Martin Guerre stammte aus einer Familie in Biskayen, die sich etwas über den Bauernstand erhob.
Im Januar 1539, in einem Alter von elf Jahren, heiratete er Bertranden von Rols aus Artigues in dem Sprengel von Rieux, ein Mädchen von ungefähr gleichem Alter, das mit den Reizen einer seltenen Schönheit den Vorzug eines Verhaltens verband, das sie über alle Anfälle der Verleumdung erhob.
Acht oder neun Jahre lang wurde die Ehe dieses beinahe noch im Kindesalter stehenden Paares nicht vollzogen. Alle Verwandten glaubten schon, wie es damals Mode war, es sei Zauberei im Spiele. Die Familie der Frau wünschte die Ehe wieder zu trennen; allein die Frau, die ihren Mann sehr zärtlich liebte, war durchaus nicht dazu zu bewegen. Da sie diesen Plan nicht durchsetzen konnten, so wendeten sie wenigstens alle erdenklichen Mittel an, die Verzauberung zu heben. Die jungen Eheleute mußten geweihte Kuchen und Hostien essen, und man ließ vier Messen durch vier verschiedne Priester für sie lesen.
Die Natur übernahm endlich selbst die Entzauberung, als das reifere Alter eintrat. In ihrem zwanzigsten Jahre ungefähr machten die beiden Eheleute mit zwei ihrer Bekannten, einem Bruder und einer Schwester, eine Reise. Unterwegs mußten alle vier in einem Zimmer schlafen, wo nicht mehr als zwei Betten waren. Das eine davon nahmen die beiden Frauen ein, in dem andern schliefen die Männer. In der Nacht schlich sich Martin Guerre von der Seite seines Freundes zu seiner Frau, und – von dem Augenblick an ward er Vater von einem Sohne, den er bei seiner Geburt Sanxi nennen ließ.
Nicht lange nach der Geburt dieses Knaben ließ Guerre sich gelüsten, seinem Vater einiges Getreide zu stehlen, und wurde entdeckt. Er fürchtete den Zorn seines Vaters und ergriff die Flucht, um den Folgen desselben zu entgehen. Volle acht Jahre lang hörte man nicht das geringste von ihm. Sein Vater starb inzwischen, und ein Vatersbruder, namens Peter Guerre, übernahm für den Abwesenden die Verwaltung des ihm zugefallenen väterlichen Erbteils.
Nach acht Jahren erschien auf einmal ein Mann, der nicht nur den Namen, sondern auch das völlige Aussehen des Entwichenen hatte. Bertrande von Rols, die während der langen Zeit ihrer Witwenschaft sich einen unbescholtnen Ruf erhalten hatte, erkannte ihn sogleich als ihren Mann und räumte ihm ohne Bedenken Wohnung, Tisch und Bett wieder ein.
Vier Schwestern des Martin Guerre erkannten sämtlich diesen Ankömmling für ihren Bruder. Peter Guerre nahm ihn als seinen Neffen auf. Mit einem Wort, die ganze Familie empfing ihn als ihren Verwandten, und es fiel niemand unter ihnen ein, zu bezweifeln, daß er wirklich derjenige sei, für den er gehalten wurde.
Seine alten Freunde und seine ehemaligen Gespielen erkannten ihn. Er erinnerte sie an allerlei Umstände ihres Lebens; er spielte in seinen Gesprächen auf bekannte Geschichten an; kurz, er benahm sich unter ihnen mit der Unbefangenheit und Vertraulichkeit, die sich nur im Umgang der engsten Freundschaft findet.
So lebte er einige Jahre mit der größesten Sicherheit in dem Besitze seines Glücks. Zwei Kinder, von welchen das eine bald nach der Geburt wieder starb, waren die Frucht dieser Verbindung.
Diese Ruhe ward einst auf einige Zeit durch einen Soldaten von Rochefort gestört, der bei seiner Durchreise zu Artigues von ungefähr erzählte: Martin Guerre halte sich in Flandern auf und trage jetzt ein hölzernes Bein, weil er das seinige bei St. Laurent durch eine Kanonenkugel verloren habe. Bei Bertrande von Rols erregte diese Nachricht einigen Verdacht. Sie ließ sogar über die Aussage des Soldaten durch Notarien ein Protokoll aufnehmen. Allein – es sei nun Scham über die Folgen, die ihr Irrtum schon gehabt hatte, oder wirkliche Täuschung durch die Ähnlichkeit der Züge, oder irgendeine andre Ursache gewesen, wodurch sie von der weiteren Untersuchung abgehalten wurde: sie fuhr jedenfalls fort, den Mann, mit dem sie lebte, öffentlich als ihren Ehemann zu behandeln.
