HomeDie Horen1795 - Stück 1IV. Über Belebung und Erhöhung des reinen Interesse für Wahrheit. [Johann Gottlieb Fichte]

IV. Über Belebung und Erhöhung des reinen Interesse für Wahrheit. [Johann Gottlieb Fichte]

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Vergebens erwartet man, durch irgend ein glückliches Ohngefähr die Wahrheit zu finden, wenn man sich nicht von einem lebhaften Interesse begeistert fühlt, mit Verläugnung alles andern ausser ihr, sie zu suchen. Es ist demnach eine wichtige Frage für jeden, der die Würde der Vernunft in sich behaupten will: was habe ich zu thun, um reines Interesse für Wahrheit in mir zu erwecken, oder wenigstens dasselbe zu erhalten, zu erhöhen, und zu beleben?

Wie jedes Interesse überhaupt, so gründet sich auch das Interesse für Wahrheit auf einen ursprünglich in uns liegenden Trieb. Unter unsern reinen Trieben aber ist auch ein Trieb nach Wahrheit. Niemand will irren, und jeder Irrende hält seinen Irrthum für Wahrheit. Könnte man ihm auf eine für ihn überzeugende Art darthun, daß er irre, so würde er sogleich den Irrthum aufgeben, und statt desselben die entgegengesetzte Wahrheit ergreifen.

Kommt etwas hinzu, das sich auf diesen Trieb bezieht, entdeckt man in unserm Fall eine Wahrheit als solche, oder erkennt einen Irrthum für einen Irrthum, so entsteht nothwendig ein Gefühl des Beifalls für die erstere, eine Abneigung gegen den letztern; und beides völlig unabhängig von dem Innhalt und den Folgen jener Wahrheit und dieses Irrthums. Aus wiederhohlten Gefühlen der gleichen Art entsteht ein Interesse für Wahrheit überhaupt. Ein solches Interesse läßt sich daher nicht hervorbringen; es gründet sich der Anlage nach auf das Wesen der Vernunft, und wird seinen Äusserungen nach, in der Erfahrung durch die Welt ausser uns ohne unser wissentliches Zuthun geweckt: aber man kann dieses Interesse erhöhen.

Dies geschieht durch Freiheit, wie jede sittliche Handlung. Aber alle Regeln für Anwendung der Freiheit setzen die Anwendung derselben schon voraus; und man kann vernünftiger Weise nur demjenigen zurufen: gebrauche deiner Freiheit, der dieselbe schon gebraucht hat. Dieser erste Akt der Freiheit, dieses Losreissen aus den Ketten der Naturnothwendigkeit geschieht, ohne daß wir selbst wissen, wie. So wenig wir uns des ersten Schritts in das Reich des Bewußtseyns überhaupt bewußt werden, eben so wenig werden wir uns unsers Übertritts in das Reich der Moralität bewußt. Irgend woher fällt ein Feuer-Funke in unsre Seele, der vielleicht lange in heimlichem Dunkel glüht. Er erhebt sich, er greift umher, er wird zur Flamme, bis er endlich die ganze Seele entzündet.

Jedes praktische Interesse im Menschen erhält und belebt sich selbst; darin besteht sein Wesen. Jede Befriedigung verstärkt es, erneuert es, hebt es mehr hervor im Bewußtseyn. Gefühl des erweiterten Bedürfnisses ist der einzige Genuß für das endliche Wesen. Die Hauptvorschrift zu Erhöhung jedes Interesse im Menschen, mithin auch des Interesse für Wahrheit heißt demnach: befriedige deinen Trieb! woraus für den gegenwärtigen Fall sich folgende zwei Regeln ergeben: entferne jedes Interesse, das dem reinen Interesse für Wahrheit entgegen ist, und suche jeden Genuss, der das reine Interesse für Wahrheit befördert!

