HomeDie Horen1795 - Stück 6II. Die schmelzende Schönheit. [Friedrich Schiller]

II. Die schmelzende Schönheit. [Friedrich Schiller]

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Fortsetzung der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen.
(Im ersten und zweyten Stück der Horen.)

Siebenzehenter Brief.

So lange es bloß darauf ankam, die allgemeine Idee der Schönheit aus dem Begriffe der menschlichen Natur überhaupt abzuleiten, durften wir uns an keine andern Schranken der letztern erinnern, als die unmittelbar in dem Wesen derselben gegründet und von dem Begriffe der Endlichkeit unzertrennlich sind. Unbekümmert um die zufälligen Einschränkungen, die sie in der wirklichen Erscheinung erleiden möchte, schöpften wir den Begriff derselben unmittelbar aus der Vernunft, als der Quelle aller Nothhwendigkeit, und mit dem Ideale der Menschheit war zugleich auch das Ideal der Schönheit gegeben.

Jetzt aber steigen wir aus der Region der Ideen auf den Schauplatz der Wirklichkeit herab, um den Menschen in einem bestimmten Zustand, mithin unter Einschränkungen anzutreffen, die nicht ursprünglich aus seinem bloßen Begriff, sondern aus äusern Umständen und aus einem zufälligen Gebrauch seiner Freyheit fließen. Auf wie vielfache Weise aber auch die Idee der Menschheit in ihm eingeschränkt sein mag, so lehret uns schon der bloße Innhalt derselben, daß im Ganzen nur zwey entgegengesetzte Abweichungen von derselben statt haben können. Liegt nehmlich seine Vollkommenheit in der übereinstimmenden Energie seiner sinnlichen und geistigen Kräfte, so kann er diese Vollkommenheit nur entweder durch einen Mangel an Übereinstimmung oder durch einen Mangel an Energie verfehlen. Ehe wir also noch die Zeugnisse der Erfahrung darüber abgehört haben, sind wir schon im voraus durch bloße Vernunft gewiß, daß wir den wirklichen folglich beschränkten Menschen entweder in einem Zustande der Anspannung oder in einem Zustande der Abspannung finden werden, je nachdem entweder die einseitige Thätigkeit einzelner Kräfte die Harmonie seines Wesens stört, oder die Einheit seiner Natur sich auf die gleichförmige Erschlaffung seiner sinnlichen und geistigen Kräfte gründet. Beyde entgegengesetzte Schranken werden, wie nun bewiesen werden soll, durch die Schönheit gehoben, die in dem angespannten Menschen die Harmonie, in dem abgespannten die Energie wieder herstellt, und auf diese Art, ihrer Natur gemäß, den eingeschränkten Zustand auf einen absoluten zurükführt, und den Menschen zu einem in sich selbst vollendeten Ganzen macht.1

Sie verläugnet also in der Wirklichkeit auf keine Weise den Begriff, den wir in der Spekulation von ihr faßten; nur daß sie hier ungleich weniger freye Hand hat als dort, wo wir sie auf den reinen Begriff der Menschheit anwenden durften. An dem Menschen, wie die Erfahrung ihn aufstellt, findet sie einen schon verdorbenen und widerstrebenden Stoff, der ihr gerade so viel von ihrer idealen Vollkommenheit raubt, als er von seiner individualen Beschaffenheit einmischt. Sie wird daher in der Wirklichkeit überall nur als eine besondere und eingeschränkte Species, nie als reine Gattung sich zeigen; sie wird in angespannten Gemüthern von ihrer Freyheit und Mannichfaltigkeit, sie wird in abgespannten von ihrer belebenden Kraft ablegen; uns aber, die wir nunmehr mit ihrem wahren Charakter vertrauter geworden sind, wird diese widersprechende Erscheinung nicht irre machen. Weit entfernt, mit dem großen Haufen der Beurtheiler aus einzelnen Erfahrungen ihren Begriff zu bestimmen und sie für die Mängel verantwortlich zu machen, die der Mensch unter ihrem Einflusse zeigt, wissen wir vielmehr, daß es der Mensch ist, der die Unvollkommenheiten seines Individuums auf sie überträgt, der durch seine subjective Begrenzung ihrer Vollendung unaufhörlich im Wege steht, und ihr absolutes Ideal auf zwey eingeschränkte Formen der Erscheinung herabsetzt.

Die schmelzende Schönheit, wurde behauptet, sey für ein angespanntes Gemüth und für ein abgespanntes die energische. Angespannt aber nenne ich den Menschen sowohl, wenn er sich unter dem Zwange von Empfindungen, (unter der einseitigen Gewalt des Sachtriebs) als wenn er sich unter dem Zwange von Begriffen (unter der ausschließenden Gewalt des Formtriebs) befindet. Jede ausschließende Herrschaft eines seiner beyden Grundtriebe ist für ihn ein Zustand des Zwanges und der Gewalt; und Freyheit liegt nur in der Zusammenwirkung seiner beyden Naturen, in der Übereinstimmung beyder Nothhwendigkeiten. Der von Gefühlen einseitig beherrschte oder sinnlich angespannte Mensch wird also aufgelöst und in Freyheit gesetzt durch Form; der von Gesetzen einseitig beherrschte oder geistig angespannte Mensch wird aufgelöst und in Freyheit gesetzt durch Materie. Die schmelzende Schönheit, um dieser doppelten Aufgabe ein Genüge zu thun, wird sich also unter zwey verschiedenen Gestalten zeigen. Sie wird erstlich als ruhige Form das wilde Leben besänftigen, und von Empfindungen zu Gedanken den Übergang bahnen; sie wird zweytens, als lebendes Bild, die abgezogene Form mit sinnlicher Kraft ausrüsten, den Begriff zur Anschauung und das Gesetz zum Gefühl zurükführen. Den ersten Dienst leistet sie dem Naturmenschen, den zweyten dem künstlichen Menschen. Aber weil sie in beyden Fällen über ihren Stoff nicht ganz frey gebietet, sondern von demjenigen abhängt, den ihr entweder die formlose Natur oder die naturwidrige Kunst darbietet, so wird sie in beyden Fällen noch Spuren ihres Ursprunges tragen, und dort mehr in das materielle Leben, hier mehr in die reine Form sich verlieren.

Um uns einen Begriff davon machen zu können, wie die Schönheit ein Mittel werden kann, jene doppelte Anspannung zu heben, müssen wir den Ursprung derselben in dem menschlichen Gemüth zu erforschen suchen. Entschließen Sie Sich also noch zu einem kurzen Auffenthalt im Gebiete der Spekulation, um es alsdann auf immer zu verlassen, und mit desto sichererem Schritt auf dem Feld der Erfahrung fortzuschreiten.

Achtzehenter Brief.

Durch die schmelzende Schönheit wird der sinnliche Mensch zur Form und zum Denken geleitet; durch die schmelzende Schönheit wird der geistige Mensch zur Materie zurückgeführt, und der Sinnenwelt wiedergegeben.

Aus diesem scheint zu folgen, daß es zwischen Materie und Form, zwischen Leiden und Thätigkeit einen mittleren Zustand geben müsse, und daß uns die Schönheit in diesen mittleren Zustand versetze. Diesen Begriff bildet sich auch wirklich der größte Theil der Menschen von der Schönheit, so bald er angefangen hat, über ihre Wirkungen zu reflectieren, und alle Erfahrungen weisen darauf hin. Auf der andern Seite aber ist nichts ungereimter und widersprechender, als ein solcher Begriff, da der Abstand zwischen Materie und Form, zwischen Leiden und Thätigkeit, zwischen Empfinden und Denken unendlich ist, und schlechterdings durch nichts kann vermittelt werden. Wie heben wir nun diesen Widerspruch? Die Schönheit verknüpft die zwey entgegengesetzten Zustände des Empfindens und des Denkens, und doch giebt es schlechterdings kein Mittleres zwischen beyden. Jenes ist durch Erfahrung; dieses ist unmittelbar durch Vernunft gewiß.

Dieß ist der eigentliche Punkt, auf den zuletzt die ganze Frage über die Schönheit hinausläuft, und gelingt es uns, dieses Problem befriedigend aufzulösen, so haben wir zugleich den Faden gefunden, der uns durch das ganze Labyrinth der Ästhetik führt. Es kommt aber hiebey auf zwey höchst verschiedene Operationen an, welche bey dieser Untersuchung einander nothwendig unterstützen müssen. Die Schönheit, heißt es, verknüpft zwey Zustände miteinander, die einander entgegengesetzt sind, und niemals Eins werden können. Von dieser Entgegensetzung müssen wir ausgehen; wir müssen sie in ihrer ganzen Reinheit und Strengigkeit auffassen und anerkennen, so daß beyde Zustände sich auf das bestimmteste scheiden; sonst vermischen wir, aber vereinigen nicht. Zweytens heißt es: jene zwey entgegengesetzten Zustände verbindet die Schönheit, und hebt also die Entgegensetzung auf. Weil aber beyde Zustände einander ewig entgegengesetzt bleiben, so sind sie nicht anders zu verbinden, als indem sie aufgehoben werden. Unser zweytes Geschäft ist also, diese Verbindung vollkommen zu machen, sie so rein und vollständig durchzuführen, daß beyde Zustände in einem Dritten gänzlich verschwinden, und keine Spur der Theilung in dem Ganzen zurückbleibt; sonst vereinzeln wir, aber vereinigen nicht. Alle Streitigkeiten, welche jemals in der philosophischen Welt über den Begriff der Schönheit geherrscht haben, und zum Theil noch heut zu Tag herrschen, haben keinen andern Ursprung, als daß man die Untersuchung entweder nicht von einer gehörig strengen Unterscheidung anfing, oder sie nicht bis zu einer völlig reinen Vereinigung durchführte. Diejenigen unter den Philosophen, welche sich bey der Reflexion über diesen Gegenstand der Leitung ihres Gefühls blindlings anvertrauen, können von der Schönheit keinen Begriff erlangen, weil sie in dem Total des sinnlichen Eindrucks nichts Einzelnes unterscheiden. Die andern, welche den Verstand ausschließend zum Führer nehmen, können nie einen Begriff von der Schönheit erlangen, weil sie in dem Total derselben nie etwas anderes als die Theile sehen, und Geist und Materie auch in ihrer vollkommensten Einheit ihnen ewig geschieden bleiben. Die ersten fürchten, die Schönheit dynamisch, d. h. als wirkende Kraft aufzuheben, wenn sie trennen sollen, was im Gefühl doch verbunden ist; die andern fürchten, die Schönheit logisch, d. h. als Begriff aufzuheben, wenn sie zusammenfassen sollen, was im Verstand doch geschieden ist. Jene wollen die Schönheit auch ebenso denken, wie sie wirkt; diese wollen sie eben so wirken lassen, wie sie gedacht wird. Beyde müssen also die Wahrheit verfehlen, jene, weil sie es mit ihrem eingeschränkten Denkvermögen der unendlichen Natur nachthun; diese, weil sie die unendliche Natur nach ihren Denkgesetzen einschränken wollen. Die ersten fürchten, durch eine zu strenge Zergliederung der Schönheit von ihrer Freyheit zu rauben; die andern fürchten, durch eine zu kühne Vereinigung die Bestimmtheit ihres Begriffs zu zerstören. Jene bedenken aber nicht, daß die Freyheit, in welche sie mit allem Recht das Wesen der Schönheit setzen, nicht Gesetzlosigkeit, sondern Harmonie von Gesetzen, nicht Willkührlichkeit, sondern höchste innere Nothwendigkeit ist; diese bedenken nicht, daß die Bestimmtheit, welche sie mit gleichem Recht von der Schönheit fodern, nicht in der Ausschließung gewisser Realitäten, sondern in der absoluten Einschließung aller besteht, daß sie also nicht Begrenzung, sondern Unendlichkeit ist. Wir werden die Klippen vermeiden, an welchen beyde gescheitert sind, wenn wir von den zwey Elementen beginnen, in welche die Schönheit sich vor dem Verstande theilt, aber uns alsdann auch zu der reinen ästhetischen Einheit erheben, durch die sie auf die Empfindung wirkt, und in welcher jene beyden Zustände gänzlich verschwinden.2

Neunzehenter Brief.

Es lassen sich in dem Menschen überhaupt zwey verschiedene Zustände der passiven und aktiven Bestimmbarkeit, und eben so viele Zustände der passiven und aktiven Bestimmung unterscheiden. Die Erklärung dieses Satzes führt uns am kürzesten zum Ziel.

Der Zustand des menschlichen Geistes vor aller Bestimmung, die ihm durch Eindrücke der Sinne gegeben wird, ist eine Bestimmbarkeit ohne Grenzen. Das Endlose des Raumes und der Zeit ist seiner Einbildungskraft zu freyem Gebrauch hingegeben, und weil, der Voraussetzung nach, in diesem weiten Reiche des Möglichen nichts gesetzt, folglich auch noch nichts ausgeschlossen ist, so kann man diesen Zustand der Bestimmungslosigkeit eine leere Unendlichkeit nennen, welches mit einer unendlichen Leere keineswegs zu verwechseln ist.

Jetzt soll sein Sinn gerührt werden, und aus der unendlichen Menge möglicher Bestimmungen soll eine Einzelne Wirklichkeit erhalten. Eine Vorstellung soll in ihm entstehen. Was in dem vorhergegangenen Zustand der bloßen Bestimmbarkeit nichts, als ein leeres Vermögen war, das wird jetzt zu einer wirkenden Kraft, das bekommt einen Innhalt; zugleich aber erhält es, als wirkende Kraft, eine Grenze, da es, als bloßes Vermögen, unbegrenzt war. Realität ist also da, aber die Unendlichkeit ist verloren. Um eine Gestalt im Raum zu beschreiben, müssen wir den endlosen Raum begrenzen; um uns eine Veränderung in der Zeit vorzustellen, müssen wir das Zeitganze theilen. Wir gelangen also nur durch Schranken zur Realität, nur durch Negation oder Ausschließung zur Position oder wirklichen Setzung, nur durch Aufhebung unsrer freyen Bestimmbarkeit zur Bestimmung.

Aber aus einer bloßen Ausschließung würde in Ewigkeit keine Realität und aus einer bloßen Sinnenempfindung in Ewigkeit keine Vorstellung werden, wenn nicht etwas vorhanden wäre, von welchem ausgeschlossen wird, wenn nicht durch eine absolute Thathandlung des Geistes die Negation auf etwas positives bezogen, und aus Nichtsetzung Entgegensetzung würde; diese Handlung des Gemüths heißt urtheilen oder denken, und das Resultat derselben der Gedanke.

Ehe wir im Raum einen Ort bestimmen, giebt es überhaupt keinen Raum für uns; aber ohne den absoluten Raum würden wir nimmermehr einen Ort bestimmen: Eben so mit der Zeit. Ehe wir den Augenblick haben, giebt es überhaupt keine Zeit für uns; aber ohne die ewige Zeit würden wir nie eine Vorstellung des Augenblicks haben. Wir gelangen also freylich nur durch den Theil zum Ganzen, nur durch die Grenze zum Unbegrenzten, nur durch Leiden zur Thätigkeit; aber wir gelangen auch nur durch das Ganze zum Theil, nur durch das Unbegrenzte zur Grenze, nur durch die Thätigkeit zum Leiden.

Wenn nun also von dem Schönen behauptet wird, daß es dem Menschen einen Übergang vom Empfinden zum Denken bahne, so ist dieß keineswegs so zu verstehen, als ob durch das Schöne die Kluft könnte ausgefüllt werden, die das Empfinden vom Denken, die das Leiden von der Thätigkeit trennt; diese Kluft ist unendlich, und ohne Dazwischenkunft eines neuen und selbständigen Vermögens kann aus dem Einzelnen in Ewigkeit nichts Allgemeines, kann aus dem Zufälligen nichts Nothwendiges, aus dem Augenblicklichen nichts Beständiges werden. Der Gedanke ist die unmittelbare Handlung dieses absoluten Vermögens, welches zwar durch die Sinne veranlaßt werden muß, sich zu äußern, in seiner Äußerung selbst aber so wenig von der Sinnlichkeit abhängt, daß es sich vielmehr nur durch Entgegensetzung gegen dieselbe verkündigt. Die Selbstständigkeit, mit der es handelt, schließt jede fremde Einwirkung aus, und nicht in so fern sie beym Denken hilft, (welches einen offenbaren Widerspruch enthält) bloß in so fern sie den Denkkräften Freyheit verschaft, ihren eigenen Gesetzen gemäß sich zu äußern, kann die Schönheit ein Mittel werden, den Menschen von der Materie zur Form, von Empfindungen zu Gesetzen, von einem beschränkten zu einem absoluten Daseyn zu führen.