Drei Jahre waren unter diesen Umständen schon verflossen. Peter Guerre hatte während dieser Zeit seinem Neffen die sämtlichen bisher für ihn verwalteten Güter übergeben. Dieser verlangte aber auch Rechnung über die daraus gezogenen Einkünfte; und da der Oheim diese Abrechnung unter allerlei nichtigem Vorwand immer hinausschob, so belangte er ihn endlich deshalb bei der Obrigkeit.
Dies Verfahren, das an sich schon große Erbitterung erregte, verbunden mit der Härte, mit welcher alsdann der Kläger die Bezahlung des Rückstandes beitrieb, bestimmte den Peter Guerre zur Rache. Man beschuldigte ihn wirklich, mehrere Anfälle auf das Leben seines Neffen gemacht zu haben. Endlich aber ersah er eine Gelegenheit, welche ihm sichrer schien.
Der vermeinte Martin Guerre bekam Händel mit einem gewissen Johann von Escarboeuf. Die Sache kam zur peinlichen Untersuchung vor den Landrichter zu Toulouse, und Guerre wurde gefänglich eingezogen. Während er nun im Arrest saß, wendete Peter Guerre, vereinigt mit seinen vier Schwiegersöhnen, alles an, Bertranden von Rols zu bereden, daß dieser Mensch, den sie für ihren Mann halte, ein bloßer Betrüger sei. Sie verlangten, sie solle sich öffentlich von ihm lossagen, und drohten endlich, sie aus ihrem eignen Hause zu verjagen, wenn sie nicht einwilligen würde. Allein Bertrande wies ihre Zumutungen standhaft zurück und erklärte endlich ganz aufgebracht: sie müsse ihn besser kennen als irgendein Mensch, und sie könnte den ums Leben bringen, der das Gegenteil behaupten wolle.
Der Gefangene wurde endlich kraft eines richterlichen Spruches auf Beweis und Gegenbeweis vorläufig wieder in Freiheit gesetzt. Sobald er freigelassen war, eilte er wieder zu seiner Gattin, die ihn mit aller der Freude aufnahm, die eine tugendhafte Frau bei dem Wiedersehen ihres Mannes empfinden muß, der sich aus einer Gefahr, die seiner Ehre oder sogar seinem Leben drohte, glücklich gerettet hat. Sie überhäufte ihn mit Liebkosungen, sie reichte ihm weiße Wäsche, sie half ihm sich wieder reinigen und gestattete ihm den völligen Gebrauch aller Rechte eines Ehemannes.
Am andern Morgen ganz früh aber erschienen Peter Guerre und dessen Schwiegersöhne, alle bewaffnet, und brachten den Ehemann unter dem Vorwand, daß sie von Bertrande von Rols dazu bevollmächtigt worden seien, in das Gefängnis zu Rieux.
Peter Guerre hat nachher selbst eingestanden, daß damals noch von keiner solchen Vollmacht die Rede gewesen, sondern erst am späten Abend desselben Tages von Bertranden ein solches Schriftstück unterschrieben worden sei. Inzwischen hatte doch auch Bertrande ihrem Ehemann Kleidungsstücke, Wäsche und Geld ins Gefängnis geschickt. Ein so widerspruchsvolles Betragen läßt sich nicht anders erklären, als wenn man annimmt, daß Bertrande, obschon durch einige Umstände mißtrauisch gemacht, doch geneigter war, den Gefangnen für ihren wahren Ehemann als für einen Betrüger zu halten, und daß sie also nur durch tyrannische Drohungen des Peter Guerre eingeschüchtert, jene Vollmacht unterschrieben habe. Die Folge des Prozesses wird diese Mutmaßung bestätigen.
Der Angeklagte gründete seine Verteidigung zuerst bloß darauf, daß er bei seiner Ankunft allgemein von allen Einwohnern des Ortes, von allen denen, die vorher im vertrautesten Umgang mit ihm gelebt hatten, von seinen Verwandten, und endlich selbst von seiner Frau anerkannt worden sei. Diese allgemeine Anerkennung konnte er um so mehr als einen Verteidigungsgrund für sich anführen, weil sie ohne alle vorhergegangene Untersuchung geschehen war. Sobald er sich nur unter dem Namen Martin Guerre gezeigt hatte, waren Frau, Verwandte und Freunde seiner Umarmung entgegengeeilt; man hatte ihn auf den ersten Blick erkannt, obgleich das Milchhaar, das er noch bei seiner Entweichung am Kinn trug, sich inzwischen in einen männlichen Bart verwandelt hatte – ein Umstand, der damals um so mehr auffallen mußte, weil es Mode war, lange Bärte zu tragen.