Man nehme keinen Anstoß an der sonst mit Recht verdächtigen Empfehlung des Genusses. Daß durch den Genuß, und allein durch diesen jeder Trieb, der in der vernünftigen Natur des Menschen gegründet ist, ausgebildet werde, ist einmal wahr. Genuß, der sich blos auf Befriedigung der animalischen Sinnlichkeit gründet, verzehrt und vernichtet sich in sich selbst, und von ihm ist hier nicht die Rede. Geistiger Genuß, wie z. B. der ästhetische, erhöhrt sich durch sich selbst. Es ist demnach eben so wahr, daß die oben aufgestellte Regel die einzige ist, die zur Erhöhrung irgend eines geistigen Interesse gegeben werden kann. Die Beantwortung einer ganz andern Frage: ob nemlich irgend ein geistiger Genuß ganz unbedingt zu empfehlen sey? Hängt ab von der Beantwortung einer höhern Frage: ob der Trieb, auf den jener Genuß sich bezieht, ins unbedingte zu erhöhen? Und diese von der noch höhern: ob dieser Trieb irgend einem andern unterzuordnen sey? So ist der ästhetische Trieb im Menschen allerdings dem Triebe nach Wahrheit, und dem höchsten aller Triebe, dem nach sittlicher Güte, unterzuordnen. Ob der Trieb nach Wahrheit mit einem höhern Triebe in Streit kommen könne, wird sich aus unserer Untersuchung von selbst ergeben. – Irgend einen Ausdruck aber zu vermeiden, weil er gemißbraucht worden, glaube ich wenigstens hier nicht nöthig zu haben.

Unser Interesse für Wahrheit soll rein seyn; die Wahrheit, blos weil sie Wahrheit ist, soll der letzte Endzweck alles unsers Lernens, Denkens und Forschens seyn.

Die Wahrheit an sich aber ist blos formal. Übereinstimmung und Zusammenhang in allem, was wir annehmen, ist Wahrheit, so wie Widerspruch in unserm Denken Irrthum und Lüge ist. Alles im Menschen, mithin auch seine Wahrheit steht unter diesem höchsten Gesetze: sey stets einig mit dir selbst! Heißt jenes Gesetz in der Anwendung auf unsre Handlungen überhaupt: Handle so, daß die Art deines Handelns, deinem besten Wissen nach, ewiges Gesetz für alles dein Handeln seyn könne; so heißt dasselbe, wenn es insbesondere auf unser Urtheilen angewendet wird: urtheile so, daß du die Art deines jetzigen Urtheilens als ewiges Gesetz für dein gesammtes Urtheilen denken könnest. Wie du vernünftiger Weise in allen Fällen kannst urtheilen wollen, so urtheile in diesem bestimmten Falle. Mache nie eine Ausnahme in deiner Folgerungsart. Alle Ausnahmen sind sicherlich Sophistereien. – Darin unterscheidet sich der Wahrheitsfreund vom Sophisten: Beider Behauptungen an sich betrachtet kann vielleicht der erstere irren, und der letztere recht haben; und demnach ist der erstere ein Wahrheitsfreund, auch wenn er irrt, und der letzter eine Sophist, auch da, wo er die Wahrheit sagt, weil sie etwa zu seinem Zwecke dient. Aber in den Äusserungen des Wahrheitsfreundes ist nichts widersprechendes, er geht seinen geraden Gang fort, ohne sich weder rechts noch links zu wenden; der Sophist ändert stets seinen Weg, und beschreibt seine krumme Schlangenlinie, so wie der Punct sich verrückt, bei welchem er gern ankommen möchte. Der erstere hat gar keinen Punct im Gesichte, sondern zieht seine gerade Linie, welcher Punct auch immer hineinfallen möge.

Diesem Interesse für Wahrheit um ihrer blossen Form willen, ist gerade entgegengesetzt alles Interesse für den bestimmten Innhalt der Sätze. Einem solchen materiellen Interesse ist es nicht darum zu thun, wie etwas gefunden sey, sondern nur was gefunden sey.

Wir haben etwa einen Satz schon ehemals behauptet, vielleicht Beifall damit gefunden, und Ehre eingeärndtet, und meynten es damals aufrichtig. Damals war unsere Behauptung zwar nicht allgemeine Wahrheit, die sich auf das Wesen der Vernunft, aber doch Wahrheit für uns, die sich auf unsre damalige individuelle Denk- und Empfindungsart gründete. Wir irrten, aber wir täuschten nicht, weder uns noch andere. Seitdem haben wir entweder selbst weiter geforscht, wir haben unsere individuelle Denkart mehr genähert, oder auch andere haben uns unsern Irrthum gezeigt. Derselbe materielle Satz, der ehemals formale Wahrheit für uns war, ist uns jetzt, aus dem nemlichen Grunde, aus dem er dieses war, formaler Irrthum; und sind wir uns selbst treu, so werden wir ihn sogleich aufgeben. Aber dann müßten wir erkennen, daß wir geirrt haben; vielleicht, daß ein anderer weiter gesehen habe, als wir. Ist unser Interesse für Wahrheit nicht rein, und nicht stark genug, so werden wir gegen die auf uns eindringende Überzeugung uns vertheidigen, so lange wir können; und nun ist es uns nicht mehr um die Form zu thun, sondern um die Materie des Satzes; wir vertheidigen denselben, weil er der unsrige ist, und weil ein eitler Ruhm uns mehr gilt, denn Wahrheit.