Dieß aber setzt voraus, daß die Freyheit der Denkkräfte gehemmt werden könne, welches mit dem Begriff eines selbstständigen Vermögens zu streiten scheint. Ein Vermögen nehmlich, welches von aussen nichts als den Stoff seines Wirkens empfängt, kann nur durch Entziehung des Stoffes, also nur negativ an seinem Wirken gehindert werden, und es heißt die Natur eines Geistes verkennen, wenn man den sinnlichen Passionen eine Macht beylegt, die Freyheit des Gemüths positiv unterdrücken zu können. Zwar stellt die Erfahrung Beyspiele in Menge auf, wo die Vernunftkräfte in demselben Maß unterdrückt erscheinen, als die sinnlichen Kräfte feuriger wirken; aber anstatt jene Geistesschwäche von der Stärke des Affekts abzuleiten, muß man vielmehr diese überwiegende Stärke des Affekts durch jene Schwäche des Geistes erklären; denn die Sinne können nicht anders eine Macht gegen den Menschen vorstellen, als insofern der Geist frey unterlassen hat, sich als eine solche zu beweisen.

Indem ich aber durch diese Erklärung einem Einwurfe zu begegnen suche, habe ich mich, wie es scheint, in einen andern verwickelt, und die Selbstständigkeit des Gemüths nur auf Kosten seiner Einheit gerettet. Denn wie kann das Gemüth aus sich selbst zugleich Gründe der Nichtthätigkeit und der Thätigkeit nehmen, wenn es nicht selbst getheilt, wenn es nicht sich selbst entgegengesetzt ist?

Hier müssen wir uns nun erinnern, daß wir den endlichen, nicht den unendlichen Geist vor uns haben. Der endliche Geist ist derjenige, der nicht anders, als durch Leiden thätig wird, nur durch Schranken zum Absoluten gelangt, nur insofern er Stoff empfängt, handelt und bildet. Ein solcher Geist wird also mit dem Triebe nach Form oder nach dem Absoluten einen Trieb nach Stoff oder nach Schranken verbinden, als welche die Bedingungen sind, ohne welche er den ersten Trieb weder haben noch befriedigen könnte. In wiefern in demselben Wesen zwey so entgegengesetzte Tendenzen zusammen bestehen können, ist eine Aufgabe, die zwar den Metaphysiker, aber nicht den Transcendentalphilosophen in Verlegenheit setzen kann. Dieser giebt sich keineswegs dafür aus, die Möglichkeit der Dinge zu erklären, sondern begnügt sich, die Kenntnisse festzusetzen, aus welchen die Möglichkeit der Erfahrung begriffen wird. Und da nun Erfahrung eben so wenig ohne jene Entgegensetzung im Gemüthe als ohne die absolute Einheit desselben möglich wäre, so stellt er beyde Begriffe mit vollkommner Befugniß als gleich nothwendige Bedingungen der Erfahrung auf, ohne sich weiter um ihre Vereinbarkeit zu bekümmern. Diese Innwohnung zweyer Grundtriebe widerspricht übrigens auf keine Weise der absoluten Einheit des Geistes, sobald man nur von beyden Trieben ihn selbst unterscheidet. Beyde Triebe existieren und wirken zwar in ihm, aber Er selbst ist weder Materie noch Form, weder Sinnlichkeit noch Vernunft, welches diejenigen, die den menschlichen Geist nur da selbst handeln lassen, wo sein Verfahren mit der Vernunft übereinstimmt, und wo dieses der Vernunft widerspricht, ihn bloß für paßiv erklären, nicht immer bedacht zu haben scheinen.

Jeder dieser beyden Grundtriebe strebt, sobald er zur Entwicklung gekommen, seiner Natur nach und nothwendig nach Befriedigung; aber eben darum, weil beyde nothwendig und beyde doch nach entgegengesetzten Objekten streben, so hebt diese doppelte Nöthigung sich gegenseitig auf, und der Wille behauptet eine vollkommene Freyheit zwischen beyden. Der Wille ist es also, der sich gegen beyde Triebe als eine Macht (als Grund der Wirklichkeit) verhält, aber keiner von beyden kann sich für sich selbst, als eine Macht gegen den andern verhalten. Durch den positivsten Antrieb zur Gerechtigkeit, woran es ihm keineswegs mangelt, wird der Gewaltthätige nicht von Unrecht abgehalten, und durch die lebhafteste Versuchung zum Genuß der Starkmüthige nicht zum Bruch seiner Grundsätze gebracht. Es giebt in dem Menschen keine andere Macht, als seinen Willen, und nur was den Menschen aufhebt, der Tod und jeder Raub des Bewußtseyns, kann die innere Freyheit aufheben.

Auf dem Willen beruht es also, ob der Sachtrieb, ob der Formtrieb befriedigt werden soll. Aber, was wohl zu bemerken ist, nicht, daß wir empfinden, sondern daß die Empfindung bestimmend werde, – nicht, daß wir zum Selbstbewußtseyn gelangen, sondern, daß die reine Selbstheit bestimmend werde, hängt von dem Willen ab. Der Wille äußert sich nicht eher, als nachdem die Triebe gewirkt haben, und diese erwachen erst, wenn ihre beyden Objekte, Empfindung und Selbstbewußtseyn, gegeben sind. Diese müssen also nothwendig erst da seyn, bevor der Wille sich äußert, und können folglich nicht durch den Willen da seyn.

Eine Nothwendigkeit außer uns bestimmt unsern Zustand, unser Daseyn in der Zeit vermittelst der Sinnenempfindung. Diese ist ganz unwillkührlich und so wie auf uns gewirkt wird, müssen wir leiden. Eben so eröffnet eine Nothwendigkeit in uns unsre Persönlichkeit, auf Veranlassung jener Sinnenempfindung, und durch Entgegensetzung gegen dieselbe; denn das Selbstbewußtseyn kann von dem Willen, der es voraussetzt, nicht abhangen. Diese ursprüngliche Verkündigung der Persönlichkeit ist nicht unser Verdienst, und der Mangel derselben nicht unser Fehler. Nur von demjenigen, der sich bewußt ist, wird Vernunft, das heißt, absolute Consequenz und Universalität des Bewußtseyns gefodert; vorher ist er nicht Mensch, und kein Akt der Menschheit kann von ihm erwartet werden. So wenig nun der Metaphysiker sich die Schranken erklären kann, die der freye und selbstständige Geist durch die Empfindung erleidet, so wenig begreift der Physiker die Unendlichkeit, die sich auf Veranlassung dieser Schranken in der Persönlichkeit offenbart. Weder Abstraktion noch Erfahrung leiten uns bis zu der Quelle zurük, aus der unsre Begriffe von Allgemeinheit und Nothwendigkeit fließen; ihre frühe Erscheinung in der Zeit entzieht sie dem Beobachter, und ihr übersinnlicher Ursprung dem metaphysischen Forscher. Aber genug, das Selbstbewußtseyn ist da, und zugleich mit der unveränderlichen Einheit desselben ist das Gesetz der Einheit für alles, was für den Menschen ist, und für alles, was durch ihn werden soll, für sein Erkennen und Handeln aufgestellt. Unentfliehbar, unverfälschbar, unbegreiflich, eine Theophanie, wenn es jemals eine gab, stellen die Begriffe von Wahrheit und Recht schon im Alter der Sinnlichkeit sich dar, und ohne daß man zu sagen wüßte, woher und wie es entstand, bemerkt man das Ewige in der Zeit und das Nothwendige im Gefolge des Zufalls. So entspringen Empfindung und Selbstbewußtseyn, völlig ohne Zuthun des Subjekts, und beyder Ursprung liegt eben sowohl jenseits unseres Willens, als er jenseits unseres Erkenntniskreises liegt.

Sind aber beyde wirklich, und hat der Mensch, vermittelst der Empfindung, die Erfahrung einer bestimmten Existenz, hat er durch das Selbstbewußtseyn die Erfahrung seiner absoluten Existenz gemacht, so werden mit ihren Gegenständen auch seine beyden Grundtriebe rege. Der sinnliche Trieb erwacht mit der Erfahrung des Lebens (mit dem Anfang des Individuums), der vernünftige mit der Erfahrung des Gesetzes (mit dem Anfang der Persönlichkeit) und jetzt erst, nachdem beyde zum Daseyn gekommen, ist seine Menschheit aufgebaut. Biß dieß geschehen ist, erfolgt alles in ihm nach dem Gesetz der Nothwendigkeit; jetzt aber verlässt ihn die Hand der Natur, und es ist seine Sache, die Menschheit zu behaupten, welche jene in ihm anlegte und eröffnete. Sobald nehmlich zwey entgegengesetzte Grundtriebe in ihm thätig sind, so verlieren beyde ihre Nöthigung, und die Entgegensetzung zweyer Nothwendigkeiten giebt der Freyheit den Ursprung.3

Zwanzigster Brief.

Daß auf die Freyheit nicht gewirkt werden könne, ergiebt sich schon aus ihrem bloßen Begriff; daß aber die Freyheit selbst eine Wirkung der Natur (dieses Wort in seinem weitesten Sinne genommen) kein Werk des Menschen sey, daß sie also auch durch natürliche Mittel befördert und gehemmt werden könne, folgt gleich nothwendig aus dem vorigen. Sie nimmt ihren Anfang erst, wenn der Mensch vollständig ist, und seine beyden Grundtriebe sich entwickelt haben; sie muß also fehlen, so lang er unvollständig und einer von beyden Trieben ausgeschlossen ist, und muß durch alles das, was ihm seine Vollständigkeit zurückgiebt, wieder hergestellt werden können.

Nun lässt sich wirklich, sowohl in der ganzen Gattung als in dem einzelnen Menschen, ein Moment aufzeigen, in welchem der Mensch noch nicht vollständig und einer von beyden Trieben ausschließend in ihm thätig ist. Wir wissen, daß er anfängt mit bloßem Leben, um zu endigen mit Form; daß er früher Individuum als Person ist, daß er von den Schranken aus zur Unendlichkeit geht. Der sinnliche Trieb kommt also früher als der vernünftige zur Wirkung, weil die Empfindung dem Bewußtseyn vorhergeht, und in dieser Priorität des Sachtriebes finden wir den Aufschluß zu der ganzen Geschichte der menschlichen Freyheit.

Denn es giebt nun einen Moment, wo der Lebenstrieb, weil ihm der Formtrieb noch nicht entgegenwirkt, als Natur und als Nothwendigkeit handelt; wo die Sinnlichkeit eine Macht ist, weil der Mensch noch nicht angefangen; denn in dem Menschen selbst kann es keine andere Macht als den Willen geben. Aber im Zustand des Denkens, zu welchem der Mensch jetzt übergehen soll, soll gerade umgekehrt die Vernunft eine Macht seyn, und eine logische oder moralische Nothwendigkeit soll an die Stelle jener physischen treten. Jene Macht der Empfindung muß also vernichtet werden, ehe das Gesetz dazu erhoben werden kann. Es ist also nicht damit gethan, daß etwas anfange, was noch nicht war; es muß zuvor etwas aufhören, welches war. Der Mensch kann nicht unmittelbar vom Empfinden zum Denken übergehen; er muß einen Schritt zurükthun, weil nur, indem eine Determination wieder aufgehoben wird, die entgegengesetzte eintreten kann. Er muß also, um Leiden mit Selbstthätigkeit, um eine passive Bestimmung mit einer aktiven zu vertauschen, augenblicklich von aller Bestimmung frey seyn, und einen Zustand der bloßen Bestimmbarkeit durchlaufen, weil man, um von Minus zu Plus fortzuschreiten, durch Null den Weg nehmen muß. Mithin muß er, auf gewiße Weise zu jenem negativen Zustand der bloßen Bestimmungslosigkeit zurückkehren, in welchem er sich befand, ehe noch irgend etwas auf seinen Sinn einen Eindruck machte. Jener Zustand aber war an Inhalt völlig leer, und jetzt kommt es darauf an, eine gleiche Bestimmungslosigkeit, und eine gleich unbegrenzte Bestimmbarkeit mit dem größtmöglichen Gehalt zu vereinbaren, weil unmittelbar aus diesem Zustand etwas positives erfolgen soll. Die Bestimmung, die er durch Sensation empfangen, muß also festgehalten werden, weil er die Realität nicht verlieren darf, zugleich aber muß sie, insofern sie Begrenzung ist, aufgehoben werden, weil eine unbegrenzte Bestimmbarkeit statt finden soll. Die Aufgabe ist also, die Determination des Zustandes zugleich zu vernichten und beyzubehalten, welches nur auf die einzige Art möglich ist, daß man ihr eine andere entgegensetzt. Die Schalen einer Wage stehen gleich, wenn sie leer sind; sie stehen aber auch gleich, wenn sie gleiche Gewichte enthalten.

Das Gemüth geht also von der Empfindung zum Gedanken durch eine mittlere Stimmung über, in welcher Sinnlichkeit und Vernunft zugleich tätig sind, eben deswegen aber ihre bestimmende Gewalt gegenseitig aufheben, und durch eine Entgegensetzung eine Negation bewirken. Diese mittlere Stimmung, in welcher das Gemüth weder physisch noch moralisch genötigt, und doch auf beyde Art thätig ist, verdient vorzugsweise eine freye Stimmung zu heißen, und wenn man den Zustand sinnlicher Bestimmung den physischen, den Zustand vernünftiger Bestimmung aber den logischen und moralischen nennt, so muß man diesen Zustand der realen und aktiven Bestimmbarkeit den ästhetischen heißen.4

Einundzwanzigster Brief.

Es giebt, wie ich am Anfange des vorigen Briefs bemerkte, einen doppelten Zustand der Bestimmbarkeit und einen doppelten Zustand der Bestimmung. Jetzt kann ich diesen Satz deutlich machen.

Das Gemüth ist bestimmbar, bloß insofern es überhaupt nicht bestimmt ist; es ist aber auch bestimmbar, insofern es nicht ausschließend bestimmt d. h. bey seiner Bestimmung nicht beschränkt ist. Jenes ist bloße Bestimmungslosigkeit (es ist ohne Schranken, weil es ohne Realität ist); dieses ist die ästhetische Bestimmbarkeit (es hat keine Schranken, weil es alle Realität vereinigt).

Das Gemüth ist bestimmt, insofern es überhaupt nur beschränkt ist; es ist aber auch bestimmt, insofern es sich selbst aus eigenem absoluten Vermögen beschränkt. In dem ersten Falle befindet es sich, wenn es empfindet, in dem zweyten, wenn es denkt. Was also das Denken in Rüksicht auf Bestimmung ist, das ist die ästhetische Verfassung in Rücksicht auf Bestimmbarkeit; jenes ist Beschränkung aus innrer unendlicher Kraft, diese ist eine Negation aus innrer unendlicher Fülle. So wie Empfinden und Denken einander in dem einzigen Punkt berühren, daß in beyden Zuständen das Gemüth determiniert, daß der Mensch ausschließungsweise Etwas – entweder Individuum oder Person – ist, sonst aber sich ins Unendliche von einander entfernen; gerade so trift die ästhetische Bestimmbarkeit mit der blossen Bestimmungslosigkeit in dem einzigen Punkt überein, daß beyde jedes bestimmte Daseyn ausschließen, indem sie in allen übrigen Punkten wie Nichts und Alles, mithin unendlich verschieden sind. Wenn also die letztere, die Bestimmungslosigkeit aus Mangel, als eine leere Unendlichkeit vorgestellt wurde, so muß die ästhetische Bestimmungsfreyheit, welche das reale Gegenstück derselben ist, als eine erfüllte Unendlichkeit betrachtet werden; eine Vorstellung, welche mit demjenigen, was die vorhergehenden Untersuchungen lehren, aufs genaueste zusammentrifft.5

In dem ästhetischen Zustand ist der Mensch also Null, insofern man auf ein einzelnes Resultat, nicht auf das ganze Vermögen achtet und den Mangel jeder besondern Determination in ihm in Betrachtung zieht. Daher muß man denjenigen vollkommen Recht geben, welche das Schöne und die Stimmung, in die es unser Gemüth versetzt, in Rücksicht auf Erkenntniß und Gesinnung für völlig indifferent und unfruchtbar erklären. Sie haben vollkommen Recht, denn die Schönheit gibt schlechterdings kein einzelnes Resultat weder für den Verstand noch für den Willen, sie führt keinen einzelnen weder intellektuellen noch moralischen Zweck aus, sie findet keine einzige Wahrheit, hilft uns keine einzige Pflicht erfüllen, und ist, mit einem Worte, gleich ungeschickt, den Charakter zu gründen und den Kopf aufzuklären. Die Schönheit ist Natur, und sowohl seine Begriffe als seine Entschließungen kann der Mensch nur sich selbst zu verdanken haben. Durch die ästhetische Kultur bleibt also der persönliche Werth eines Menschen, oder seine Würde, insofern diese nur von ihm selbst abhängen kann, noch völlig unbestimmt, und es ist weiter nichts erreicht, als daß es ihm nunmehr, von Natur wegen möglich gemacht ist, aus sich selbst zu machen, was er will – daß ihm die Freyheit, zu seyn, was er seyn soll, vollkommen zurückgegeben ist.