In seinem Verhör gab er von jedem Umstand, worüber er befragt wurde, genaue Rechenschaft; er kam sogar den Fragen zuvor. Er erteilte vollkommen zutreffende Nachrichten von seiner Geburt, von seinen Eltern, von seiner Verheiratung, von dem Priester, der ihn mit Bertranden getraut habe, von den Hochzeitsgästen und sogar von dem Anzug der letztern. Er nannte die Personen, die ihm und seiner Frau aus Scherz in der Hochzeitsnacht einen Besuch in der Brautkammer gemacht hatten. Er erzählte die Geschichte, der sein Sohn Sanxi das Leben zu verdanken habe, und gab den Geburtstag dieses Kindes an. Er entdeckte den Beweggrund seiner Entweichung, sprach von Personen, die er auf dem Wege getroffen, wußte noch anzugeben, was er mit ihnen gesprochen hatte, und benannte alle Städte in Frankreich, durch die er gekommen war. Er berichtete, daß er dem König sieben bis acht Jahre gedient habe, nachher nach Spanien gegangen und dort einige Monate Soldat gewesen sei. Er benannte alle die Personen, die er in den beiden Königreichen kennen gelernt hatte; und er selbst gab alle Hinweise, sich über die Wahrheit seiner Aussagen zu unterrichten. Die Gerichte gingen den angeführten Spuren nach und fanden alle seine Angaben bestätigt.
Man verhörte auch Bertranden von Rols und einige andre Personen, auf welche sich der Beklagte in seinem Verhör berufen hatte. Über alle die Umstände, die ihr bekannt sein konnten, stimmten die Antworten der ersteren mit seinen Aussagen genau überein. Ein einziger Umstand, von dem er nichts erwähnt hatte, die Geschichte der vermeintlichen Verzauberung, wurde von ihr ausführlicher angegeben. Als man ihn aber darüber befragte, gab er auch über diesen Punkt eine ganz genau mit Bertrandens Erzählung übereinstimmende Auskunft.
Er erhob bei dem Gerichte die Vorstellung, daß seine Frau zu der Verfolgung, die man gegen ihn erregt habe, gewiß nur durch List beredet worden sei und daß er deshalb bitte, man möchte sie in ein sicheres Haus unter die Aufsicht rechtschaffener Leute bringen, wo sie nicht mehr den Einflüsterungen und Zudringlichkeiten des Peter Guerre ausgesetzt sei.
Diese Bitte wurde ihm gewährt. Zugleich erhielt er die Erlaubnis, Zeugen-Aufforderungen erlassen zu dürfen, um dadurch etwa zu entdecken, auf welche Art Bertrande von Rols zu diesem Schritt gegen ihn verleitet worden sei, und um seine Einwände gegen die Zeugen zu rechtfertigen, die man wider ihn verhören wollte. Außerdem wurde auch noch verordnet, daß zu Pin, zu Sagias und zu Artigues über alle Umstände, die auf Martin Guerre, auf den Beklagten, auf Bertrande von Rols und auf die Ehrlichkeit und guten Ruf der Zeugen Bezug haben könnten, von Gerichts wegen Untersuchung angestellt werden solle.
Die Feststellungen, welche durch diese Anstalten gemacht wurden, verbürgten alle Bertrandens Tugend; und diese Tugend selbst diente als ein neuer Beweis für die Rechtfertigung des Angeklagten. Man schloß nämlich daraus, daß Bertrande gewiß aus wahrer Überzeugung ihn für ihren Mann anerkannt habe, und nicht aus Begierde, die Stelle eines Ehemanns zu ersetzen, auf dessen Zurückkunft sie nicht mehr rechnen konnte.
Es waren hundertundfünfzig Zeugen abgehört worden. Dreißig bis vierzig von ihnen versicherten einhellig, daß der Beklagte wirklich Martin Guerre sei, daß sie von Kindheit an viel Umgang mit ihm gehabt hätten und daß sie ihn an gewissen Merkmalen und Narben seines Körpers erkennten, welche noch deutlich zu sehen seien. Ungefähr fünfzig andere von ihnen behaupteten dagegen, er sei nicht Martin Guerre, sondern Arnold Tilh, mit dem Beinamen Pansette, aus Sagias gebürtig, mit dem sie von der frühsten Jugend an Bekanntschaft und Umgang gehabt hätten. Die übrigen, ungefähr sechzig an der Zahl, gestanden: die Ähnlichkeit zwischen diesen zwei Menschen sei so auffallend, daß sie sich nicht getrauten zu bestimmen, ob der Angeklagte Martin Guerre oder Anton Tilh sei.