Eine Meinung schmeichelt unserm Stolze, unsern Anmaassungen, unsrer Unterdrückungssucht. Man erschüttert sie mit den stärksten Gründen, gegen die wir nichts aufbringen können. Werden wir uns überzeugen lassen? Aber wir müßten dann entweder unsre ungerechten Ansprüche aufgeben, oder uns für wohlbedächtige und überlegte Ungerechte anerkennen. Es ist zu erwarten, daß wir gegen die Überzeugung uns verwahren werden, so lange wir können, und daß wir in allen Schlupfwinkeln unsers Herzens nach Ausflüchten suchen werden, um ihr auszuweichen.

Ein zweites Hinderniß des reinen Interesse für Wahrheit ist die Trägheit des Geistes, die Scheu vor der Mühe des Nachdenkens. Der Mensch ist von Natur ein vorstellendes Wesen, aber er ist durch sie auch nichts weiter. Die Natur bestimmt die Reihe seiner Vorstellungen, wie sie die Verkettung seiner körperlichen Theile bestimmt. Sein Geist ist eine Maschine, wie sein Körper; nur eine Maschine anderer Art, eine vorstellende Maschine, bestimmt durch die Einwirkung von aussen, und durch seine nothwendigen Naturgesetze von innen. Man kann viel wissen, viel studieren, viel lesen, viel hören, und ist doch nichts weiter. Man läßt durch Schriftsteller oder Redner sich bearbeiten, und sieht in behaglicher Ruhe zu, wie eine Vorstellung in uns mit der andern abwechselt. So wie die Weichlinge des Orients in ihren Bädern durch besondere Künstler ihre Gelenke durchkneten lassen, so lassen diesen durch Künstler andrer Art ihren Geist durchkneten, und ihr Genuß ist um weniges edler, als der Genuß jener.

Diesem blinden Hange thätig widerstreben, eingreifen in den Mechanism der Ideenfolge, und ihr gebieten, ihr mit Freiheit eine Richtung geben auf ein bestimmtes Ziel, und von dieser Richtung nicht abweichen, bis das Ziel erreicht ist: das ist der rohen Natur zuwider, und kostet Anstrengung, und Verläugnung.

Jenes unthätige Hingeben ist dem Interesse für Wahrheit geradezu entgegen. Es wird dabei gar nicht auf Wahrheit oder Nichtwahrheit, sondern lediglich auf die Ergötzung geachtet, die jener Wechsel der Vorstellungen uns gewährt. Wir kommen dadurch auch nicht zur Wahrheit; denn Wahrheit ist Einheit, und diese muß thätig und mit Freiheit hervorgebracht werden, durch Anstrengung und eigne Kraftanwendung. Gesetzt, man käme durch ein glückliches Ohngefähr auf diesem Wege wirklich zu Vorstellungen, die an sich wahr wären, so wären sie es doch nicht für uns, denn wir hätten von der Wahrheit derselben uns nicht durch eignes Nachdenken überzeugt.

Beide Unarten vereinigen sich in denjenigen, welche alle Untersuchung fliehen, aus Furcht, dadurch in ihrer Ruhe, und in ihrem Glauben gestört zu werden. Was kann eines vernünftigen Wesens unwürdiger seyn, als eine solche Ausrede? Entweder ist ihre Ruhe, ihr Glaube gegründet; und was fürchten sie dann die Untersuchung? Die Güte ihrer Sache muß ja nothwendig durch die hellste Beleuchtung gewinnen. – Aber sie fürchten vielleicht blos unsre Trugschlüsse, unsre Überredungskünste? Wenn sie unsre Folgerungen nicht gehört haben, noch hören wollen, woher mögen sie doch wissen, daß es Trugschlüsse sind? Und setzen sie denn in ihren Verstand nicht das Vertrauen, daß er allen falschen Schein, der sich gegen ihre Überzeugung auflehnt, zerstreuen werde, da sie ihm doch das ungleich grössere zutrauen, daß er die einzig mögliche reine Wahrheit ohne sonderliches Nachdenken aufgefunden habe? – Oder ihre Ruhe, ihr Glaube ist grundlos, und also ist es ihnen überhaupt nicht darum zu thun ob er gegründet sey oder nicht, wenn sie nur nicht in ihrer süssen Behaglichkeit gestört werden. Es liegt ihnen gar nicht an der Wahrheit, sondern blos an der Vergünstigung, dasjenige für wahr zu halten, was sie bisher dafür gehalten haben, sey es um der Gewohnheit willen, sey es, weil der Innhalt desselben ihrer Trägheit und Verdorbenheit schmeichelt. Sie erhalten etwa dadurch die Hoffnung, ohne alles ihr Zuthun tugendhaft, und glückselig, oder wohl gar ohne Tugend glückselig zu werden, recht viel zu geniessen, ohne etwas zu thun; andere für sich arbeiten zu lassen, wo sie Lust haben, träge und verdorben zu seyn.