Eben dadurch aber ist etwas unendliches erreicht. Denn, sobald wir uns erinnern, daß ihm durch die einseitige Nöthigung der Natur beym Empfinden, und durch die ausschließende Gesetzgebung der Vernunft beym Denken gerade diese Freyheit entzogen wurde, so müssen wir das Vermögen, welches ihm in der ästhetischen Stimmung zurückgegeben wird, als die höchste aller Schenkungen, als die Schenkung der Menschheit betrachten. Freylich besitzt er diese Menschheit der Anlage nach schon vor jedem bestimmten Zustand, in den er kommen kann, aber der That nach verliert er sie mit jedem bestimmten Zustand, in den er kommt, und sie muß ihm, wenn er zu einem entgegengesetzten soll übergehen können, jedesmal aufs neue durch das ästhetische Leben zurückgegeben werden.6

Es ist also nicht bloß poetisch erlaubt, sondern auch philosophisch richtig, wenn man die Schönheit unsre zweyte Schöpferin nennt. Denn ob sie uns gleich die Menschheit bloß möglich macht und es im übrigen unserm freyen Willen anheim stellt, in wie weit wir sie wirklich machen wollen, so hat sie dieses ja mit unsrer ursprünglichen Schöpferin, der Natur, gemein, die uns gleichfalls nichts weiter, als das Vermögen zur Menschheit ertheilte, den Gebrauch desselben aber auf unsere eigene Willensbestimmung ankommen läßt.

Zweyundzwanzigster Brief.

Wenn also die ästhetische Stimmung des Gemüths in Einer Rücksicht als Null betrachtet werden muß, sobald man nehmlich sein Augenmerk auf einzelne und bestimmte Wirkungen richtet, so ist sie in anderer Rücksicht wieder als ein Zustand der höchsten Realität anzusehen, insofern man dabey auf die Abwesenheit aller Schranken, und auf die Summe der Kräfte achtet, die in derselben gemeinschaftlich thätig sind. Man kann also denjenigen eben so wenig Unrecht geben, die den ästhetischen Zustand für den fruchtbarsten in Rücksicht auf Erkenntniß und Moralität erklären. Sie haben vollkommen recht, denn eine Gemüthsstimmung, welche das Ganze der Menschheit in sich begreift, muß nothwendig auch jede einzelne Äußerung derselben, dem Vermögen nach in sich schließen; eine Gemüthsstimmung, welche von dem Ganzen der menschlichen Natur alle Schranken entfernt, muß diese nothwendig auch von jeder einzelnen Äußerung derselben entfernen. Eben deswegen, weil sie keine einzelne Funktion der Menschheit ausschließend in Schutz nimmt, so ist sie einer jeden ohne Unterschied günstig, und sie begünstigt ja nur deswegen keine einzelne vorzugsweise, weil sie der Grund der Möglichkeit von allen ist. Alle andere Übungen geben dem Gemüth irgend ein besondres Geschick, aber setzen ihm dafür auch eine besondere Grenze; die ästhetische allein führt zum Unbegrenzten. Jeder andere Zustand, in den wir kommen können, weißt uns auf einen vorhergehenden zurük und bedarf zu seiner Auflösung eines folgenden; nur der ästhetische ist ein Ganzes in sich selbst, da er alle Bedingungen seines Ursprungs und seiner Fortdauer in sich vereinigt. Hier allein fühlen wir uns wie aus der Zeit gerissen; und unsre Menschheit äusert sich mit einer Reinheit und Integrität, als hätte sie von der Einwirkung äußerer Kräfte noch keinen Abbruch erfahren.

Was unsern Sinnen in der unmittelbaren Empfindung schmeichelt, das öfnet unser weiches und bewegliches Gemüth jedem Eindruck, aber macht uns auch in demselben Grad zur Anstrengung weniger tüchtig. Was unsre Denkkräfte anspannt und zu abgezogenen Begriffen einladet, das stärkt unsern Geist zu jeder Art des Widerstandes, aber verhärtet ihn auch in demselben Verhältniß, und raubt uns eben so viel an Empfänglichkeit, als es uns zu einer größeren Selbstthätigkeit verhilft. Eben deswegen führt auch das eine wie das andre zuletzt nothwendig zur Erschöpfung, weil der Stoff nicht lange der bildenden Kraft, weil die Kraft nicht lange des bildsamen Stoffes entrathen kann. Haben wir uns hingegen dem Genuß ächter Schönheit dahin gegeben, so sind wir in einem solchen Augenblick unsrer leidenden und thätigen Kräfte in gleichem Grad Meister und mit gleicher Leichtigkeit werden wir uns zum Ernst und zum Spiele, zur Ruhe und zur Bewegung, zur Nachgiebigkeit und zum Widerstand, zum abstrakten Denken und zur Anschauung wenden.

Diese hohe Gleichmüthigkeit und Freyheit des Geistes, mit Kraft und Rüstigkeit verbunden, ist die Stimmung, in der uns ein ächtes Kunstwerk entlassen soll, und es giebt keinen sicherern Probierstein der wahren ästhetischen Güte. Finden wir uns nach einem Genuß dieser Art zu irgend einer besondern Empfindungsweise oder Handlungsweise vorzugsweise aufgelegt, zu einer andern hingegen ungeschickt und verdrossen, so dient dieß zu einem untrüglichen Beweise, daß wir keine rein ästhetische Wirkung erfahren haben; es sey nun, daß es an dem Gegenstand, oder an unserer Empfindungsweise oder (wie fast immer der Fall ist) an beiden zugleich gelegen habe.

Da in der Wirklichkeit keine rein ästhetische Wirkung anzutreffen ist, (denn der Mensch kann nie aus der Abhängigkeit der Kräfte treten) so kann die Vortreflichkeit eines Kunstwerks bloß in seiner größern Annäherung zu jenem Ideal ästhetischer Reinlichkeit bestehen, und bey aller Freyheit, zu der man es steigern mag, werden wir es doch immer in einer besondern Stimmung und mit einer eigentümlichen Richtung verlassen. Je allgemeiner nun die Stimmung, und je weniger eingeschränkt die Richtung ist, welche unserm Gemüth durch eine bestimmte Gattung der Künste und durch ein bestimmtes Produkt aus derselben gegeben wird, desto edler ist jene Gattung und desto vortrefflicher ein solches Produkt. Man kann dieß mit Werken ans verschiedenen Künsten und mit verschiedenen Werken der nehmlichen Kunst versuchen. Wir verlassen eine schöne Musik mit reger Empfindung, ein schönes Gedicht mit belebter Einbildungskraft, ein schönes Bildwerk und Gebäude mit aufgewecktem Verstand; wer uns aber unmittelbar nach einem hohen musikalischen Genuß zu abgezogenem Denken einladen, unmittelbar nach einem hohen poetischen Genuß in einem abgemessenen Geschäft des gemeinen Lebens gebrauchen, unmittelbar nach Betrachtung schöner Mahlereyen und Bildhauerwerke unsre Einbildungskraft erhitzen, und unser Gefühl überraschen wollte, der würde seine Zeit nicht gut wählen. Die Ursache ist, weil auch die geistreichste Musik durch ihre Materie noch immer in einer gröseren Affinität zu den Sinnen steht, als die wahre ästhetische Freyheit duldet, weil auch das glücklichste Gedicht von dem willkührlichen und zufälligen Spiele der Imagination, als seines Mediums, noch immer mehr participiert, als die innere Nothwendigkeit des wahrhaft Schönen verstattet, weil auch das trefflichste Bildwerk und dieses vielleicht am meisten, durch die Bestimmtheit seines Begriffs an die ernste Wissenschaft grenzt. Indessen verlieren sich diese besondren Affinitäten mit jedem höhern Grade, den ein Werk aus diesen drey Kunstgattungen erreicht, und es ist eine nothwendige und natürliche Folge ihrer Vollendung, daß, ohne Verrückung ihrer objektiven Grenzen, die verschiedenen Künste in ihrer Wirkung auf das Gemüth einander immer ähnlicher werden. Die Musik in ihrer höchsten Veredlung muß Gestalt werden, und mit der ruhigen Macht der Antike auf uns wirken; die bildende Kunst in ihrer höchsten Vollendung muß Musik werden und uns durch unmittelbare sinnliche Gegenwart rühren; die Poesie, in ihrer vollkommensten Ausbildung muß uns, wie die Tonkunst, mächtig fassen, zugleich aber, wie die Plastik, mit ruhiger Klarheit umgeben. Darin eben zeigt sich der vollkommene Styl in jeglicher Kunst, daß er die specifischen Schranken derselben zu entfernen weiß, ohne doch ihre specifischen Vorzüge mit aufzuheben, und durch eine weise Benutzung ihrer Eigenthümlichkeit ihr einen mehr allgemeinen Charakter ertheilt.

Und nicht bloß die Schranken, welche der specifische Charakter seiner Kunstgattung mit sich bringt, auch diejenigen, welche dem besondern Stoffe, den er bearbeytet, anhängig sind, muß der Künstler durch die Behandlung überwinden. In einem wahrhaft schönen Kunstwerk soll der Inhalt nichts, die Form aber alles thun; denn durch die Form allein wird auf das Ganze des Menschen, durch den Innhalt hingegen nur auf einzelne Kräfte gewirkt. Der Innhalt, wie erhaben und weitumfassend er auch sey, wirkt also jederzeit einschränkend auf den Geist, und nur von der Form ist wahre ästhetische Freyheit zu erwarten. Darinn also besteht das eigentliche Kunstgeheimniß des Meisters, daß er den Stoff durch die Form vertilgt; und je imposanter, anmaßender, verführerischer der Stoff an sich selbst ist, je eigenmächtiger derselbe mit seiner Wirkung sich vordrängt, oder je mehr der Betrachter geneigt ist, sich unmittelbar mit dem Stoff einzulassen, desto triumphirender ist die Kunst, welche jenen zurückzwingt und über diesen die Herrschaft behauptet. Das Gemüth des Zuschauers und Zuhörers muß völlig frey und unverletzt bleiben, es muß aus dem Zauberkreis des Künstlers rein und vollkommen, wie aus den Händen des Schöpfers gehen. Der frivolste Gegenstand muß so behandelt werden, daß wir aufgelegt bleiben, unmittelbar von demselben zu dem strengsten Ernst überzugehen. Der ernsteste Stoff muß so behandelt werden, daß wir die Fähigkeit behalten, ihn unmittelbar mit dem leichtesten Spiele zu vertauschen. Künste des Affekts, dergleichen die Tragödie ist, sind kein Einwurf: denn erstlich sind es keine ganz freyen Künste, da sie unter der Dienstbarkeit eines besondern Zweckes (des Pathetischen) stehen, und dann wird wohl kein wahrer Kunstkenner läugnen, daß Werke, auch selbst aus dieser Klasse, um so vollkommener sind, je mehr sie auch im höchsten Sturme des Affekts die Gemüthsfreyheit schonen. Eine schöne Kunst der Leidenschaft giebt es; aber eine schöne leidenschaftliche Kunst ist ein Widerspruch, denn der unausbleibliche Effekt des Schönen ist Freyheit von Leidenschaften. Nicht weniger widersprechend ist der Begriff einer schönen lehrenden (didaktischen) oder bessernden (moralischen) Kunst, denn nichts streitet mehr mit dem Begriff der Schönheit, als dem Gemüth eine bestimmte Tendenz zu geben.

Nicht immer beweißt es indessen eine Formlosigkeit in dem Werke, wenn es bloß durch seinen Innhalt Effekt macht; es kann eben so oft von einem Mangel an Form in dem Beurtheiler zeugen. Ist dieser entweder zu gespannt oder zu schlaff; ist er gewohnt, entweder bloß mit dem Verstand oder bloß mit den Sinnen aufzunehmen, so wird er sich auch bey dem glücklichsten Ganzen nur an die Theile, und bey der schönsten Form nur an die Materie halten. Nur für das rohe Element empfänglich muß er die ästhetische Organisation eines Werks erst zerstören, ehe er einen Genuß daran findet, und das Einzelne sorgfältig aufscharren, das der Meister mit unendlicher Kunst in der Harmonie des Ganzen verschwinden machte. Sein Interesse daran ist schlechterdings entweder moralisch oder physisch, nur gerade, was es seyn soll, ästhetisch ist es nicht. Solche Leser genießen ein ernsthaftes und pathetisches Gedicht, wie eine Predigt, und ein naives oder scherzhaftes, wie ein berauschendes Getränk; und waren sie geschmacklos genug, von einer Tragödie und Epopee, wenn es auch eine Messiade wäre, Erbauung zu verlangen, so werden sie an einem anacreontischen oder catullischen Lied unfehlbar ein Ärgerniß nehmen.

Dreyundzwanzigster Brief.

Ich nehme den Faden meiner Untersuchung wieder auf, den ich nur darum abgerissen habe, um von den aufgestellten Sätzen die Anwendung auf die ausübende Kunst und auf die Beurtheilung ihrer Werke zu machen.

Der Übergang von dem leidenden Zustande des Empfindens zu dem thätigen des Denkens und Wollens geschieht also nicht anders, als durch einen mittleren Zustand ästhetischer Freyheit, und obgleich dieser Zustand an sich selbst weder für unsere Einsichten, noch Gesinnungen etwas entscheidet, mithin unsern intellektuellen und moralischen Werth ganz und gar problematisch läßt, so ist er doch die nothwendige Bedingung, unter welcher allein wir zu einer Einsicht und zu einer Gesinnung gelangen können. Mit einem Wort: es giebt keinen andern Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als daß man denselben zuvor ästhetisch macht.

Aber, möchten Sie mir einwenden, sollte diese Vermittlung durchaus unentbehrlich seyn? Sollten Wahrheit und Pflicht nicht auch schon für sich allein und durch sich selbst bey dem sinnlichen Menschen Eingang finden können? Hierauf muß ich antworten: sie können nicht nur, sie sollen schlechterdings ihre bestimmende Kraft bloß sich selbst zu verdanken haben, und nichts würde meinen bisherigen Behauptungen widersprechender seyn, als wenn sie das Ansehen hätten, die entgegengesetzte Meinung in Schutz zu nehmen. Es ist ausdrücklich bewiesen worden, daß die Schönheit kein Resultat weder für den Verstand noch den Willen gebe, daß sie sich in kein Geschäft weder des Denkens noch des Entschließens mische, daß sie zu beyden bloß das Vermögen ertheile, aber über den wirklichen Gebrauch dieses Vermögens durchaus nichts bestimme. Bey diesem fällt alle fremde Hülfe hinweg, und die reine logische Form, der Begriff, muß unmittelbar zu dem Verstand, die reine moralische Form, das Gesetz, unmittelbar zu dem Willen reden.