Endlich wurde auch noch angeordnet, den Beklagten mit Sanxi und mit den Schwestern des Martin Guerre zu vergleichen. Bei dieser Vergleichung fand man, daß Sanxi dem Beklagten nicht im mindesten ähnlich sehe, hingegen die Schwestern des Guerre ihm so vollkommen glichen als ein Ei dem andern.
In dieser Lage befand sich die Sache, als der Richter von Rieux sich unterfing, das Urteil zu fällen: »daß der Beklagte, als schuldig und überwiesen des Betrugs, enthauptet und sein Körper gevierteilt werden solle.«
Wegen dieses so wenig überdachten und so leichtsinnig gesprochenen Urteils appellierte der Angeklagte an das Parlament zu Toulouse. Dieser Gerichtshof fand die Verhandlungen der ersten Instanz noch lange nicht hinreichend, um in einer so äußerst schwierigen Sache schon zum Endurteil schreiten zu können. Er gab also vor allen Dingen Befehl, den Angeklagten vor der ganzen Parlamentsversammlung sowohl mit Peter Guerre als mit Bertrande von Rols einzeln zu konfrontieren.
Bei diesen beiden Konfrontationen zeigte sich der Angeklagte so ruhig und so unbefangen, Peter Guerre und Bertrande von Rols hingegen schienen so außer aller Fassung zu sein, daß die Richter es in dem Gesichte der Parteien lesen zu können glaubten, daß der eine unschuldig verfolgt, die beiden andern aber Verleumder seien. Der Angeklagte forderte Bertranden auf, eidlich zu erklären, ob sie ihn für ihren Mann halte. Er verlange keinen andern Richter, sagte er, als sie, und er unterwerfe sich der Todesstrafe, wenn sie imstande wäre, es zu beschwören, daß er nicht Martin Guerre sei. Sie antwortete aber bloß: sie wolle dies weder beschwören noch glauben. Lag in dieser Antwort nicht eine Art von Geständnis, daß sie sich nur nicht getraue, nachdem sie einmal den Schritt getan hatte, wieder zurückzutreten?
Allein die Richter wollten ihr Urteil nicht auf bloße Vermutungen gründen; sie verfügten also eine wiederholte Untersuchung. Es wurden noch dreißig Zeugen verhört. Der Erfolg von diesem zweiten Verhör war aber ebensowenig befriedigend als von dem ersten. Neun oder zehn von diesen Zeugen versicherten, der Angeklagte sei Martin Guerre; sieben oder acht andre erklärten, es sei Anton Tilh; und die übrigen getrauten sich nicht, etwas zu entscheiden. Weit entfernt also, daß diese neueren Verhandlungen den Richtern mehr Licht in der Sache gegeben hätten, vermehrten sie nur ihre Verlegenheit. Wenn man alle Zeugenaussagen und alle in den Akten angegebenen Umstände zusammennahm, so fand man auf der einen Seite hinreichende Gründe, den Angeklagten für einen Betrüger zu halten; aber man fand auf der andern Seite nicht weniger starke Gründe, ihn wirklich für Martin Guerre zu halten. Wir wollen diese gegenseitigen Gründe etwas ausführlicher erwägen, um uns zu überzeugen, wie schwer es die Richter finden mußten, etwas in der Sache zu entscheiden.
Die Zeugen, deren Aussagen wider den Angeklagten waren, behaupteten, sowohl den Martin Guerre als den Anton Tilh vollkommen zu kennen und von Jugend auf häufigen und genauen Umgang mit ihnen gehabt zu haben. Unter diesen Zeugen befanden sich einige von großem Gewicht. Der vornehmste war ein Mutterbruder von Anton Tilh, namens Carbon Barreau, welcher den Angeklagten bei der Konfrontation auf den ersten Anblick für seinen Neffen erkannte und bis zu Tränen gerührt war, als er einen Menschen, der ihn so nahe anging, in Ketten sah. Hätten hier nicht natürliche Gefühle jede Überlegung verdrängt und die Wahrheit unwillkürlich verraten, würde wohl der Oheim ein Geständnis gemacht haben, das seinen Neffen unvermeidlich an den Galgen bringen mußte? Unter den übrigen Zeugen dieser Klasse fanden sich einige, die teils selbst mit Arnold Tilh Verträge abgeschlossen, teils verschiedene von ihm ausgestellte Handschriften, die in ihrer Gegenwart angefertigt worden waren, als Zeugen unterschrieben hatten. Sie zeigten diese Dokumente bei der Gerichtsstelle vor.