Alles Interesse von der angezeigten Art ist unächt, und in Ausrottung desselben besteht der erste Schritt zu Erhöhung des reinen Interesse für Wahrheit. Der zweyte ist: man überlasse sich jedem Genusse, den das reine Interesse für Wahrheit gewährt. Die Wahrheit an sich selbst, wiefern sie bloß in der Harmonie alles unsers Denkens besteht, gewährt Genuß, und einen reinen, edlen, hohen Genuß.

Das ist eine gemeine Seele, der es gleichgültig ist, ob sie, so geringfügig der Gegenstand auch seyn möge, irre, oder im Besitz der Wahrheit sey. Es ist nemlich hierbei gar nicht um den Inhalt, und um die Folgen eines Satzes zu thun, sondern lediglich um Einheit und Übereinstimmung in dem gesammten System des menschlichen Geistes. Aber der Mensch soll einig mit sich selbst seyn; er soll ein eignes, für sich bestehendes Ganzes bilden. Nur unter dieser Bedingung ist er ein Mensch. Mithin ist das Bewußtseyn der völligen Übereinstimmung mit uns selbst in unserm Denken, oder doch des redlichen Strebens nach einer solchen Übereinstimmung unmittelbares Bewußtseyn unsrer behaupteten Menschenwürde, und gewährt einen moralischen Genuß.

Man bezeugt es sich durch jenes Streben, und durch die vermittelst desselben hervorgebrachte Harmonie, daß man ein selbstständiges, von allem was nicht unser Selbst ist, unabhängiges Wesen bilde. Man wird des erhabnen Gefühls theilhaftig: ich bin, was ich bin, weil ich es habe seyn wollen. Ich hätte mich können forttreiben lassen durch die Räder der Nothwendigkeit; ich hätte meine Überzeugungen können bestimmen lassen durch die Eindrücke, die ich von der Natur überhaupt erhielt, durch den Hang meiner Leidenschaften, und Neigungen, durch die Meinungen, die mir meine Zeitgenossen beibringen wollten: aber ich habe nicht gewollt. Ich habe mich losgerissen, ich habe durch eigne Thätigkeit nach einer durch mich selbst bestimmten Richtung hin untersucht; ich stehe jetzt auf diesem bestimmten Punkte, und ich bin durch mich selbst, durch eignen Entschluß, und eigne Kraft darauf gekommen. – Man wird des erhabnen Gefühls theilhaftig: ich werde immer seyn, was ich jetzt bin, weil ich es immer wollen werde. Der Inhalt meiner Überzeugungen zwar wird durch fortgesetztes Nachforschen sich ändern, aber um ihn ist es mir auch nicht zu thun. Die Form derselben wird sich nie ändern. Ich werde nie der Sinnlichkeit, noch irgend einem Dinge, das ausser mir ist, Einfluß auf die Bildung meiner Denkart verstatten; ich werde, so weit mein Gesichtskreis sich erstreckt, immer einig mit mir selbst seyn, weil ich es immer wollen werde.

Diese strenge und scharfe Unterscheidung unsers reinen Selbst von allem, was nicht wir Selbst sind, ist der wahre Charakter der Menschheit: die Stärke und der Umfang dieses Selbstgefühls bestimmt den Grad unsrer Humanität; dieser unsre ganze Würde, und unsre ganze Glückseligkeit.