Aber daß sie dieses überhaupt nur könne – daß es überhaupt nur eine reine Form für den sinnlichen Menschen gebe, dieß, behaupte ich, muß durch die ästhetische Stimmung des Gemüths erst möglich gemacht werden. Die Wahrheit ist nichts, was so wie die Wirklichkeit oder das sinnliche Daseyn der Dinge von außen empfangen werden kann; sie ist etwas, das die Denkkraft selbstthätig und in ihrer Freyheit hervorbringt, und diese Selbstthätigkeit, diese Freyheit ist es ja eben, was wir bey dem sinnlichen Menschen vermissen. Der sinnliche Mensch ist schon (physisch) bestimmt, und hat folglich keine freye Bestimmbarkeit mehr: diese verlorne Bestimmbarkeit muß er nothwendig erst zurük erhalten, eh’ er die leidende Bestimmung mit einer thätigen vertauschen kann. Er kann sie aber nicht anders zurückerhalten, als entweder indem er die passive Bestimmung verliert, die er hatte, oder indem er die aktive schon in sich enthält, zu welcher er übergehen soll. Verlöre er bloß die passive Bestimmung, so würde er zugleich mit derselben auch die Möglichkeit einer aktiven verlieren, weil der Gedanke einen Körper braucht, und die Form nur an einem Stoffe realisirt werden kann. Er wird also die letztere schon in sich enthalten, er wird zugleich leidend und thätig bestimmt seyn, das heißt, er wird ästhetisch werden müssen.

Durch die ästhetische Gemüthsstimmung wird also die Selbstthätigkeit der Vernunft schon auf dem Felde der Sinnlichkeit eröfnet, die Macht der Empfindung schon innerhalb ihrer eigenen Grenzen gebrochen, und der physische Mensch so weit veredelt, daß nunmehr der geistige sich nach Gesetzen der Freyheit auf demselben bloß zu entwickeln braucht. Der Schritt von dem ästhetischen Zustand zu dem logischen und moralischen (von der Schönheit zur Wahrheit und zur Pflicht) ist daher unendlich leichter, als der Schritt von dem physischen Zustande zu dem ästhetischen (von dem bloßen blinden Leben zur Form) war. Jenen Schritt kann der Mensch durch seine bloße Freyheit vollbringen, da er sich bloß zu nehmen, und nicht zu geben, bloß seine Natur zu vereinzeln, nicht zu erweitern braucht; der ästhetisch gestimmte Mensch wird allgemein gültig urtheilen, und allgemein gültig handeln, sobald er es wollen wird. Den Schritt von der rohen Materie zur Schönheit, wo eine ganz neue Thätigkeit in ihm eröfnet werden soll, muß die Natur ihm erleichtern, und sein Wille kann über eine Stimmung nichts gebieten, die ja dem Willen selbst erst das Daseyn giebt. Um den ästhetischen Menschen zur Einsicht und großen Gesinnungen zu führen, darf man ihm weiter nichts, als wichtige Anlässe geben; um von dem sinnlichen Menschen eben das zu erhalten, muß man erst seine Natur verändern. Bey jenem braucht es oft nichts, als die Aufforderung einer erhabenen Situation, (die am unmittelbarsten auf das Willensvermögen wirkt) um ihn zum Held und zum Weisen zu machen; diesen muß man erst unter einen andern Himmel versetzen.

Es gehört also zu den wichtigsten Aufgaben der Kultur, den Menschen auch schon in seinem bloß physischen Leben der Form zu unterwerfen, und ihn so weit das Reich der Schönheit nur immer reichen kann, ästhetisch zu machen, weil nur aus dem ästhetischen nicht aber aus dem physischen Zustand der moralische sich entwickeln kann. Soll der Mensch in jedem einzelnen Fall das Vermögen besitzen, sein Urtheil und seinen Willen zum Urtheil der Gattung zu machen, soll er aus jedem beschränkten Daseyn den Durchgang zu einem unendlichen finden, aus jedem abhängigen Zustand zur Selbstständigkeit und Freyheit den Aufschwung nehmen können, so muß dafür gesorgt werden, daß er in keinem Momente bloß Individuum sey, und bloß dem Naturgesetz diene. Soll er fähig und fertig seyn, auf dem engen Kreis der Naturzwecke sich zu Vernunftzwecken zu erheben, so muß er sich schon innerhalb der ersteren, für die letztern geübt, und schon seine physische Bestimmung mit einer gewissen Freyheit der Geister, d. i. nach Gesetzen der Schönheit, ausgeführt haben.

Und zwar kann er dieses, ohne dadurch im geringsten seinem physischen Zweck zu widersprechen. Die Anfoderungen der Natur an ihn gehen bloß auf das, was er wirkt, auf den Innhalt seines Handelns, über die Art, wie er wirkt, über die Form desselben, ist durch die Naturzwecke nichts bestimmt. Die Anforderungen der Vernunft hingegen sind streng auf die Form seiner Thätigkeit gerichtet. So nothwendig es also für seine moralische Bestimmung ist, daß er rein moralisch sey, daß er eine absolute Selbstthätigkeit beweise, so gleichgültig ist es für seine physische Bestimmung, ob er rein physisch ist, ob er sich absolut leidend verhält. In Rücksicht auf diese letztere ist es also ganz in seine Willkühr gestellt, ob er sie bloß als Sinnenwesen, und als Naturkraft (als eine Kraft nehmlich, welche nur wirkt, je nachdem sie erleidet) oder ob er sie zugleich als absolute Kraft, als Vernunftwesen ausführen will, und es dürfte wohl keine Frage seyn, welches von beyden seiner Würde mehr entspricht. Vielmehr so sehr es ihn erniedrigt und schändet, dasjenige aus sinnlichem Antriebe zu thun, wozu er sich aus reinen Motiven der Pflicht bestimmt haben sollte, so sehr ehrt und adelt es ihn, auch da nach Gesetzmäßigkeit, nach Harmonie, nach Unbeschränktheit zu streben, wo der gemeine Mensch nur sein erlaubtes Verlangen stillt.7 Mit einem Wort: da, wo der Formtrieb herrschen soll, im Gebiete der Wahrheit und Moralität, darf keine Materie mehr seyn, darf die Empfindung nichts zu bestimmen haben; aber da, wo der Sachtrieb regiert, im Bezirke der Glückseligkeit, darf Form seyn, und darf der Spieltrieb gebieten.

Also hier schon, auf dem gleichgültigen Felde des physischen Lebens, muß der Mensch sein moralisches anfangen; noch in seinem Leiden muß er seine Selbstthätigkeit, noch innerhalb seiner sinnlichen Schranken seine Vernunftfreyheit beginnen. Schon seinen Neigungen muß er das Gesetz seines Willens auflegen; er muß, wenn Sie mir den Ausdruck verstatten wollen, den Krieg gegen die Materie in ihre eigene Grenze spielen, damit er es überhoben sey, auf dem heiligen Boden der Freyheit gegen diesen furchtbaren Feind zu fechten; er muß lernen edler begehren, damit er nicht nöthig habe, erhaben zu wollen. Dieses wird geleistet durch ästhetische Kultur, welche alles das, worüber weder Naturgesetze die menschliche Willkühr binden, noch Vernunftgesetze, Gesetzen der Schönheit unterwirft, und in der Form, die sie dem äußern Leben giebt, schon das innere eröffnet.

Vierundzwanzigster Brief.

Es lassen sich also drey verschiedene Momente oder Stuffen der Entwicklung unterscheiden, die sowohl der einzelne Mensch als die ganze Gattung nothwendig und in einer bestimmten Ordnung durchlaufen müssen, wenn sie den ganzen Kreis ihrer Bestimmung erfüllen sollen. Durch zufällige Ursachen, die entweder in dem Einfluß der äusern Dinge oder in der freyen Willkühr des Menschen liegen, können zwar die einzelnen Perioden bald verlängert, bald abgekürzt, aber keine kann ganz übersprungen, und auch die Ordnung, in welcher sie auf einander folgen, kann weder durch die Natur, noch durch den Willen umgekehrt werden. Der Mensch in seinem physischen Zustand erleidet bloß die Macht der Natur; er entledigt sich dieser Macht in dem ästhetischen Zustand, und er beherrscht sie in dem moralischen.

Was ist der Mensch, ehe die Schönheit die freye Lust ihm entlockt, und die ruhige Form das wilde Leben besänftigt? Ewig einförmig in seinen Zwecken, ewig wechselnd in seinen Urtheilen, selbstsüchtig, ohne Er selbst zu seyn, ungebunden ohne frey zu seyn, Sklave ohne einer Regel zu dienen. In dieser Epoche ist ihm die Welt bloß Schicksal, noch nicht Gegenstand; alles hat nur Existenz für ihn, insofern es ihm Existenz verschafft, was ihm weder giebt noch nimmt, ist ihm gar nicht vorhanden. Einzeln und abgeschnitten, wie er sich selbst in der Reyhe der Wesen findet, steht jede Erscheinung vor ihm da. Alles, was ist, ist ihm durch das Machtwort des Augenblicks, jede Veränderung ist ihm eine ganz frische Schöpfung, weil mit dem Nothwendigen in ihm die Nothwendigkeit außer ihm fehlt, welche die wechselnden Gestalten in ein Weltall zusammenbindet, und, indem das Individuum flieht, das Gesetz auf dem Schauplatze fest hält. Umsonst läßt die Natur ihre reiche Mannichfaltigkeit an seinen Sinnen vorüber gehen; er sieht in ihrer herrlichen Fülle nichts, als seine Beute, in ihrer Macht und Größe nichts als seinen Feind. Entweder er stürzt auf die Gegenstände, und will sie in sich reissen in der Begierde; oder die Gegenstände dringen zerstörend auf ihn ein, und er stößt sie von sich, in der Verabscheuung. In beyden Fällen ist sein Verhältniß zur Sinnenwelt unmittelbare Berührung, und ewig von ihrem Andrang geängstigt, rastlos von dem gebieterischen Bedürfniß gequält, findet er nirgends Ruhe als in der Ermattung, und nirgends Grenzen als in der erschöpften Begier.

Zwar die gewalt’ge Brust und der Titanen
Kraftvolles Mark ist sein…
Gewisses Erbtheil; doch es schmiedete
Der Gott um seine Stirn ein ehern Band,
Rath, Mäßigung und Weißheit und Geduld
Verbarg er seinem scheuen düstern Blick.
Es wird zur Wuth ihm jegliche Begier,
Und grenzenlos dringt seine Wuth umher.
Iphigenie auf Tauris

Mit seiner Menschenwürde unbekannt, ist er weit entfernt sie in andern zu ehren, und der eigenen wilden Gier sich bewußt, fürchtet er sie in jedem Geschöpf, das ihm ähnlich sieht. Nie erblickt er andre in sich, nur sich in andern, und die Gesellschaft, anstatt ihn zur Gattung auszudehnen, schließt ihn nur enger und enger in sein Individuum ein. In dieser dumpfen Beschränkung irrt er durch das nachtvolle Leben, bis eine günstige Natur die Last des Stoffes von seinen verfinsterten Sinnen wälzt, die Reflexion ihn selbst von den Dingen scheidet, und im Widerscheine des Bewußtseyns sich endlich die Gegenstände zeigen.

Dieser Zustand roher Natur läßt sich freylich, so wie er hier geschildert wird, bey keinem bestimmten Volk und Zeitalter nachweisen; er ist bloß Idee, aber eine Idee, mit der die Erfahrung in einzelnen Zügen aufs genaueste zusammen stimmt. Der Mensch, kann man sagen, war nie ganz in diesem thierischen Zustand, aber er ist ihm auch nie ganz entflohen. Auch in den rohesten Subjekten findet man unverkennbare Spuren von Vernunftfreyheit, so wie es in den gebildetsten nicht an Momenten fehlt, die an jenen düstern Naturstand erinnern. Es ist dem Menschen einmal eigen, das Höchste und das Niedrigste in seiner Natur zu vereinigen, und wenn seine Würde auf einer strengen Unterscheidung des einen von dem andern beruht, so beruht auf einer geschickten Aufhebung dieses Unterschieds seine Glückseligkeit. Die Kultur, welche seine Würde mit seiner Glückseligkeit in Übereinstimmung bringen soll, wird also für die höchste Reinheit jener beyden Prinzipien in ihrer innigsten Vermischung zu sorgen haben.

Die erste Erscheinung der Vernunft in dem Menschen ist darum noch nicht auch der Anfang seiner Menschheit. Diese wird erst durch seine Freyheit entschieden, und die Vernunft fängt erstlich damit an, seine sinnliche Abhängigkeit grenzenlos zu machen; ein Phänomen, das mir für seine Wichtigkeit und Allgemeinheit noch nicht gehörig entwickelt scheint. Die Vernunft, wissen wir, giebt sich in dem Menschen durch die Forderung des Absoluten (aus sich selbst gegründeten und nothwendigen) zu erkennen, welche, da ihr in keinem einzelnen Zustand seines physischen Lebens Genüge geleistet werden kann, ihn das physische ganz und gar zu verlassen, und von einer beschränkten Wirklichkeit zu Ideen aufzusteigen nöthigt. Aber obgleich der wahre Sinn jener Foderung ist, ihn den Schranken der Zeit zu entreissen und von der sinnlichen Welt zu einer Idealwelt empor zu führen, so kann sie doch, durch eine (in dieser Epoche der herrschenden Sinnlichkeit kaum zu vermeidende) Mißdeutung auf das physische Leben sich richten und den Menschen, anstatt ihn unabhängig zu machen, in die furchtbarste Knechtschaft stürzen.

Und so verhält es sich auch in der That. Auf den Flügeln der Einbildungskraft verläßt der Mensch die engen Schranken der Gegenwart, in welche die bloße Thierheit sich einschließt, um vorwärts nach einer unbeschränkten Zukunft zu streben; aber indem vor seiner schwindelnden Imagination das Unendliche aufgeht, hat sein Herz noch nicht aufgehört im Einzelnen zu leben, und dem Augenblick zu dienen. Mitten in seiner Thierheit überrascht ihn der Trieb zum Absoluten – und da in diesem dumpfen Zustande alle seine Bestrebungen bloß auf das Materielle und Zeitliche gehen, und bloß auf sein Individuum sich begrenzen, so wird er durch jene Foderung bloß veranlasst, sein Individuum, anstatt von demselben zu abstrahieren, ins Endlose auszudehnen, anstatt nach Form, nach einem unversiegenden Stoff, anstatt nach dem Unveränderlichen nach einer ewig dauernden Veränderung und nach einer absoluten Versicherung seines zeitlichen Daseins zu streben. Der nehmliche Trieb, der ihn, auf sein Denken und Thun angewendet, zur Wahrheit und Moralität führen sollte, bringt jetzt, auf sein Leiden und Empfinden bezogen, nichts als ein unbegrenztes Verlangen, als ein absolutes Bedürfniß hervor. Die ersten Früchte, die er in dem Geisterreich ärndtet, sind also Sorge und Furcht; beydes Wirkungen der Vernunft, nicht der Sinnlichkeit, aber einer Vernunft, die sich in ihrem Gegenstand vergreift, und ihren Imperativ unmittelbar auf den Stoff anwendet. Früchte dieses Baumes sind alle unbedingten Glückseligkeitssysteme, sie mögen den heutigen Tag oder das ganze Leben, oder, was sie um nichts ehrwürdiger macht, die ganze Ewigkeit zu ihrem Gegenstand haben. Eine grenzenlose Dauer des Daseyns und Wohlseyns, bloß um des Daseins und Wohlseyns willen, ist bloß ein Ideal der Begierde, mithin eine Forderung, die nur von einer ins Absolute strebenden Thierheit kann aufgeworfen werden. Ohne also durch eine Vernunftäußerung dieser Art etwas für seine Menschheit zu gewinnen, verliert er dadurch bloß die glückliche Beschränktheit des Tiers, vor welchem er nun bloß den unbeneidenswerthen Vorzug besitzt, über dem Streben in die Ferne den Besitz der Gegenwart zu verlieren, ohne doch in der ganzen grenzenlosen Ferne je etwas anders als die Gegenwart zu suchen.

