durch Einseitigkeit, durch Härte der Unterscheidung, so wie oben durch Willkür der Verbindung. Er kommt in Gefahr, dasjenige strenge zu sondern, was in der Natur verbunden ist, wie er oben verband, was die Natur scheidet. Er macht Eintheilungen, wo keine sind u. s. w.

Der Relation nach ist es das ewige Bestreben des Rationalism nach der Causalität der Erscheinungen zu fragen, und alles quâ Ursach und Wirkung zu verbinden. Wiederum sehr löblich und nöthig zur Wissenschaft, aber durch Einseitigkeit gleichfalls höchst verderblich. Ich beziehe mich hier auf Ihren Aufsatz selbst, der vorzüglich diesen Mißbrauch, den die Causalbestimmung der Phänomene veranlaßt, rügt. Der Rationalism scheint hier vorzüglich dadurch zu fehlen, daß er dürftigerweise bloß die Länge und nicht die Breite der Natur in Anschlag bringt.

Der Modalität nach verläßt der Rationalism die Wirklichkeit ohne die Nothwendigkeit zu erreichen. Die Möglichkeit ist sein ungeheures Feld, daher das grenzenlose Hypothesiren. Auch diese Function des Verstandes ist nach meinem Urtheil nothwendig und conditio sine quâ non aller Wissenschaft, denn nur durch das Mögliche giebt es, nach meinem Bedünken, von dem Wirklichen einen Durchgang zu dem Nothwendigen. Daher wehre ich mich, so sehr ich kann, für die Freiheit und Befugniß der theoretischen Kräfte im Felde der Physik.

c.

Zu dem reinen Phänomen, welches nach meinem Urtheil eins ist mit dem objectiven Naturgesetz, kann nur der rationelle Empirism hindurchdringen. Aber, um es noch einmal zu wiederholen, der rationelle Empirism selbst kann nie unmittelbar von dem Empirism anfangen, sondern der Rationalism wird allemal erst dazwischen liegen. Die dritte Kategorie entsteht jederzeit aus der Verknüpfung der ersten mit der zweiten, und so finden wir auch, daß nur die vollkommene Wirksamkeit der freien Denkkräfte mit der reinsten und ausgebreitetsten Wirksamkeit der sinnlichen Wahrnehmungsvermögen zu einer wissenschaftlichen Erkenntniß führt. Der rationelle Empirism wird folglich dieses beides thun: er wird die Willkür ausschließen und die Liberalität hervorbringen: die Willkür, welche entweder der Geist des Menschen gegen das Object, oder der blinde Zufall im Objecte und die eingeschränkte Individualität des einzelnen Phänomens gegen die Denkkraft ausübt. Mit Einem Worte, er wird dem Object sein ganzes Recht erweisen, indem er ihm seine blinde Gewalt nimmt, und dem menschlichen Geist seine ganze (rationelle) Freiheit verschaffen, indem er ihm alle Willkür abschneidet.

Der Quantität nach muß das reine Phänomen die Allheit der Fälle begreifen, denn es ist das Constante in allen. Es stellt also, völlig nach dem Sinn der Kategorie, die Einheit in der Mehrheit wiederum her.

Der Qualität nach limitirt der rationelle Empirism immer, wie auch das Beispiel aller wahren Naturkundiger lehret, die von einem absoluten Bejahen und Verneinen sich gleich entfernt halten.

Der Relation nach achtet der rationelle Empirism zugleich auf die Causalität und auf die Unabhängigkeit der Erscheinungen; er sieht die ganze Natur in einer reciproken Wirksamkeit, alles bestimmt sich wechselsweise, und er hütet sich demnach, die Causalität bloß nach einer einfachen dürftigen Länge gelten zu lassen, er nimmt immer auch die Breite mit auf.

Der Modalität nach dringt der rationelle Empirism immer zu der Nothwendigkeit hindurch.

Der rationelle Empirism ist, seinem Begriffe nach, zwar nie einem Misbrauch ausgesetzt, so wie die zwei vorhergehenden Erkenntnißarten; aber vor einem falschen und angeblichen rationellen Empirism ist doch zu warnen. So wie nämlich eine weise Limitation den eigentlichen Geist dieses rationellen Empirism ausmacht, so kann eine feige und ängstliche Limitation den andern hervorbringen. Die Frucht des erstern ist das reine, die Frucht des andern das leere und hohle Phänomen. Ich habe mehrmalen bemerkt, daß bedenkliche schwache Geister aus einem zu weit getriebenen Respect vor den Gegenständen und deren Mannigfaltigkeit und aus zu weit getriebener Furcht vor den Seelenkräften, ihre Assertionen und Enunciationen zuletzt so einschränken und gleichsam aushöhlen, daß das Resultat Null wird.

Es ist noch so vieles über diese Materie und über Ihre Thesen zu sprechen, daß ich Ihre Hieherkunft erwarte, um noch recht in die Sache hineinzugehen, denn nur das Gespräch hilft mir eigentlich die Vorstellung des andern schnell zu fassen und fest zu halten. In dem Monolog eines Briefes bin ich stets in Gefahr, nur meine Seite zu fassen. Besonders will ich Sie selbst noch mehr über das, was Sie die mittelbare Anwendung der Fälle auf Regeln nennen, reden hören.

Meine poetische Arbeit stockt seit drei Tagen, ungeachtet einer ganz guten Stimmung in der ich war. Eine Verschleimung des Halses, die in unserm Haus von Mann zu Mann herumging, hat endlich auch mich ergriffen, und weil mich dieß Uebel gerade in einem erhöhten Zustand von Reizbarkeit überraschte, in den mich mein Geschäft versetzt hatte, so hatte ich gestern den ganzen Tag Fieber. Heute ist mir aber der Kopf schon viel freier, und ich hoffe in etlichen Tagen den bösen Gast los zu sein.

Zu dem neuen Xenion gratulir‘ ich. Wir wollen es ja ad Acta legen.

Die tollen Sprünge, welche Herr Posselt vor dem Publicum macht, werden Cotta wahrscheinlich bereichern: denn er schreibt mir, daß er jetzt beinahe schon ganz gedeckt sei.

Man fragt hier sehr, ob Sie in Weimar nicht die Gotterische Oper: die Geisterinsel geben würden.

Hätten Sie jetzt nicht Lust, da Herr Hirt Ihren Aufsatz über Laokoon gewissermaßen anticipirt, diesen Aufsatz in die Horen zu geben?

Leben Sie recht wohl. Meine Frau grüßt.

Sch.