Überhaupt bemerkten alle, die Martin Guerre und Arnold Tilh gekannt hatten, wesentliche Verschiedenheiten zwischen beiden, sowohl in Hinsicht der Größe als des Körperbaues. Martin Guerre, sagten sie, sei größer und schwärzer, er habe einen hageren Körper und dünne Beine, er gehe ein wenig gebückt und ziehe den Kopf zwischen die Schultern ein; er habe ein gespaltenes unten etwas vorstehendes Kinn, eine hängende Unterlippe, eine breite stumpfe Nase, sehr kleine Zähne und im Gesicht das Mal von einem Geschwür und eine Narbe über der rechten Augenbraune. Arnold Tilh hingegen war nach ihrer Beschreibung klein, untersetzt und hatte dicke Beine; er hatte keine Stumpfnase und ging nicht gebückt; aber in seinem Gesicht fanden sich die nämlichen Narben. Dies letztere Bild paßte genau auf den Angeklagten, den die Richter selbst vor Augen hatten.
Der Schuster, der dem Martin Guerre ehedem seine Schuhe verfertigt hatte, sagte: dieser habe immer Schuhe von zwölf Stichen getragen, der Gefangene aber trage nur neun Stiche lange Schuhe. Ein andrer Zeuge gab an: Martin Guerre sei ein guter Fechter und Ringer gewesen. Der Angeklagte verstand von beiden Künsten nichts. Johann Espagnol, ein Gastwirt zu Touges, bezeugte: der Angeklagte habe ihm im Vertrauen entdeckt, Martin Guerre sei gestorben und habe ihn zum Erben seines ganzen Vermögens eingesetzt. Ein anderer erzählte: als er einst von ungefähr mit dem Angeklagten zusammengetroffen und eben im Begriff gewesen sei, ihn bei seinem Namen Tilh anzureden, habe er ihm ein Zeichen mit dem Finger gemacht, daß er schweigen solle. Ein dritter behauptete, daß er ihm das nämliche Zeichen auch gemacht, und ihm noch überdies, um sich seines Schweigens zu versichern, zwei Schnupftücher gegeben habe, mit dem Auftrag, das eine davon Tilhs Bruder zu überliefern. Mehrere Zeugen endlich berichteten: Arnold Tilh habe von Jugend an die schändlichsten Laster an sich gehabt; er sei ein Spieler und Gottesleugner gewesen, habe beständig geflucht und gestohlen; woraus man den Schluß ziehen könne, daß er wohl fähig sei, die Rolle eines solchen Betrügers zu übernehmen, und daß er Unverschämtheit genug besitze, sie durchzuführen.
Er konnte dagegen nicht einwenden, daß alle diese Zeugen, die wider ihn waren, keine Beachtung verdienten, weil ihre Aussage verneinend sei, indem sie behaupteten, er sei nicht Martin Guerre. Es ist wahr, im allgemeinen genommen erteilt man zwei bejahenden Zeugen mehr Glauben als hundert verneinenden. Allein diese Regel gilt in dem Falle nicht, wenn die verneinende Aussage zugleich auf der andern Seite etwas bejaht. Dies ist aber hier der Fall. Diese Zeugen sagen nicht bloß, der Angeklagte sei nicht Martin Guerre, sondern sie behaupten zugleich, daß er Arnold Tilh sei.
Was die Male und Narben in dem Gesichte des Angeklagten betrifft, welche man ebenso bei Martin Guerre bemerkt haben wollte, so war nicht eine einzige, deren Ähnlichkeit und gleiche Lage von mehreren Zeugen übereinstimmend beschrieben worden wäre; eine jede hatte einen besondern Zeugen.
Die Ähnlichkeit in den Gesichtszügen beider findet tausend ähnliche und noch auffallendere Beispiele in der Geschichte. Wir führen nur ein einziges an, das Plinius und Valerius Maximus erzählen. Sura nämlich fand in Sizilien, als er dort Prokonsul war, einen armen Fischer, der ihm vollkommen ähnlich war. Beide hatten genau dieselben Gesichtszüge, einerlei Größe und Dicke, die nämliche Bewegung, Stellung und Gang. Im Sprechen und Lachen öffneten beide den Mund auf die nämliche sonderbare Art; selbst der Ton ihrer Stimme war gleich, und beide stammelten. Sura staunte um so mehr über diese auffallende Ähnlichkeit, da er wußte, daß sein Vater nie nach Sizilien gekommen war; allein der Fischer versicherte ihm, der seinige sei oft in Rom gewesen. Es ließen sich leicht noch eine Menge alter und neuer Beispiele von einer so auffallenden Ähnlichkeit zwischen zwei Menschen anführen.