Aber wenn sich die Vernunft auch in ihrem Objekt nicht vergreift, und in der Frage nicht irrt, so wird die Sinnlichkeit noch lange Zeit die Antwort verfälschen. Sobald der Mensch angefangen hat, seinen Verstand zu brauchen und die Erscheinungen umher nach Ursachen und Zwecken zu verknüpfen, so dringt die Vernunft, ihrem Begriffe gemäß, auf eine absolute Verknüpfung und auf einen unbedingten Grund. Um sich eine solche Foderung auch nur aufwerfen zu können, muß der Mensch über die Sinnlichkeit schon hinausgeschritten seyn; aber eben dieser Foderung bedient sie sich, um den Flüchtling zurückzuholen. Hier wäre nehmlich der Punkt, wo er die Sinnenwelt ganz und gar verlassen, und zum reinen Ideenreich sich aufschwingen mußte; denn der Verstand bleibt ewig innerhalb des Bedingten stehen und frägt ewig fort, ohne je auf ein Letztes zu gerathen. Da aber der Mensch, von dem hier geredet wird, einer solchen Abstraktion noch nicht fähig ist, so wird er, was er in seinem sinnlichen Erkenntnißkreise nicht findet, und über denselben hinaus in der reinen Vernunft noch nicht sucht, unter demselben in seinem Gefühlkreise suchen und dem Scheine nach finden. Die Sinnlichkeit zeigt ihm zwar nichts, was sein eigener Grund wäre, und sich selbst das Gesetz gäbe; aber sie zeigt ihm etwas, was von keinem Grunde weiß, und kein Gesetz achtet. Da er also den fragenden Verstand durch keinen letzten und innern Grund zur Ruhe bringen kann, so bringt er ihn durch den Begriff des Grundlosen wenigstens zum Schweigen, und bleibt innerhalb der blinden Nöthigung der Materie stehen, da er die erhabene Nothwendigkeit der Vernunft noch nicht zu erfassen vermag. Weil die Sinnlichkeit keinen andern Zweck kennt, als ihren Vortheil, und sich durch keine andre Ursache als den blinden Zufall getrieben fühlt, so macht er jenen zum Bestimmer seiner Handlungen, und diesen zum Beherrscher der Welt.

Selbst das Heilige im Menschen, das Moralgesetz, kann bey seiner ersten Erscheinung in der Sinnlichkeit dieser Verfälschung nicht entgehen. Da es bloß verbietend und gegen das Interesse seiner sinnlichen Selbstliebe spricht, so muß es ihm solange als etwas auswärtiges erscheinen, als er noch nicht dahin gelangt ist, jene Selbstliebe als das Auswärtige und die Stimme der Vernunft als sein wahres Selbst anzusehen. Er empfindet also bloß die Fesseln, welche die letztere ihm anlegt, nicht die unendliche Befreyung, die sie ihm verschafft. Ohne die Würde des Gesetzgebers in sich zu ahnen, empfindet er bloß den Zwang und das ohnmächtige Widerstreben des Unterthans. Weil der sinnliche Trieb dem moralischen in seiner Erfahrung vorhergeht, so giebt er dem Gesetz der Nothwendigkeit einen Anfang in der Zeit, einen positiven Ursprung, und durch den unglückseligsten aller Irrthümer macht er das Unveränderliche und Ewige in sich zu einem Accidens des Vergänglichen. Er überredet sich die Begriffe von Recht und Unrecht als Statuten anzusehen, die durch einen Willen eingeführt wurden, nicht die an sich selbst und in alle Ewigkeit gültig sind. Wie er in Erklärung einzelner Naturphänomene über die Natur hinaus schreitet, und außerhalb derselben sucht, was nur in ihrer innern Gesetzmäsigkeit kann gefunden werden, eben so schreitet er in Erklärung des Sittlichen über die Vernunft hinaus, und verscherzt seine Menschheit, indem er auf diesem Weg eine Gottheit sucht. Kein Wunder, wenn eine Religion, die mit Wegwerfung seiner Menschheit erkauft wurde, sich einer solchen Abstammung würdig zeigt, wenn er Gesetze, die nicht von Ewigkeit her banden, auch nicht für unbedingt und in alle Ewigkeit bindend hält. Er hat es nicht mit einem heiligen, bloß mit einem mächtigen Wesen zu thun. Der Geist seiner Gottesverehrung ist also Furcht, die ihn erniedrigt, nicht Ehrfurcht, die ihn in seiner eigenen Schätzung erhebt.

Obgleich diese mannichfaltigen Abweichungen des Menschen von dem Ideale seiner Bestimmung nicht alle in der nehmlichen Epoche statt haben können, indem derselbe von der Gedankenlosigkeit zum Irrthum, von der Willenlosigkeit zur Willensverderbniß mehrere Stuffen zu durchwandern hat, so gehören doch alle zum Gefolge des physischen Zustandes, weil in allen der Trieb des Lebens über den Formtrieb den Meister spielt. Es sey nun, daß die Vernunft in dem Menschen noch gar nicht gesprochen habe, und das Physische noch mit blinder Nothwendigkeit über ihn herrsche; oder daß sich die Vernunft noch nicht genug von den Sinnen gereinigt habe, und das Moralische dem Physischen noch diene, so ist in beyden Fällen das einzige in ihm gewalthabende Princip ein materielles und der Mensch wenigstens seiner letzten Tendenz nach ein sinnliches Wesen; mit dem einzigen Unterschied, daß er in dem ersten Fall ein vernunftloses, in dem zweyten ein vernünftiges Thier ist. Er soll aber keines von beyden, er soll Mensch seyn; die Natur soll ihn nicht ausschließend und die Vernunft soll ihn nicht bedingt beherrschen. Beyde Gesetzgebungen sollen vollkommen unabhängig von einander bestehen, und dennoch vollkommen einig seyn.

Fünfundzwanzigster Brief.

Solange der Mensch, in seinem ersten physischen Zustande, die Sinnenwelt bloß leidend in sich aufnimmt, bloß empfindet, ist er auch noch völlig Eins mit derselben, und eben weil er selbst bloß Welt ist, so ist für ihn noch keine Welt. Erst, wenn er in seinem ästhetischen Stande, sie außer sich stellt oder betrachtet, sondert sich seine Persönlichkeit von ihr ab, und es erscheint ihm eine Welt, weil er aufgehört hat, mit derselben Eins auszumachen.8

Die Betrachtung (Reflexion) ist das erste liberale Verhältniß des Menschen zu dem Weltall, das ihn umgiebt. Wenn die Begierde ihren Gegenstand unmittelbar ergreift, so rückt die Betrachtung den ihrigen in die Ferne, und macht ihn eben dadurch zu ihrem wahren und unverlierbaren Eigenthum, daß sie ihn vor der Leidenschaft flüchtet. Die Nothwendigkeit der Natur, die ihn im Zustand der bloßen Empfindung mit ungetheilter Gewalt beherrschte, läßt bey der Reflexion von ihm ab, in den Sinnen erfolgt ein augenblicklicher Friede, die Zeit selbst, das ewig wandelnde, steht still, indem des Bewußtseyns zerstreute Strahlen sich sammeln, und ein Nachbild des Unendlichen, die Form, reflektiert sich aus dem vergänglichen Grunde. Sobald es Licht wird in dem Menschen, ist auch außer ihm keine Nacht mehr; sobald es stille wird in ihm, legt sich auch der Sturm in dem Weltall, und die streitenden Kräfte der Natur finden Ruhe zwischen bleibenden Grenzen. Daher kein Wunder, wenn die uralten Dichtungen von dieser großen Begebenheit im Innern des Menschen als von einer Revolution in der Außenwelt reden, und den Gedanken, der über die Zeitgesetze siegt, unter dem Bilde des Zeus versinnlichen, der das Reich des Saturnus endigt.

Aus einem Sklaven der Natur, solang er sie bloß empfindet, wird der Mensch ihr Gesetzgeber, sobald er sie denkt. Die ihn vordem nur als Macht beherrschte, steht jetzt als Objekt vor seinem richtenden Blick. Was ihm Objekt ist, hat keine Gewalt über ihn, denn um Objekt zu seyn, muß es die seinige erfahren. So weit er der Materie Form giebt und solang er sie giebt, ist er ihren Wirkungen unverletzlich; denn einen Geist kann nichts verletzen, als was ihm die Freyheit raubt, und er beweißt ja die seinige, indem er das Formlose bildet. Nur wo die Masse schwer und gestaltlos herrscht, und zwischen unsichern Grenzen die trüben Umrisse wanken, hat die Furcht ihren Sitz; jedem Schreckniß der Natur ist der Mensch überlegen, sobald er ihm Form zu geben und es in sein Objekt zu verwandeln weiß. So wie er anfängt, seine Selbstständigkeit gegen die Natur als Erscheinung zu behaupten, so behauptet er auch gegen die Natur als Macht seine Würde, und mit edler Freyheit richtet er sich auf gegen seine Götter. Sie werfen die Gespensterlarven ab, womit sie seine Kindheit geängstigt hatten, und überraschen ihn mit seinem eigenen Bild, indem sie seine Vorstellung werden. Das göttliche Monstrum des Morgenländers, das mit der blinden Stärke des Raubthiers die Welt verwaltet, zieht sich in der griechischen Phantasie in den freundlichen Contour der Menschheit zusammen, das Reich der Titanen fällt, und die unendliche Kraft ist durch die unendliche Form gebändigt.

Aber, indem ich bloß einen Ausgang aus der materiellen Welt und einen Übergang in die Geisterwelt suchte, hat mich der freye Lauf meiner Einbildungskraft schon mitten in die letztere hineingeführt. Die Schönheit, die wir suchen, liegt bereits hinter uns, und wir haben sie übersprungen, indem wir von dem bloßen Leben unmittelbar zu der reinen Gestalt, und zu dem reinen Objekt übergiengen. Ein solcher Sprung ist nicht in der menschlichen Natur, und um gleichen Schritt mit dieser zu halten, werden wir zu der Sinnenwelt wieder umkehren müssen.

Die Schönheit ist allerdings das Werk der freyen Betrachtung, und wir treten mit ihr in die Welt der Ideen – aber was wohl zu bemerken ist, ohne darum die sinnliche Welt zu verlassen, wie bey Erkenntniß der Wahrheit geschieht. Diese ist das reine Produkt der Absonderung von allem, was materiell und zufällig ist, reines Objekt, in welchem keine Schranke des Subjekts zurükbleiben darf, reine Selbstthätigkeit ohne Beymischung eines Leidens. Zwar giebt es auch von der höchsten Abstraktion einen Rückweg zur Sinnlichkeit, denn der Gedanke rührt die innre Empfindung, und die Vorstellung logischer und moralischer Einheit geht in ein Gefühl sinnlicher Übereinstimmung über. Aber wenn wir uns an Erkenntnissen ergötzen, so unterscheiden wir sehr genau unsere Vorstellung von unserer Empfindung, und sehen diese letztere als etwas zufälliges an, was gar wohl wegbleiben könnte, ohne daß deswegen die Erkenntniß aufhörte, und Wahrheit nicht Wahrheit wäre. Diese bleibt, was sie ist, auch wenn sie keine Passion in den Sinnen machte, auch wenn es gar keine Passion in den Sinnen machte, auch wenn es gar keine Sinne gäbe, und in dem Begriffe der Gottheit lassen wir ja die Wahrheit bleiben, und alle Sinnlichkeit aufhören. Aber ein ganz vergebliches Unternehmen würde es seyn, diese Beziehung auf das Empfindungsvermögen von der Vorstellung der Schönheit absondern zu wollen; daher wir nicht damit ausreichen, uns die eine als den Effekt der andern zu denken, sondern beyde zugleich und wechselseitig als Effekt und als Ursache ansehen müssen. In unserm Vergnügen an Erkenntnissen unterscheiden wir ohne Mühe den Übergang von der Thätigkeit zum Leiden, und bemerken deutlich, daß das erste vorüber ist, wenn das letztere eintritt. In unserm Wohlgefallen an der Schönheit hingegen läßt sich keine solche Succession zwischen der Thätigkeit und dem Leiden unterscheiden, und die Reflexion zerfließt hier so vollkommen mit dem Gefühle, daß wir die Form unmittelbar zu empfinden glauben. Die Schönheit ist also zwar Gegenstand für uns, weil die Reflexion die Bedingung ist, unter der wir eine Empfindung von ihr haben; zugleich aber ist sie ein Zustand unsers Subjekts, weil das Gefühl die Bedingung ist, unter der wir eine Vorstellung von ihr haben. Sie ist also zwar Form, weil wir sie betrachten; zugleich aber ist sie Leben, weil wir sie fühlen. Mit einem Wort: sie ist zugleich unser Zustand und unsre That.

Und eben weil sie dieses beydes zugleich ist, so dient sie uns also zu einem siegenden Beweiß, daß das Leiden die Thätigkeit, daß die Materie die Form, daß die Beschränkung die Unendlichkeit keineswegs ausschliesse – daß mithin durch die nothwendige physische Abhängigkeit des Menschen seine moralische Freyheit keineswegs aufgehoben werde. Sie beweißt dieses, und, ich muß hinzusetzen, sie allein kann es uns beweisen. Denn da beym Genuß der Wahrheit oder der logischen Einheit, die Empfindung mit dem Gedanken nicht nothwendig eins ist, sondern auf denselben zufällig folgt, so kann uns dieselbe bloß beweisen, daß auf eine vernünftige Natur eine sinnliche folgen könne, und umgekehrt, nicht daß beyde zusammen bestehen, nicht daß sie wechselseitig auf einander wirken, nicht daß sie absolut und nothwendig zu vereinigen sind. Vielmehr müßte sich gerade umgekehrt aus dieser Ausschliessung des Gefühls, solange gedacht wird, und des Gedankens, solange empfunden wird, auf eine Unvereinbarkeit beyder Naturen schließen lassen, wie denn auch wirklich die Analysten keinen bessern Beweis für die Ausführbarkeit reiner Vernunft in der Menschheit anzuführen wissen, als den, daß sie geboten ist. Da nun aber bey dem Genuß der Schönheit oder der ästhetischen Einheit eine wirkliche Vereinigung und Auswechslung der Materie mit der Form, und des Leidens mit der Thätigkeit vor sich geht, so ist eben dadurch die Vereinbarkeit beyder Naturen, die Ausführbarkeit des Unendlichen in der Endlichkeit, mithin die Möglichkeit der erhabensten Menschheit bewiesen.

Wir dürfen also nicht mehr verlegen seyn, einen Übergang von der sinnlichen Abhängigkeit zu der moralischen Freyheit zu finden, nachdem durch die Schönheit der Fall gegeben ist, daß die letztere mit der ersteren vollkommen zusammen bestehen könne, und daß der Mensch, um sich als Geist zu erweisen, der Materie nicht zu entfliehen brauche. Ist er aber schon in Gemeinschaft mit der Sinnlichkeit frey, wie das Faktum der Schönheit lehrt, und ist Freyheit etwas absolutes und übersinnliches, wie ihr Begriff nothwendig mit sich bringt, so kann nicht mehr die Frage seyn, wie er dazu gelange, sich von den Schranken zum Absoluten zu erheben, sich in seinem Denken und Wollen der Sinnlichkeit entgegenzusetzen, da dieses schon in der Schönheit geschehen ist. Es kann, mit einem Wort, nicht mehr die Frage seyn, wie er von der Schönheit zur Wahrheit übergehe, die dem Vermögen nach schon in der ersten liegt, sondern, wie er von einer gemeinen Wirklichkeit zu einer ästhetischen, wie er von bloßen Lebensgefühlen zu Schönheitsgefühlen den Weg sich bahne.

Sechs und zwanzigster Brief.

Da die ästhetische Stimmung des Gemüths, wie ich in den vorhergehenden Briefen entwickelt habe, der Freyheit erst die Entstehung giebt, so ist leicht einzusehen, daß sie nicht aus derselben entspringen und folglich keinen moralischen Ursprung haben könne. Ein Geschenk der Natur muß sie seyn; die Gunst der Zufälle allein kann die Fesseln des physischen Standes lösen, und den Wilden zur Schönheit führen.