Mit dieser sichern Überzeugung, stets einig mit sich selbst zu seyn, geht der entschiedne Freund der Wahrheit auf dem Wege der Untersuchung ruhig fort; er geht muthig allem entgegen, was ihm auf demselben aufstossen möchte. Es ist für denjenigen, der mit sich selbst noch nicht recht Eins geworden ist, was er denn eigentlich suche, und wolle, äusserst beängstigend, wenn er auf seinem Wege auf Sätze stößt, die allen seinen bisherigen Meynungen, und den Meynungen seiner Zeitgenossen, und der Vorwelt widersprechen; und gewiß ist diese Ängstlichkeit eine der Hauptursachen, warum die Menschheit auf dem Wege zur Wahrheit so langsame Fortschritte gemacht hat. Von ihr ist derjenige, der die Wahrheit um ihrer selbst willen sucht, völlig frei. Er blickt jeder noch so befremdenden Folgerung kühn in das Gesicht. Ob sie ein befremdendes, oder bekanntes Aussehen habe, ob sie seiner und aller bisherigen Meynung widerspreche, oder nicht, darnach war nicht die Frage. Die Frage war: ob sie, seinem besten Wissen nach, mit den Gesetzen des Denkens übereinstimme, oder nicht, und das wird er untersuchen. Wird sich finden, daß sie damit übereinstimme, so wird er sie als heilige ehrwürdige Wahrheit aufnehmen; wird sie nicht damit übereinstimmen, so wird er sie als Irrthum verwerfen, nicht weil sie der gemeinen Meynung, sondern weil sie, seinem besten Wissen nach, des Gesetzen des Denkens widerspricht. Bis dahin ist er völlig gleichgültig gegen sie; über ihren Inhalt hat er die Frage nicht erhoben; derselbe ist ihm bekannt; ihre Form hat er noch zu untersuchen.

Mit dieser kalten Ruhe und festen Entschlossenheit blickt er hinein in das Gewühl der menschlichen Meynungen überhaupt und seiner eignen Einfälle und Zweifel. Es wirbelt und stürmt um ihn herum, aber nicht in ihm; Er selbst sieht aus seiner unerreichbaren Burg ruhig dem Sturme zu. Er wird ihm zu seiner Zeit gebieten, und eine Welle nach der andern wird sich legen. – Er will nur Harmonie mit sich selbst, und er bringt sie hervor, so weit er bis jetzt gekommen ist. Dort ist noch Verwirrung in seinen Meynungen; das ist nicht seine Schuld, denn bis dahin hat er noch nicht kommen können. Er wird auch dahin kommen, und dann wird jene Unordnung in die schönste Ordnung sich auflösen.

Was wäre denn wohl endlich das härteste, was ihm begegnen könnte? Gesetzt er fände, entweder weil die Schranken der endlichen Vernunft überhaupt, welches unmöglich ist, oder weil die Schranken seines Individuums solches mit sich bringen, als letztes Resultat seines Strebens nach Wahrheit, daß es überhaupt gar keine Wahrheit und keine Gewißheit gebe. Er würde auch diesem Schicksale, dem härtesten, das ihn treffen könnte, sich unterwerfen; denn er ist zwar unglücklich, aber schuldlos; er ist seines redlichen Forschens sich bewußt, und das ist statt alles Glücks, dessen er nun noch theilhaftig werden kann.

Eben so ruhig – wenn dieser Umstand der Erwähnung werth ist – bleibt der entschiedne Freund der Wahrheit darüber, was andre zunächst zu seinen Überzeugungen sagen werden, wenn er in der Lage seyn sollte, sie mittheilen zu müssen; und der Gelehrte ist immer in dieser Lage, da er nicht blos für sich selbst, sondern zugleich für andre forscht. Die Frage ist ja gar nicht, ob wir mit andern, sondern ob wir mit uns selbst übereinstimmend denken. Ist das leztere, so können wir des erstern ohne unser Zuthun, und ohne erst die Stimmen zu sammeln, bey allen denen gewiß seyn, die mit sich selbst in Übereinstimmung stehen; denn das Wesen der Vernunft ist in allen vernünftigen Wesen Eins, und eben dasselbe. Wie andre denken, wissen wir nicht, und wir können davon nicht ausgehen. Wie wir denken sollen, wenn wir vernünftig denken wollen, können wir finden; und so, wie wir denken sollen, sollen alle vernünftige Wesen denken. Alle Untersuchung muß von innen heraus, nicht von aussen herein, geschehen. Ich soll nicht denken, wie andre denken; sondern wie ich denken soll, so, soll ich annehmen, denken auch andre. – Mit denen übereinzustimmend zu seyn, die es mit sich selbst nicht sind, wäre das wohl ein würdiges Ziel für ein vernünftiges Wesen?