Daß der Angeklagte umständliche Erzählungen von Tatsachen machte, die nach aller Wahrscheinlichkeit niemand als Martin Guerre wissen konnte; daß er sich durch keinen Umstand, so neu und unerwartet er ihm auch sein mußte, aus der Fassung bringen ließ; mit einem Wort, daß er sich in keinem Punkte verriet: dies alles läßt sich auch erklären, wenn man die Sache als eine fein angesponnene Betrügerei betrachtet, deren Urheber klug und listig genug war, sich gehörig zu unterrichten und sich in alle die Geheimnisse einzuschleichen, die zu seinem Zwecke dienten, und der zugleich Unverschämtheit genug besaß, seine mitunter vorgefallenen Fehlgriffe zu wenden, ohne verlegen zu werden. Man braucht also mit dieser Erklärung seine Zuflucht nicht zur Zauberei zu nehmen, welche die Ankläger unter ihren Gründen anführten, die nach dem Geist des damaligen Zeitalters selbst bei den Richtern Eingang fanden. Sogar Herr Coras, der Referent dieses Prozesses, aus dessen Schriften der Stoff dieser Erzählung genommen ist, findet es nicht ganz unwahrscheinlich, daß der Angeklagte auf diesem Wege zu den Notizen gelangt sein könnte, die so sehr zu seinem Vorteil sprachen.
Der Irrtum, in welchem Bertrande von Rols drei Jahre lang gelebt hat, kann ebensowenig etwas beweisen, als der anscheinende Widerwillen gegen das Anbringen und Fortführen dieser Anklage, den man bei ihr bemerkt haben will, und als ihr Betragen und ihre Reden überhaupt, worin man eine Art von Widerruf der Anklage zu entdecken glaubt. Ihr Betragen ist das Betragen einer furchtsamen Person, die unfähig ist, einen festen Entschluß zu fassen, unfähig, das Unglück irgendeines Menschen, am allerwenigsten das Unglück desjenigen zu beschließen, mit dem sie in der innigsten Vertraulichkeit gelebt hatte. Überdies, erlaubte ihr denn ihre Ehre zurückzutreten und sich öffentlich als die Beischläferin eines Menschen anzugeben, den sie als ihren Ehemann behandelt hatte?
Dazu kommt endlich noch der Umstand, daß Martin Guerre aus Biskayen gebürtig war, der Angeklagte aber die dortige Landessprache gar nicht verstand, einige Worte ausgenommen, die er absichtlich von Zeit zu Zeit vorbrachte.
Dies waren die Gründe, aus welchen sich schließen ließe, daß der Gefangene ein Betrüger sei. Ihnen standen andre Gründe gegenüber, die jenen an Stärke und Wahrscheinlichkeit gleichkamen.
Dreißig oder vierzig Zeugen bejahten einstimmig, daß der Angeklagte Martin Guerre sei; und ihre Aussage hatte um so mehr Gewicht, da sie von Kindheit auf mit ihm umgegangen waren. Unter diesen befanden sich acht, deren Zeugnis wichtig genug war, um eine Aussage von tausend Zeugen, die das Gegenteil behaupteten, zu entkräften.
Fürs erste: die vier Schwestern des Martin Guerre hatten den Angeklagten von dem Augenblick seiner Ankunft an für ihren Bruder erkannt und bestanden darauf, daß er es wirklich sei. Kann man wohl annehmen, daß sich alle vier in den Gesichtszügen eines Bruders, mit dem sie erzogen worden waren, geirrt haben? Und selbst wenn auch die Ähnlichkeit sie anfangs irregeführt hätte, würden sie nicht wenigstens jetzt von diesem Irrtum zurückgekommen sein, nachdem sie durch den Prozeß genötigt worden sind, jene Ähnlichkeit aufmerksamer zu untersuchen? Eine eigennützige Absicht kann sie auch nicht verleitet haben, hier einen Betrug spielen zu wollen; ihr Interesse war vielmehr fürs Gegenteil. Wenn ihr Bruder zurückkam und die Zahl seiner Kinder vermehrte, so verminderte sich in ebendem Maße ihre Hoffnung, einst noch seine Erben zu werden. Überdies waren sie allgemein als Personen einer redlichen Denkungsart bekannt.
Zwei dieser Schwestern waren verheiratet. Die Ehemänner derselben hatten ebenfalls den Angeklagten für ihren Schwager erkannt und beharrten noch immer auf dieser Meinung. Dieses Zeugnis hatte im Grunde noch mehr Gewicht als die Aussage der Schwestern, bei welchen die Stimme des, hier freilich vielleicht getäuschten, schwesterlichen Herzens den Gedanken an den Vorteil einer Erbschaft unterdrückt haben konnte, während bei den Männern, bei welchen sich dieses Interesse des Herzens nicht fand, die Stimme der Wahrheit sich um so leichter erheben konnte.