Der Keim der letztern wird sich gleich wenig entwickeln, wo eine karge Natur den Menschen jeder Erquickung beraubt, und wo eine verschwenderische ihn von jeder eigenen Anstrengung losspricht – wo die stumpfe Sinnlichkeit kein Bedürfniß fühlt, und wo die heftige Begier keine Sättigung findet. Nicht da, wo der Mensch sich troglodytisch in Höhlen birgt, ewig einzeln ist, und die Menschheit nie außer sich findet, auch nicht da, wo er nomadisch in großen Heermassen zieht, ewig nur Zahl ist, und die Menschheit nie in sich findet – da allein, wo er in eigener Hütte still mit sich selbst, und sobald er heraustritt, mit dem ganzen Geschlechte spricht, wird sich ihre liebliche Knospe entfalten. Da wo ein leichter Äther die Sinne jeder leisen Berührung eröfnet, und den üppigen Stoff eine energische Wärme beseelt – wo das Reich der blinden Masse schon in der leblosen Schöpfung gekürzt ist, und die siegende Form auch die niedrigsten Naturen veredelt – dort in den fröhlichen Verhältnissen, und in der gesegneten Zone, wo nur die Thätigkeit zum Genusse und nur der Genuß zur Thätigkeit führt, wo aus dem Leben selbst die heilige Ordnung quillt und aus dem Gesetz der Ordnung sich nur Leben entwickelt, – wo die Einbildungskraft der Wirklichkeit ewig entflieht, und dennoch von der Einfalt der Natur nie verirret – hier allein werden sich Sinne und Geist, empfangende und bildende Kraft in dem glücklichen Gleichmaaß entwickeln, welches die Seele der Schönheit, und die Bedingung der Menschheit ist.9

Und was ist es für ein Phänomen, durch welches sich bey dem Wilden der Eintritt in die Menschheit verkündigt? Soweit wir auch die Geschichte befragen, es ist dasselbe bey allen Völkerstämmen, welche der Sklaverey des thierischen Standes entsprungen sind: Die Freude am Schein, die Neigung zum Putz und zum Spiele.

Die höchste Stupidität und der höchste Verstand haben darinn eine gewisse Affinität miteinander, daß beyde nur das Reelle suchen, und für den bloßen Schein gänzlich unempfindlich sind. Nur durch die unmittelbare Gegenwart eines Objekts in den Sinnen wird jene aus ihrer Ruhe gerissen, und nur durch Zurückführung seiner Begriffe auf Thatsachen der Erfahrung wird der letztere zur Ruhe gebracht; mit einem Wort, die Dummheit kann sich nicht über die Wirklichkeit erheben, und der Verstand nicht unter der Wahrheit stehen bleiben. Was dort der Mangel der Einbildungskraft bewirkt, das bewirkt hier die absolute Beherrschung derselben. Insofern also das Bedürfniß der Realität und die Anhänglichkeit an das Wirkliche bloße Folgen des Mangels sind, ist die Gleichgültigkeit gegen Realität und das Interesse am Schein eine wahre Erweiterung der Menschheit und ein entschiedener Schritt zur Kultur. Fürs erste zeugt es von einer äußern Freyheit, denn solange die Noth gebietet, und das Bedürfniß drängt, ist die Einbildungskraft mit strengen Fesseln an das Wirkliche gebunden; erst wenn das Bedürfniß gestillt ist, entwickelt sie ihr ungebundenes Vermögen. Es zeugt aber auch von einer innern Freyheit; weil es uns eine Kraft sehen läßt die unabhängig von einem äußern Stoffe sich durch sich selbst in Bewegung setzt, und die Energie genug besitzt die andringende Materie von sich zu halten. Die Realität der Dinge ist ihr (der Dinge) Werk; der Schein der Dinge ist des Menschen Werk, und ein Gemüth, das sich am Scheine weidet, ergötzt sich schon nicht mehr an dem, was es empfängt, sondern an dem, was es thut.10

Die Natur selbst ist es, die den Menschen von der Realität zum Scheine emporhebt, indem sie ihn mit zwey Sinnen ausrüstete, die ihn bloß durch den Schein zur Erkenntniß des Wirklichen führen. In dem Auge und dem Ohr ist die andringende Materie schon hinweggewälzt von den Sinnen, und das Objekt entfernt sich von uns, das wir in den thierischen Sinnen unmittelbar berühren. Was wir durch das Auge sehen, ist von dem verschieden, was wir empfinden; denn der Verstand springt über das Licht hinaus zu den Gegenständen. Der Gegenstand des Takts ist eine Gewalt, die wir erleiden; der Gegenstand des Auges und des Ohrs ist eine Form, die wir erzeugen. Solange der Mensch noch ein Wilder ist, genießt er bloß mit den Sinnen des Gefühls, denen die Sinne des Scheins in dieser Periode bloß dienen. Er erhebt sich entweder gar nicht zum Sehen, oder er befriedigt sich doch nicht mit demselben. Sobald er anfängt, mit dem Auge zu genießen und das Sehen für ihn einen selbstständigen Werth erlangt, so ist er auch schon ästhetisch frey und der Spieltrieb hat sich entfaltet.

Gleich so wie der Spieltrieb sich regt, der am Scheine Gefallen findet, wird ihm auch der nachahmende Bildungstrieb folgen, der den Schein als etwas Selbstständiges behandelt. Sobald der Mensch einmal so weit gekommen ist, den Schein von der Wirklichkeit, die Form von dem Körper zu unterscheiden, so ist er auch im Stande, sie von ihm abzusondern; denn das hat er schon gethan, indem er sie unterscheidet. Das Vermögen zur nachahmenden Kunst, ist also mit dem Vermögen zur Form überhaupt gegeben; der Drang zu derselben beruht auf einer andern Anlage, von der ich hier nicht zu handeln brauche. Wie frühe oder wie spät sich der ästhetische Kunsttrieb entwickeln soll, das wird bloß von dem Grade der Liebe abhängen, mit der der Mensch fähig ist, sich bey dem blossen Schein zu verweilen.

Da alles wirkliche Daseyn von der Natur als einer fremden Macht, aller Schein aber ursprünglich von dem Menschen als vorstellendem Subjekte, sich herschreibt, so bedient er sich bloß seines absoluten Eigentumsrechts, wenn er den Schein von dem Wesen zurück nimmt, und mit demselben nach eigenen Gesetzen schaltet. Mit ungebundener Freyheit kann er, was die Natur trennte, zusammenfügen, sobald er es nur irgend zusammen denken kann, und trennen, was die Natur verknüpfte, sobald er es nur in seinem Verstande absondern kann. Nichts darf ihm hier heilig seyn, als sein eigenes Gesetz, sobald er nur die Markung in Acht nimmt, welche sein Gebiet von dem Daseyn der Dinge oder dem Naturgebiet scheidet.

Dieses menschliche Herrscherrecht übt er aus in der Kunst des Scheins und je strenger er hier das Mein und Dein von einander sondert, je sorgfältiger er die Gestalt von dem Wesen trennt, und je mehr Selbstständigkeit er derselben zu geben weiß, desto mehr wird er nicht bloß das Reich der Schönheit erweitern, sondern selbst die Grenzen der Wahrheit bewahren: denn er kann den Schein nicht von der Wirklichkeit reinigen, ohne zugleich die Wirklichkeit von dem Schein frey zu machen.

Aber er besitzt dieses souveraine Recht schlechterdings auch nur in der Welt des Scheins, in dem wesenlosen Reich der Einbildungskraft, und nur, solang er sich im theoretischen gewissenhaft enthält, Existenz davon auszusagen, und solang er im praktischen darauf Verzicht thut, Existenz dadurch zu ertheilen. Sie sehen hieraus, daß der Dichter auf gleiche Weise aus seinen Grenzen tritt, wenn er seinem Ideal Existenz beylegt, und wenn er eine bestimmte Existenz damit bezweckt. Denn beydes kann er nicht anders zu Stande bringen, als indem er entweder sein Dichterrecht überschreitet, durch das Ideal in das Gebiet der Erfahrung greift, und durch die bloße Möglichkeit wirkliches Daseyn zu bestimmen sich anmaßt, oder indem er sein Dichterrecht aufgiebt, die Erfahrung in das Gebiet des Ideals greifen läßt, und die Möglichkeit auf die Bedingungen der Wirklichkeit einschränkt.

Nur soweit er aufrichtig ist, (sich von allem Anspruch auf Realität ausdrücklich lossagt) und nur soweit er selbständig ist, (allen Beystand der Realität entbehrt) ist der Schein ästhetisch. Sobald er falsch ist und Realität heuchelt, und sobald er unrein und der Realität zu seiner Wirkung bedürftig ist, ist er nichts als ein niedriges Werkzeug zu materiellen Zwecken, und kann nichts für die Freyheit des Geistes beweisen. Übrigens ist es gar nicht nöthig, daß der Gegenstand, an dem wir den schönen Schein finden, ohne Realität sey, wenn nur unser Urtheil darüber auf diese Realität keine Rücksicht nimmt; denn soweit es diese Rücksicht nimmt, ist es kein ästhetisches. Eine lebende weibliche Schönheit wird uns freylich eben so gut und noch ein wenig beßer als eine eben so schöne, bloß gemalte, gefallen; aber insoweit sie uns besser gefällt als die letztere (ich setze hier der Kunst keine Grenzen) gefällt sie nicht mehr als selbstständiger Schein, gefällt sie nicht mehr dem reinen ästhetischen Gefühl, diesem darf auch das Lebendige nur als Erscheinung, auch das Wirkliche nur als Idee gefallen, aber freylich erfodert es noch einen ungleich höhern Grad der schönen Kultur, in dem Lebendigen selbst nur den reinen Schein zu empfinden, als das Leben an dem Schein zu entbehren.

Bey welchem einzelnen Menschen oder ganzen Volk man den aufrichtigen und selbstständigen Schein findet, da darf man auf Geist und Geschmack und jede damit verwandte Treflichkeit schließen – da wird man das Ideal das wirkliche Leben regieren, die Ehre über den Besitz, den Gedanken über den Genuß, den Traum der Unsterblichkeit über die Existenz triumphiren sehen. Da wird die öffentliche Stimme das einzig furchtbare seyn, und ein Olivenkranz höher als ein Purpurkleid ehren. Zum falschen und bedürftigen Schein nimmt nur die Ohnmacht und die Verkehrtheit ihre Zuflucht, und einzelne Menschen sowohl als ganze Völker, welche entweder „der Realität durch den Schein oder dem (ästhetischen) Schein durch Realität nachhelfen“ – beydes ist gerne verbunden – beweisen zugleich ihren moralischen Unwerth und ihr ästhetisches Unvermögen.11

Nichts ist gewöhnlicher als von gewißen trivialen Critikern des Zeitalters die Klage zu vernehmen, daß alle Solidität aus der Welt verschwunden sey, und das Wesen über dem Schein vernachlässigt werde. Obgleich ich mich gar nicht berufen fühle, das Zeitalter gegen diesen Vorwurf zu rechtfertigen, so geht doch schon aus der weiten Ausdehnung, welche diese strengen Herren Sittenrichter ihrer Anklage geben, sattsam hervor, daß sie dem Zeitalter nicht bloß den falschen sondern auch den aufrichtigen Schein verargen; und sogar die Ausnahmen, welche sie noch etwa zu Gunsten der Schönheit machen, gehen mehr auf den bedürftigen als auf den selbstständigen Schein. Sie greifen nicht bloß die betrügerische Schminke an, welche die Wahrheit verbirgt, welche die Wirklichkeit zu vertreten sich anmaßt; sie ereifern sich auch gegen den wohlthätigen Schein, der die Leerheit ausfüllt, und die Armseligkeit zudeckt, auch gegen den idealischen, der eine gemeine Wirklichkeit veredelt. Die Falschheit der Sitten beleidigt mit Recht ihr strenges Wahrheitsgefühl; nur schade, daß sie zu dieser Falschheit auch schon die Höflichkeit rechnen. Es mißfällt ihnen, daß äusserer Flitterglanz so oft das wahre Verdienst verdunkelt, aber es verdrüßt sie nicht weniger, daß man auch Schein vom Verdienste fodert, und dem innern Gehalte die gefällige Form nicht erläßt. Sie vermissen das Herzliche, Kernhafte und Gediegene der vorigen Zeiten, aber sie möchten auch das Eckigte und Derbe der ersten Sitten, das Schwerfällige der alten Formen, und den ehemaligen gotischen Überfluß wieder eingeführt sehen. Sie beweisen durch Urtheile dieser Art dem Stoff an sich selbst eine Achtung, die der Menschheit nicht würdig ist, welche vielmehr das Materielle nur insoferne schätzen soll, als es Gestalt zu empfangen und das Reich der Ideen zu verbreiten im Stand ist. Auf solche Stimmen braucht also der Geschmack des Jahrhunderts nicht sehr zu hören, wenn er nur sonst vor einer bessern Instanz besteht. Nicht daß wir einen Werth auf den ästhetischen Schein legen (wir thun dieß noch lange nicht genug) sondern daß wir es noch nicht bis zu dem reinen Schein gebracht haben, daß wir das Daseyn noch nicht genug von der Erscheinung geschieden, und dadurch beyder Grenzen auf ewig gesichert haben, dies ist es, was uns ein rigoristischer Richter der Schönheit zum Vorwurf machen kann. Diesen Vorwurf werden wir solang verdienen, als wir das Schöne der lebendigen Natur nicht genießen können, ohne es zu begehren, das Schöne der nachahmenden Kunst nicht bewundern können, ohne nach einem Zwecke zu fragen – als wir der Einbildungskraft noch keine eigene absolute Gesetzgebung zugestehen, und durch die Achtung, die wir ihren Werken erzeigen, sie auf ihre Würde hinweisen.

Siebenundzwanzigster Brief.

Fürchten Sie nichts für Realität und Wahrheit, wenn der hohe Begriff, den ich in dem vorhergehenden Briefe von dem ästhetischen Schein aufstellte, allgemein werden sollte. Er wird nicht allgemein werden, so lange der Mensch noch ungebildet genug ist, um einen Mißbrauch davon machen zu können; und würde er allgemein, so könnte dieß nur durch eine Kultur bewirkt werden, die zugleich jeden Mißbrauch unmöglich machte. Dem selbstständigen Schein nachzustreben erfodert mehr Abstraktionsvermögen, mehr Freyheit des Herzens, mehr Energie des Willens, als der Mensch nöthig hat, um sich auf die Realität einzuschränken, und er muß diese schon hinter sich haben, wenn er bey jenem anlangen will. Wie übel würde er sich also rathen, wenn er den Weg zum Ideale einschlagen wollte, um sich den Weg zur Wirklichkeit und Wahrheit zu ersparen! Von dem Schein, so wie er hier genommen wird, möchten wir also für die Wirklichkeit nicht viel zu besorgen haben; desto mehr dürfte aber von der Wirklichkeit für den Schein zu befürchten seyn. An das Materielle gefesselt, läßt der Mensch diesen lange Zeit bloß seinen Zwecken dienen, ehe er ihm in der Kunst des Ideals eine eigene Persönlichkeit zugesteht. Zu dem letztern bedarf es einer totalen Revolution in seiner ganzen Empfindungsweise, ohne welche er auch nicht einmal auf dem Wege zum Ideal sich befinden würde. Wo wir also Spuren einer uninteressierten freyen Schätzung des reinen Scheins entdecken, da können wir auf eine solche Umwälzung seiner Natur und den eigentlichen Anfang der Menschheit in ihm schließen. Spuren dieser Art finden sich aber wirklich schon in den ersten rohen Versuchen, die er zur Verschönerung seines Daseyns macht, selbst auf die Gefahr macht, daß er es dem sinnlichen Gehalt nach dadurch verschlechtern sollte. Sobald er überhaupt nur anfängt, dem Stoff die Gestalt vorzuziehen, und an den Schein, (den er aber dafür erkennen muß) Realität zu wagen, so ist sein thierischer Kreis aufgethan, und er befindet sich auf einer Bahn, die nicht endet.

Mit dem allein nicht zufrieden, was der Natur genügt und was das Bedürfniß fodert, verlangt er Überfluß; anfangs zwar bloß einen Überfluß des Stoffes, um der Begier ihre Schranken zu verbergen, um den Genuß über das gegenwärtige Bedürfniß hinaus zu versichern; bald aber einen Überfluß an dem Stoffe, eine ästhetische Zugabe, um auch dem Formtrieb genug zu thun, um den Genuß über jedes Bedürfniß hinaus zu erweitern. Indem er bloß für einen künftigen Gebrauch Vorräthe sammelt und in der Einbildung dieselben vorausgenießt, so überschreitet er zwar den jetzigen Augenblick, aber ohne die Zeit überhaupt zu überschreiten; er genießt mehr aber er genießt nicht anders. Indem er aber zugleich die Gestalt in seinen Genuß zieht und auf die Formen der Gegenstände merkt, die seine Begierden befriedigen, ist er über die Zeit selbst hinausgeschritten, und hat seinen Genuß nicht bloß dem Umfang und dem Grad nach erhöht, sondern auch der Art nach veredelt.