Das Gefühl der für formale Wahrheit angewendeten Kraft gewährt einen reinen, edlen, dauernden Genuß.

Einen solchen Genuß kann uns überhaupt nur dasjenige gewähren, was unser eigen ist, und was wir durch würdigen Gebrauch unsrer Freiheit uns selbst erworben haben. Was uns hingegen ohne unser Zuthun von aussen gegeben worden ist, gewährt keinen reinen Selbstgenuß. Es ist nicht unser, und es kann uns eben so wieder genommen werden, wie es uns gegeben wurde; wir geniessen an demselben nicht uns selbst, nicht unser eigenes Verdienst, und unsern eignen Werth. So verhält es sich insbesondre auch mit Geisteskraft. Das, was man guten Kopf, angebohrnes Talent, glückliche Naturanlage nennt, ist gar kein Gegenstand eines vernünftigen Selbstgenusses, denn es ist dabei gar kein eignes Verdienst. Wenn ich eine reizbarere, thätigere Organisation erhielt, wenn dieselbe gleich bei meinem Eintritte ins Leben stärker, und zweckmässiger afficirt wurde, was habe ich dazu beigetragen? Habe ich jene Organisation entworfen, unter mehrern sie ausgewählt, und mir zugeeignet? Habe ich jene Eindrücke, die mich bei meinem Eintritte ins Leben empfingen, berechnet, und geleitet?

Meine Kraft ist mein, lediglich in wiefern ich sie durch Freiheit hervorgebracht habe: ich kann aber nichts in ihr hervorbringen, als ihre Richtung; und in dieser besteht denn auch die wahre Geisteskraft. Blinde Kraft ist keine Kraft, vielmehr Ohnmacht. Die Richtung aber gebe ich ihr durch Freiheit; deren Regel ist, stets übereinstimmend mit sich selbst zu wirken; vorher war sie eine fremde Kraft, Kraft der Willenlosen, und Zwecklosen Natur in mir.

Diese Geisteskraft wird durch den Gebrauch verstärkt, und erhöht; und diese Erhöhung giebt Genuß, denn sie ist Verdienst. Sie gewährt das erhebende Bewußtseyn: ich war Maschine, und konnte Maschine bleiben; durch eigne Kraft, aus eignem Antriebe habe ich mich zum selbstständigen Wesen gemacht. Daß ich jetzt mit Leichtigkeit, frei, nach meinem eignen Zwecke fortschreite, verdanke ich mir selbst; daß ich fest, frei und kühn an jede Untersuchung mich wagen darf, verdanke ich mir selbst. Dieses Zutrauen auf mich, diesen Muth, mit welchem ich unternehme, was ich zu unternehmen habe, diese Hoffnung des Erfolgs, mit der ich an die Arbeit gehe, verdanke ich mir selbst.

Durch diese Geisteskraft wird zugleich das moralische Vermögen gestärkt, und sie ist selbst moralisch. Beyde hängen innig zusammen, und wirken gegenseitig ein aufeinander. Wahrheitsliebe bereitet vor zur moralischen Güte, und ist selbst schon an sich eine Art derselben. Dadurch, daß man alle seine Neigungen, Lieblingsmeinungen, Rücksichten, alles, was ausser uns ist, den Gesetzen des Denkens frei unterwirft, wird man gewöhnt vor der Idee des Gesetzes überhaupt sich niederzubeugen und zu verstummen; und diese freie Unterwerfung ist selbst eine moralische Handlung. Herrschende Sinnlichkeit schwächt in gleichem Grade das Interesse für Wahrheit, wie für Sittlichkeit. Durch den Sieg, den das erstere über dieselbe erkämpft, wird zugleich für die Tugend ein Sieg erfochten. Freiheit des Geistes in Einer Rücksicht entfesselt in allen übrigen. Wer alles, was ausser ihm liegt, in der Erforschung der Wahrheit verachtet, der wird es auch in allem seinem Handeln überhaupt verachten lernen. Entschlossenheit im Denken führt nothwendig zur moralischen Güte und zur moralischen Stärke.

Ich setze kein Wort hinzu, um die Würde dieser Denkart fühlbar zu machen. Wer ihrer fähig ist, der fühlt sie durch die blosse Beschreibung; wer sie nicht fühlt, dem wird sie ewig unbekannt bleiben.

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