Ferner gehörte unter diese für den Angeklagten sprechenden Zeugen selbst auch Peter Guerre, der ihn nicht nur im Anfang anerkannt, sondern auch lange Zeit als Neffen behandelt hatte. Aus den verschiedenen in den Akten erwiesenen Anschlägen, die er nachher auf dessen Leben gemacht hat, sieht man deutlich genug, daß auch diese Anklage, die er angeblich im Namen der Bertrande von Rols betreibt, nichts weiter ist, als einer von den vielen Plänen, die seine gereizte Rachsucht zum Untergang seines Neffen entworfen hat.
Das Zeugnis und das Betragen der Bertrande von Rols vollendet endlich diese Beweise. Wenigstens zehn Jahre hatte sie mit ihrem Ehemann gelebt, ehe er sie verließ; gleichwohl, sobald der Angeklagte unter dem Namen dieses Ehemannes bei ihr erschien, war sie keinen Augenblick zweifelhaft, ihn dafür zu erkennen. Ihre Tugend ist allgemein bekannt und gerichtlich erwiesen; gleichwohl hat sie ihm alle Rechte des Ehemanns zugestanden. In drei vollen Jahren, die sie seit seiner Zurückkunft mit ihm verlebte, hat sie beständig an ihm ebendenselben Charakter, ebendieselbe Gemütsstimmung bemerkt, die Martin Guerre hatte; mit einem Wort, sie fand so viele innere und äußere Ähnlichkeit, daß sie, um ihn nicht für ihren Ehemann zu halten, sich schlechterdings hätte bereden müssen, es gebe in der Natur zwei vollkommen gleiche Körper von einer Seele und von einem Geiste belebt. Und war nicht ihr Betragen gegen den Angeklagten sowohl unmittelbar, nachdem er in Haft genommen war, als nachher bei der Konfrontation der deutlichste Beweis, daß sie nur, entweder gezwungen durch Drohungen oder überlistet durch Zureden, ihre Einwilligung zu der Anklage eines Menschen gegeben habe, den sie im Herzen noch immer für ihren Mann hielt?
Mit allen diesen Beweisen, die zur rechtlichen Gewißheit schon hinreichend waren, verbinde man noch die Aussagen der übrigen Zeugen. Die einen erkannten ihn für den, dessen Hochzeit sie mitgefeiert hatten, andre für ihren ehemaligen Gespielen. Er erneuerte das Andenken an sich bei einigen, die sich seiner nicht mehr recht erinnern konnten, dadurch, daß er ihnen besondre Begebenheiten ins Gedächtnis zurückrief, die nur ihnen und Martin Guerre bekannt sein konnten; er begrüßte gleich in den ersten Tagen seiner Ankunft alle Menschen mit ihrem Namen; er empfing diejenigen, die mit Martin Guerre näher verbunden gewesen waren, zuvorkommender und freundlicher als andre.
Um ihn für einen Betrüger zu halten, müßte man also notwendig voraussetzen, daß derjenige, dessen Rolle er spielte, vollkommen mit ihm einverstanden gewesen sei und ihn selbst dazu unterrichtet habe. Diese Voraussetzung ist aber nicht nur ungereimt, sondern sie erklärt nicht einmal die Sache. Wie hätte ein Betrüger es zu der Fertigkeit bringen können, den aufmerksam spähenden Blicken so vieler Menschen, die in jeder Minute des Tages auf ihn gerichtet waren, nie, auch in den allerunvermutetsten Fällen, eine Blöße zu geben, nie den kleinsten Gedächtnisfehler zu begehen? Wie konnte er seinem Gedächtnis so unzählige Umstände aller Art einprägen? Wie hätte Martin Guerre ihm alles so erklären, alles mit so vieler Genauigkeit entwickeln können, daß er imstande war, auch bei dem geringsten Umstand der Wahrheit treu zu bleiben? Wir wollen aber auch sogar dies als möglich annehmen, konnte denn Guerre ebenso auch seinen Geschmack, seine Neigungen und Manieren auf ihn übertragen? Alles dies hätte aber geschehen müssen, wenn es ihm gelingen sollte, nicht nur Verwandte, Nachbarn und Freunde dessen, für den er sich ausgab, sondern selbst die Frau, unter deren Augen er sein ganzes Leben zubringen mußte, so zu betrügen, daß diese, die in die immerwährende Notwendigkeit versetzt war, seinen Geschmack und seine Launen zu studieren, dennoch auch nicht die kleinste Schattierung bemerkte, durch die er von Martin Guerre verschieden gewesen wäre. Sollten wohl diese bestimmten und deutlichen Zeugnisse, diese so sprechenden Tatsachen – mit eingerechnet, daß die Aussagen des Carbon Barreau und andrer Zeugen, die Aufsehen erregt hatten, von dem Angeklagten bündig widerlegt waren – nicht den Zeugnissen und Tatsachen, die man wider ihn aufgestellt hatte, das Gleichgewicht halten?