Zwar hat die Natur auch schon dem Vernunftlosen über die Nothdurft gegeben, und in das dunkle thierische Leben einen Schimmer von Freyheit gestreut. Wenn den Löwen kein Hunger nagt, und kein Raubthier zum Kampf herausfodert, so erschafft sich die müßige Stärke selbst einen Gegenstand; mit muthvollem Gebrüll erfüllt er die hallende Wüste, und in zwecklosem Aufwand genießt sich die üppige Kraft. Mit frohem Leben schwärmt das Insekt in dem Sonnenstrahl; auch ist es sicherlich nicht der Schrey der Begierde, den wir in dem melodischen Schlag des Singvogels hören. Unläugbar ist in diesen Bewegungen Freyheit, aber nicht Freyheit von dem Bedürfniß überhaupt, bloß von einem bestimmten, von einem äussern Bedürfniß. Das Thier arbeitet, wenn ein Mangel die Triebfeder seiner Thätigkeit ist, und es spielt, wenn der Reichthum der Kraft diese Triebfeder ist, wenn das überflüssige Leben sich selbst zur Thätigkeit stachelt. Selbst in der unbeseelten Natur zeigt sich ein solcher Luxus der Kräfte und eine Laxität der Bestimmung, die man in jenem materiellen Sinn gar wohl Spiel nennen könnte. Der Baum treibt unzählige Keime, die unentwickelt verderben, und streckt weit mehr Wurzeln, Zweige und Blätter nach Nahrung aus, als zu Erhaltung seines Individuums und seiner Gattung verwendet werden. Was er von seiner verschwenderischen Fülle ungebraucht und ungenossen dem Elementarreich zurückgiebt, das darf das Lebendige in fröhlicher Bewegung verschwelgen. So giebt uns die Natur schon in ihrem materiellen Reich ein Vorspiel des Unbegrenzten und hebt hier schon zum Theil die Fesseln auf, deren sie sich im Reich der Form ganz und gar entledigt. Von dem Zwang des Bedürfnisses oder dem physischen Ernst nimmt sie durch den Zwang des Überflusses oder das physische Spiel den Übergang zum ästhetischen Spiel und ehe sie sich in der hohen Freyheit des Schönen über die Fessel jedes Zwecks erhebt, nähert sie sich dieser Unabhängigkeit wenigstens von ferne schon in der freyen Bewegung, die sich selbst Zweck und Mittel ist.

Wie die körperlichen Werkzeuge, so hat in dem Menschen auch die Einbildungskraft ihre freye Bewegung und ihr materielles Spiel, in welchem sie, ohne alle Beziehung auf Gestalt, bloß ihrer Eigenmacht und Fessellosigkeit sich freut. Insofern sich noch gar nichts von Form in diese Phantasiespiele mischt, und eine ungezwungene Folge von Bildern den ganzen Reiz derselben ausmacht, gehören sie, obgleich sie dem Menschen allein zukommen können, bloß zu seinem animalischen Leben und beweisen bloß seine Befreyung von jedem äussern sinnlichen Zwang, ohne noch auf eine selbstständige bildende Kraft in ihm schließen zu lassen.12 Von diesem Spiel der freyen Ideenfolge, welches noch ganz materieller Art ist, und aus bloßen Naturgesetzen sich erklärt, macht endlich die Einbildungskraft in dem Versuch einer freyen Form den Sprung zum ästhetischen Spiele. Einen Sprung muß man es nennen, weil sich eine ganz neue Kraft hier in Handlung setzt; denn hier zum erstenmal mischt sich der gesetzgebende Geist in die Handlungen eines blinden Instinktes, unterwirft das willkührliche Verfahren der Einbildungskraft seiner unveränderlichen ewigen Einheit, legt seine Selbstständigkeit in das Wandelbare und seine Unendlichkeit in das Sinnliche. Aber, solange die rohe Natur noch zu mächtig ist, die kein anderes Gesetz kennt, als rastlos von Veränderung zu Veränderung fortzueilen, wird sie durch ihre unstete Willkühr jener Nothwendigkeit, durch ihre Unruhe jener Stätigkeit, durch ihre Bedürftigkeit jener Selbstständigkeit, durch ihre Ungenügsamkeit jener erhabenen Einfalt entgegen streben. Der ästhetische Spieltrieb wird also in seinen ersten Versuchen noch kaum zu erkennen seyn, da der sinnliche mit seiner eigensinnigen Laune und seiner wilden Begierde unaufhörlich dazwischen tritt die hohe Nothwendigkeit des Ideals mit der Nothdurft des Individuums verwechselt, und die edle Darstellung eines ewigen Willens, in der schönen Form, durch die unreine Spur eines vorübergehenden Verlangens befleckt. Daher sehen wir den rohen Geschmack das Neue und Überraschende, das Bunte, Abentheuerliche und Bizarre, das Heftige und Wilde zuerst ergreifen, und vor nichts so sehr als vor der Einfalt und Ruhe fliehen. Er bildet groteske Gestalten, liebt rasche und abrupte Übergänge, üppige Formen, grelle Kontraste, schreyende Lichter, einen pathetischen Gesang. Schon heißt ihm in dieser Epoche bloß, was ihn aufregt, was ihm Stoff giebt – aber aufregt zu einem selbstthätigen Widerstand, aber Stoff giebt, für ein mögliches Bilden, denn sonst würde es selbst ihm nicht das Schöne seyn. Mit der Form seiner Urtheile ist also eine merkwürdige Veränderung vorgegangen; er sucht diese Gegenstände nicht, weil sie ihm etwas zu erleiden, sondern weil sie ihm zu handeln geben; sie gefallen ihm nicht, weil sie einem Bedürfniß begegnen, sondern weil sie einem Gesetze Genüge leisten, welches, obgleich noch leise, in seinem Busen spricht.

Bald ist er nicht mehr damit zufrieden, daß ihm die Dinge gefallen: er will selbst gefallen, anfangs zwar nur durch das, was sein ist, endlich durch das, was er ist. Was er besitzt, was er hervorbringt, darf nicht mehr bloß die Spuren der Dienstbarkeit, die ängstliche Form seines Zwecks an sich tragen; neben dem Dienst, zu dem es da ist, muß es zugleich den geistreichen Verstand, der es dachte, die liebende Hand, die es ausführte, den heitern und freyen Geist, der es wählte und aufstellte, wiederscheinen. Jetzt sucht sich der alte Germanier glänzendere Thierfelle, prächtigere Geweyhe, zierlichere Trinkhörner aus, und der Kaledonier wählt die nettesten Muscheln für seine Feste. Selbst die Waffen dürfen jetzt nicht mehr bloß Gegenstände des Schreckens, sondern auch des Wohlgefallens seyn, und das kunstreiche Wehrgehänge will nicht weniger bemerkt seyn, als des Schwerdtes tödtende Scheide. Nicht zufrieden, einen ästhetischen Überfluß in das Nothwendige zu bringen, reißt sich der freyere Spieltrieb endlich ganz von den Fesseln der Nothdurft los, und das Schöne wird für sich allein ein Objekt seines Strebens. Er schmükt sich. Die freye Lust wird in die Zahl seiner Bedürfnisse aufgenommen, und das Unnötige ist bald der beste Theil seiner Freuden.

Sowie sich ihm von außen her, in seiner Wohnung, seinem Haußgeräthe, seiner Bekleidung allmählig die Form nähert, so fängt sie endlich an, von ihm selbst Besitz zu nehmen, und anfangs bloß den äussern, zuletzt auch den innern Menschen zu verwandeln. Der gesetzlose Sprung der Freude wird zum Tanz, die ungestalte Geste zu einer anmuthigen harmonischen Gebärdensprache; die verworrenen Laute der Empfindung entfalten sich, fangen an, dem Takt zu gehorchen und sich zum Gesange zu biegen. Wenn das trojanische Heer mit gellendem Geschrey gleich einem Zug von Kranichen ins Schlachtfeld heranstürmt, so nähert sich das griechische demselben still und mit edlem Schritt. Dort sehen wir bloß den Übermuth blinder Kräfte, hier den Sieg der Form, und die simple Majestät des Gesetzes.

Eine schönere Nothwendigkeit kettet jetzt die Geschlechter zusammen, und der Herzen Antheil hilft das Bündniß bewahren, das die Begierde nur launisch und wandelbar knüpft. Aus ihren düstern Fesseln entlassen, ergreift das ruhigere Auge die Gestalt, die Seele schaut in die Seele, und aus einem eigennützigen Tausche der Lust wird ein großmüthiger Wechsel der Neigung. Die Begierde erweitert und erhebt sich zur Liebe, so wie die Menschheit in ihrem Gegenstand aufgeht, und der niedrige Vortheil über den Sinn wird verschmäht, um über den Willen einen edleren Sieg zu erkämpfen. Das Bedürfniß zu gefallen unterwirft den Mächtigen des Geschmackes zartem Gericht; die Lust kann er rauben, aber die Liebe muß eine Gabe seyn. Um diesen höhern Preiß kann er nur durch Form, nicht durch Materie ringen. Er muß aufhören, das Gefühl als Kraft zu berühren, und als Erscheinung dem Verstand gegenüber stehn; er muß Freyheit lassen, weil er der Freyheit gefallen will. So wie die Schönheit den Streit der Naturen in seinem einfachsten und reinsten Exempel, in dem ewigen Gegensatz der Geschlechter löst, so löst sie ihn – oder zielt wenigstens dahin, ihn auch in dem verwickelten Ganzen der Gesellschaft zu lösen, und nach dem Muster des freyen Bundes, den sie dort zwischen der männlichen Kraft und der weiblichen Milde knüpft, alles Sanfte und Heftige in der moralischen Welt zu versöhnen. Jetzt wird die Schwäche heilig, und die nicht gebändigte Stärke entehrt; das Unrecht der Natur wird durch die Großmuth ritterlicher Sitten verbessert. Den keine Gewalt erschrecken darf, entwaffnet die holde Röthe der Scham, und Thränen ersticken eine Rache, die kein Blut löschen konnte. Selbst der Haß merkt auf der Ehre zarte Stimme, das Schwerdt des Überwinders verschont den entwaffneten Feind, und ein gastlicher Heerd raucht dem Fremdling an der gefürchteten Küste, wo ihn sonst nur der Mord empfing.

Mitten in dem furchtbaren Reich der Kräfte und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt, und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im physischen als im moralischen entbindet.

Wenn in dem dynamischen Staat der Rechte der Mensch dem Menschen als Kraft begegnet und sein Wirken beschränkt – wenn er sich ihm in dem ethischen Staat der Pflichten mit der Majestät des Gesetzes entgegenstellt, und sein Wollen fesselt, so darf er ihm im Kreise des schönen Umgangs, in dem ästhetischen Staat, nur als Gestalt erscheinen, nur als Objekt des freyen Spiels gegenüber stehen. Freyheit zu geben durch Freyheit ist das Grundgesetz dieses Reichs. Hier darf weder das Einzelne mit dem Ganzen, noch das Ganze mit dem Einzelnen streiten. Nicht, weil das eine nachgiebt, darf das andre mächtig seyn; hier darf es nur Sieger, aber keinen Besiegten geben.

Der dynamische Staat kann die Gesellschaft bloß möglich machen, indem er die Natur durch Natur bezähmt; der ethische Staat kann sie bloß (moralisch) nothwendig machen, indem er den einzelnen Willen dem allgemeinen unterwirft; der ästhetische Staat allein kann sie wirklich machen, weil er den Willen des Ganzen durch die Natur des Individuums vollzieht. Wenn schon das Bedürfniß den Menschen in die Gesellschaft nöthigt, und die Vernunft gesellige Grundsätze in ihm pflanzt, so kann die Schönheit allein ihm einen geselligen Charakter ertheilen. Der Geschmack allein bringt Harmonie in die Gesellschaft, weil er Harmonie in dem Individuum stiftet. Alle andern Formen der Vorstellung trennen den Menschen, weil sie sich anschließend entweder auf den sinnlichen oder auf den geistigen Theil seines Wesens gründen; nur die schöne Vorstellung macht ein Ganzes aus ihm, weil seine beyden Naturen dazu zusammen stimmen müssen. Alle andere Formen der Mittheilung trennen die Gesellschaft, weil sie sich ausschließend entweder auf die Privatempfänglichkeit, oder auf die Privatfertigkeit der einzelnen Glieder, also auf das Unterscheidende zwischen Menschen und Menschen beziehen; nur die schöne Mittheilung vereinigt die Gesellschaft, weil sie sich auf das Gemeinsame aller bezieht. Die Freuden der Sinne geniessen wir bloß als Individuen, ohne daß die Gattung, die in uns wohnt, daran Antheil nähme; wir können also unsre sinnlichen Freuden nicht zu allgemeinen erweitern, weil wir unser Individuum nicht allgemein machen können. Die Freuden der Erkenntniß genießen wir bloß als Gattung, und indem wir jede Spur des Individuums sorgfältig aus unserm Urtheil entfernen; wir können also unsre Vernunftfreuden nicht allgemein machen, weil wir die Spuren des Individuums aus dem Urtheile anderer nicht so wie aus dem unsrigen ausschließen können. Das Schöne allein genießen wir als Individuum und als Gattung zugleich, d. h. als Repräsentanten der Gattung. Das sinnliche Gute kann nur Einen Glücklichen machen, da es sich auf Zueignung gründet, welche immer eine Ausschließung mit sich führt; es kann diesen Einen auch nur einseitig glücklich machen, weil die Persönlichkeit nicht daran Theil nimmt. Das absolut Gute kann nur unter Bedingungen glücklich machen, die allgemein nicht vorauszusetzen sind; denn die Wahrheit ist nur der Preiß der Verläugnung, und an den reinen Willen glaubt nur ein reines Herz. Die Schönheit allein beglückt alle Welt, und jedes Wesen vergißt seiner Schranken, so lang es ihren Zauber erfährt.

Kein Vorzug, keine Alleinherrschaft wird geduldet, so weit der Geschmack regiert, und das Reich des schönen Scheins sich verbreitet. Dieses Reich erstreckt sich aufwärts, biß wo die Vernunft mit unbedingter Nothwendigkeit herrscht, und alle Materie aufhört; es erstreckt sich niederwärts, biß wo der Naturtrieb mit blinder Nöthigung waltet, und die Form noch nicht anfängt; ja selbst auf diesen äußersten Grenzen, wo die gesetzgebende Macht ihm genommen ist, läßt sich der Geschmack doch die vollziehende nicht entreissen. Die ungesellige Begierde muß ihrer Selbstsucht entsagen, und das Angenehme, welches sonst nur die Sinne lockt, das Netz der Anmuth auch über die Geister auswerfen. Der Nothwendigkeit strenge Stimme, die Pflicht, muß ihre vorwerfende Formel verändern, die nur der Widerstand rechtfertigt, und die willige Natur durch ein edleres Zutrauen ehren. Aus den Mysterien der Wissenschaft führt der Geschmack die Erkenntniß unter den offenen Himmel des Gemeinsinns heraus, und verwandelt das Eigenthum der Schulen in ein Gemeingut der ganzen menschlichen Gesellschaft. In seinem Gebiete muß auch der mächtigste Genius sich seiner Hoheit begeben und zu dem Kindersinn vertraulich herniedersteigen. Die Kraft muß sich binden lassen durch die Huldgöttinnen, und der trotzige Löwe dem Zaum eines Amors gehorchen. Dafür breitet er über das physische Bedürfniß, das in seiner nackten Gestalt die Würde freyer Geister beleidigt, seinen mildernden Schleyer aus, und verbirgt uns die entehrende Verwandtschaft mit dem Stoff in einem lieblichen Blendwerk von Freyheit. Beflügelt durch ihn entschwingt sich auch die kriechende Lohnkunst dem Staube, und die Fesseln der Leibeigenschaft fallen, von seinem Stabe berührt, von dem Leblosen wie von dem Lebendigen ab. In dem ästhetischen Staate ist alles – auch das dienende Werkzeug ein freyer Bürger, der mit dem edelsten gleiche Rechte hat, und der Verstand, der die duldende Masse unter seine Zwecke gewaltthätig beugt, muß sie hier um ihre Beystimmung fragen. Hier also in dem Reiche des ästhetischen Scheins wird das Ideal der Gleichheit erfüllt, welches der Schwärmer so gern auch dem Wesen nach realisiert sehen möchte; und wenn es wahr ist, daß der schöne Ton in der Nähe des Thrones am frühesten und am vollkommensten reift, so müßte man auch hier die gütige Schickung erkennen, die den Menschen oft nur deswegen in der Wirklichkeit einzuschränken scheint, um ihn in eine idealistische Welt zu treiben.13

 

1 Der vortrefliche Verfasser der Schrift: Grundsätze der Ästhetik u. s. f. Erfurt 1791. unterscheidet in der Schönheit die zwey Grundprincipien Anmuth und Kraft und setzt die Schönheit in die vollkommenste Vereinigung beyder; welches mit der hier gegebenen Erklärung aufs genaueste zusammentrift. Auch in seiner Definition liegt also schon der Grund der Eintheilung der Schönheit in eine schmelzende, worinn die Anmuth, und in eine energische, worinn die Kraft überwiegt.

2 Einem aufmerksamen Leser wird sich bey der hier angestellten Vergleichung die Bemerkung dargeboten haben, daß die sensualen Ästhetiker, welche das Zeugniß der Empfindung mehr als das Raisonnement gelten lassen, sich der That nach weit weniger von der Wahrheit entfernen als ihre Gegner, obgleich sie der Einsicht nach es nicht mit diesen aufnehmen können; und dieses Verhältniß findet man überall zwischen der Natur und der Wissenschaft. Die Natur (der Sinn) vereinigt überall, der Verstand scheidet überall, aber die Vernunft vereinigt wieder; daher ist der Mensch, ehe er anfängt zu philosophieren, der Wahrheit näher als der Philosoph, der seine Untersuchung noch nicht durch alle Kategorien durchgeführt und geendigt hat. Man kann deßwegen ohne alle weitere Prüfung ein Philosophem für irrig erklären, sobald dasselbe, dem Resultat nach, die gemeine Empfindung gegen sich hat; mit demselben Rechte aber kann man es für verdächtig halten, wenn es, der Form und Methode nach, die gemeine Empfindung auf seiner Seite hat. Mit dem letztern mag sich ein jeder Schriftsteller trösten, der eine philosophische Deduction nicht, wie manche Leser zu erwarten scheinen, wie eine Unterhaltung am Kaminfeuer vortragen kann. Mit dem ersteren mag man jeden zum Stillschweigen bringen, der auf Kosten des Menschenverstandes neue Systeme gründen will.

3 Um aller Mißdeutung vorzubeugen, bemerke ich, daß, so oft hier von Freyheit die Rede ist, nicht diejenige gemeynt ist, die dem Menschen, als Intelligenz betrachtet, nothwendig zukommt und ihm weder gegeben noch genommen werden kann, sondern diejenige, welche sich auf seine gemischte Natur gründet. Dadurch daß der Mensch überhaupt nur vernünftig handelt, beweist er eine Freyheit der ersten Art; dadurch, daß er in den Schranken des Stoffes vernünftig, und unter Gesetzen der Vernunft materiell handelt, beweißt er eine Freyheit der zweyten Art. Man könnte die letztere schlechtweg durch eine natürliche Möglichkeit der ersteren erklären. ­

4 Für Leser, denen die reine Bedeutung dieses durch Unwissenheit so sehr gemißbrauchten Wortes nicht ganz geläufig ist, mag folgendes zur Erklärung dienen. Alle Dinge, die irgend in der Erscheinung vorkommen können, lassen sich unter vier verschiedenen Beziehungen denken. Eine Sache kann sich unmittelbar auf unsern sinnlichen Zustand (unser Daseyn und Wohlseyn) beziehen; das ist ihre physische Beschaffenheit. Oder sie kann sich auf den Verstand beziehen, und uns eine Erkenntniß verschaffen; das ist ihre logische Beschaffenheit. Oder sie kann sich auf unsern Willen beziehen, und als ein Gegenstand der Wahl für ein vernünftiges Wesen betrachtet werden; das ist ihre moralische Beschaffenheit. Oder endlich, sie kann sich auf das Ganze unsrer verschiedenen Kräfte beziehen, ohne für eine einzelne derselben ein bestimmtes Objekt zu seyn, das ist ihre ästhetische Beschaffenheit. Ein Mensch kann uns durch seine Dienstfertigkeit angenehm seyn; er kann uns durch seine Unterhaltung zu denken geben; er kann uns durch seinen Charakter Achtung einflößen; endlich kann er uns aber auch, unabhängig von diesem allen und ohne daß wir bey seiner Beurtheilung weder auf irgend ein Gesetz, noch auf irgend einen Zwek Rüksicht nehmen, in der bloßen Betrachtung und durch seine bloße Erscheinungsart gefallen. In dieser letztern Qualität beurtheilen wir ihn ästhetisch. So giebt es eine Erziehung zur Gesundheit, eine Erziehung zur Einsicht, eine Erziehung zur Sittlichkeit, eine Erziehung zum Geschmack und zur Schönheit. Diese letztere hat zur Absicht, das Ganze unserer sinnlichen und geistigen Kräfte in möglichster Harmonie auszubilden. Weil man indessen, von einem falschen Geschmack verführt, und durch ein falsches Raisonnement noch mehr in diesem Irrthum bevestigt, den Begriff des Willkührlichen in den Begriff des Ästhetischen gerne mit aufnimmt, so merke ich hier zum Überfluss noch an (obgleich diese Briefe über ästhetische Erziehung fast mit nichts anderem umgehen, als jenen Irrthum zu widerlegen) daß das Gemüth im ästhetischen Zustande zwar frey und im höchsten Grad frey von allem Zwang, aber keineswegs frey von Gesetzen handelt, und daß diese ästhetische Freyheit sich von der logischen Nothwendigkeit beym Denken und von der moralischen Nothwendigkeit beym Wollen nur dadurch unterscheidet, daß die Gesetze, nach denen das Gemüth dabey verfährt, nicht vorgestellt werden und weil sie keinen Widerstand finden, nicht als Nötigung erscheinen.

5 Man sehe den vierzehenten und fünfzehenten Brief im zweyten Stück der Horen.

6 Zwar läßt die Schnelligkeit, mit welcher gewisse Charaktere von Empfindungen zu Gedanken, und zu Entschließungen übergehen, die ästhetische Stimmung, welche sie in dieser Zeit nothwendig durchlaufen müssen, kaum oder gar nicht bemerkbar werden. Solche Gemüther können den Zustand der Bestimmungslosigkeit nicht lang ertragen, und dringen ungeduldig auf ein Resultat, welches sie in dem Zustand ästhetischer Unbegrenztheit nicht finden. Dahingegen breitet sich bey andern, welche ihren Genuß mehr in das Gefühl des ganzen Vermögens, als einer einzelnen Handlung desselben setzen, der ästhetische Zustand in eine weit größere Fläche aus. So sehr die ersten sich vor der Leerheit fürchten, so wenig können die letzten Beschränkung ertragen. Ich brauche kaum zu erinnern, daß die ersten fürs Detail und für subalterne Geschäfte, die letzten, vorausgesetzt daß sie mit diesem Vermögen zugleich Realität vereinigen, fürs Ganze und zu großen Rollen gebohren sind.

7 Diese geistreiche und ästhetisch freye Behandlung gemeiner Wirklichkeit ist, wo man sie auch antrifft, das Kennzeichen einer edeln Seele. Edel ist überhaupt ein Gemüth zu nennen, welches die Gabe besitzt, auch das beschränkteste Geschäft und den kleinlichsten Gegenstand durch die Behandlungsweise in ein Unendliches zu verwandeln. Edel heißt jede Form, welche dem, was seiner Natur nach bloß dient (bloßes Mittel ist), das Gepräge der Selbstständigkeit aufdrückt. Ein edler Geist begnügt sich nicht damit, selbst frey zu seyn, er muß alles andere um sich her, auch das Leblose, in Freyheit setzen. Schönheit aber ist der einzig mögliche Ausdruck der Freyheit in der Erscheinung. Der vorherrschende Ausdruck des Verstandes in einem Gesicht, einem Kunstwerk u. dgl. kann daher niemals edel ausfallen, wie er denn auch niemals schön ist, weil er die Abhängigkeit (welche von der Zweckmäßigkeit nicht zu trennen ist) heraushebt, anstatt sie zu verbergen.
Der Moralphilosoph lehrt uns zwar, daß man nie mehr thun könne als seine Pflicht, und er hat vollkommen recht, wenn er bloß die Beziehung meynt, welche Handlungen auf das Moralgesetz haben. Aber bey Handlungen, welche sich bloß auf einen Zweck beziehen, über diesen Zweck noch hinaus ins Übersinnliche gehen (welches hier nichts anders heißen kann als das physische ästhetisch ausführen) heißt zugleich über die Pflicht hinaus gehen, indem diese nur verschreiben kann, daß der Wille heilig sey, nicht daß auch schon die Natur sich geheiligt habe. Es giebt also zwar kein moralisches, aber es giebt ein ästhetisches Übertreffen der Pflicht, und ein solches Betragen heißt edel. Eben deßwegen aber, weil bey dem Edeln immer ein Überfluß wahrgenommen wird, indem dasjenige auch einen freyen formalen Werth besitzt, was bloß einen materialen zu haben brauchte, oder mit dem innern Werth, den es haben soll, noch einen äußern, der ihm fehlen dürfte, vereinigt, so haben manche ästhetischen Überfluß mit einem moralischen verwechselt, und von der Erscheinung des Edeln verführt, eine Willkühr und Zufälligkeit in die Moralität selbst hinein getragen, wodurch sie ganz würde aufgehoben werden.
Von einem edeln Betragen ist ein erhabenes zu unterscheiden. Das erste geht über die sittliche Verbindlichkeit noch hinaus, aber nicht so das letztere, obgleich wir es ungleich höher als jenes achten. Wir achten es aber nicht deßwegen, weil es den Vernunftbegriff seines Objekts (des Moralgesetzes) sondern weil es den Erfahrungsbegriff seines Subjekts (unsre Kenntnisse menschlicher Willensgüte und Willensstärke) übertrifft; so schätzen wir umgekehrt ein edles Betragen nicht darum, weil es die Natur des Subjekts überschreitet, aus der es vielmehr völlig zwanglos hervorfliessen muß, sondern weil es über die Natur seines Objekts (den physischen Zweck) hinaus in das Geisterreich schreitet. Dort, möchte man sagen, erstaunen wir über den Sieg, den der Gegenstand über den Menschen davon trägt; hier bewundern wir den Schwung, den der Mensch dem Gegenstande giebt.

8 Ich erinnere noch einmal, daß diese beyden Perioden zwar in der Idee nothwendig von einander zu trennen sind, in der Erfahrung aber sich mehr oder weniger vermischen. Auch muß man nicht denken, als ob es eine Zeit gegeben habe, wo der Mensch nur in diesem physischen Stande sich befunden, und eine Zeit, wo er sich ganz von demselben losgemacht hätte. Sobald der Mensch einen Gegenstand sieht, so ist er schon nicht mehr in einem bloß physischen Zustand, und solang er fortfahren wird, einen Gegenstand zu sehen, wird er auch jenem physischen Stand nicht entlaufen, weil er ja nur sehen kann, insofern er empfindet. Jene drey Momente, welche ich am Anfang des 24sten Briefs nahmhaft machte, sind also zwar im Ganzen betrachtet, drey verschiedene Epochen für die Entwicklung der ganzen Menschheit, und für die ganze Entwicklung eines einzelnen Menschen, aber sie lassen sich auch bey jeder einzelnen Wahrnehmung eines Objekts unterscheiden, und sind mit einem Wort die nothwendigen Bedingungen jeder Erkenntniß, die wir durch die Sinne erhalten.

9 Man lese über diesen Gegenstand, was Herder im dreyzehnten Buche der Ideen z. Philos. D. Geschichte der Menschheit über die veranlassenden Ursachen der griechischen Geistesbildung sagt.

10 Es versteht sich wohl von selbst, daß hier nur von dem ästhetischen Schein die Rede ist, den man von der Wirklichkeit und Wahrheit unterscheidet, nicht von dem logischen, den man mit derselben verwechselt – den man folglich liebt, weil er Schein ist, und nicht, weil man ihn für etwas besseres hält. Nur der erste ist Spiel, da der letzte bloß Betrug ist. Den Schein der ersten Art für etwas gelten lassen, kann der Wahrheit niemals Eintrag thun, weil man nie Gefahr läuft, ihn derselben unterzuschieben, was doch die einzige Art ist, wie der Wahrheit geschadet werden kann; ihn verachten, heißt alle schöne Kunst überhaupt verachten, deren Wesen der Schein ist. Indessen begegnet es dem Verstande zuweilen, seinen Eifer für Realität bis zu einer solchen Unduldsamkeit zu treiben, und über die ganze Kunst des schönen Scheins, weil sie bloß Schein ist, ein wegwerfendes Urtheil zu sprechen; dieß begegnet aber dem Verstande nur alsdann, wenn er sich der obengedachten Affinität nicht erinnert. Von den nothwendigen Grenzen des schönen Scheins werde ich noch einmal insbesondere zu reden Veranlassung nehmen.

11 Auf die Frage: „In wie weit darf Schein in der moralischen Welt seyn?“ ist also die Antwort so kurz als bündig diese: in so weit es ästhetischer Schein ist d. h. Schein, der weder Realität vertreten will, noch von derselben vertreten zu werden braucht. Der ästhetische Schein kann der Wahrheit der Sitten niemals gefährlich werden, und wo man es anders findet, da wird sich ohne Schwierigkeit zeigen lassen, daß der Schein nicht ästhetisch war. Nur ein Fremdling im schönen Umgang z. B. wird Versicherungen der Höflichkeit, die eine allgemeine Form ist, als Merkmale persönlicher Zuneigung aufnehmen, und wenn er getäuscht wird, über Verstellung klagen. Aber auch nur ein Stümper im schönen Umgang wird, um höflich zu seyn, die Falschheit zu Hülfe rufen, und schmeicheln, um gefällig zu seyn. Dem ersten fehlt noch der Sinn für den selbstständigen Schein, daher kann er demselben nur durch die Wahrheit Bedeutung geben; dem zweyten fehlt es an Realität, und er möchte sie gern durch den Schein ersetzen.

12 Die mehresten Spiele, welche im gemeinen Leben im Gange sind, beruhen entweder ganz und gar auf diesem Gefühle der freyem Ideenfolge, oder entlehnen doch ihren größten Reitz von demselben. So wenig es aber auch an sich selbst für eine höhere Natur beweist, und so gerne sich gerade die schlaffesten Seelen diesem freyen Bilderstrome zu überlassen pflegen, so ist doch eben diese Unabhängigkeit der Phantasie von äußern Eindrucken wenigstens die negative Bedingung ihres schöpferischen Vermögens. Nur indem sie sich von der Wirklichkeit losreißt, erhebt sich die bildende Kraft zum Ideale, und ehe die Imagination in ihrer produktiven Qualität nach eignen Gesetzen handeln kann, muß sie sich schon bey ihrem reproduktiven Verfahren von fremden Gesetzen frey gemacht haben. Freylich ist von der bloßen Gesetzlosigkeit zu einer selbständigen innern Gesetzgebung noch ein sehr großer Schritt zu thun, und eine ganz neue Kraft, das Vermögen der Ideen, muß hier ins Spiel gemischt werden – aber diese Kraft kann sich nunmehr auch mit mehrerer Leichtigkeit entwickeln, da die Sinne ihr nicht entgegen wirken, und das Unbestimmte wenigstens negativ an das Unendliche grenzt.

13 Existiert aber auch ein solcher Staat des schönen Scheins, und wo ist er zu finden? Dem Bedürfniß nach existiert er in jeder feingestimmten Seele, der That nach möchte man ihn wohl nur, wie die reine Kirche und die reine Republik in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln finden, wo nicht die geistlose Nachahmung fremder Sitten, sondern eigne schöne Natur das Betragen lenkt, wo der Mensch durch die verwickeltste Verhältniße mit kühner Einfalt und ruhiger Unschuld geht, und weder nöthig hat, fremde Freyheit zu kränken, um die seinige zu behaupten, noch seine Würde wegzuwerfen, um Anmuth zu zeigen. – Da es einem guten Staat an einer Constitution nicht fehlen darf, so kann man sie auch von dem ästhetischen fodern. Noch kenne ich keine dergleichen, und ich darf also hoffen, daß ein erster Versuch derselben, den ich dieser Zeitschrift bestimmt habe, mit Nachsicht werde aufgenommen werden.

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