Man mußte ferner zugestehen, daß sich an dem Körper des Angeklagten alle die Zeichen fanden, die man dem Martin Guerre zugeschrieben hatte. Der einzige Unterschied, den man bemerkte, bestand nur in der Stärke und Länge des Wuchses. Allein es war doch nichts Außerordentliches, daß Martin Guerre, der zur Zeit seines Entweichens noch sehr jung war, während einer Abwesenheit von acht Jahren körperlich mehr ausgebildet und stärker geworden war; und nun schien er natürlich kleiner zu sein als ehemals, da er noch schlank und hager war.
Wenn Sanxi dem Gefangenen nicht ähnlich sah, so darf man sich eben nicht wundern, daß ein Kind, dessen Züge noch nicht entwickelt sind, einem vollkommen erwachsenen Mann nicht ähnlich sieht. Überdies, was würde daraus werden, wenn die Ähnlichkeit ein notwendiger Beweis wäre, um einen Mann für den Vater seines Kindes zu halten? Um so auffallender und merkwürdiger war die Ähnlichkeit zwischen Guerres Schwestern und dem Gefangenen; zwischen Personen also, die alle beinahe von einem Alter waren und schon ganz entwickelte und feste Gesichtszüge hatten. Zudem gereichte es dem Gefangenen noch zum Vorteil, daß er dem Sanxi nicht glich, denn das wäre ja doch nur eine einzige Person aus der Familie gewesen, während es jetzt hingegen vier waren, denen er ähnlich sah.
Übrigens war die Gleichheit der Gesichtszüge zwischen Martin Guerre und dem Angeklagten durch den ansehnlichsten Teil der Zeugnisse erwiesen. Martin Guerre hatte in dem obern Kinnbacken zwei Doppelzähne, an der Stirn eine Narbe, einen eingedrückten Nagel am ersten Finger der rechten Hand, drei Warzen an ebendieser Hand und noch eine am kleinen Finger und einen Tropfen geronnenen Blutes am linken Auge. Alle diese besondern Merkmale fanden sich auch bei dem Gefangnen vor.
Daß der Angeklagte seine Muttersprache, die biskayische, nicht sprechen konnte, war nicht zu verwundern. Es ist aus den Akten erwiesen, daß Martin Guerre schon im zweiten Jahre seines Alters aus seinem Vaterland weggebracht worden war; und kein einziger Zeuge konnte behaupten, daß er vor seiner Flucht jemals Biskayisch gesprochen habe.
Daß dem Arnold Tilh ein ausschweifender liederlicher Charakter zugeschrieben wird, trifft den Angeklagten nicht, welcher nachgewiesen hat, daß er Martin Guerre sei, und welcher während der drei Jahre seiner Verbindung mit Bertrande von Rols keinen Beweis von Ausschweifung oder Liederlichkeit sich hat zuschulden kommen lassen.
Daß Peter Guerre mit den Seinigen den Anschlag gemacht hatte, den Angeklagten aus dem Wege zu räumen: dies ist in den Akten nach allen Erfordernissen des Rechts erwiesen. Mehrere Zeugen sagten sogar aus, es gehe zu Artigues das Gerücht, daß Bertrande von Rols wider ihren Willen zu diesem Prozeß gezwungen werde und daß man sie, nachdem die Sache schon anhängig gemacht worden war, zu Peter Guerre habe sagen hören, der Angeklagte sei doch sein Neffe.
Endlich, da die Beweise und Gründe auf beiden Seiten gleich wichtig waren und jede Entscheidung Zweifel zurücklassen mußte: hätte nicht die Rücksicht auf die Ehe und auf den Stand des Kindes, das Bertrande mit dem Angeklagten gezeugt hatte, zugunsten des letztern entscheiden sollen, zumal da Menschlichkeit und Gesetze verlangen, daß man in zweifelhaften Fällen lieber einen Schuldigen ungestraft lassen als einen Unschuldigen strafen solle?
Durch solche Betrachtungen in unauflösliche Schwierigkeiten verwickelt, waren die Richter in großer Verlegenheit, als auf einmal ein neuer Martin Guerre mit einem hölzernen Bein erschien, wie der Soldat, dessen oben erwähnt worden ist, ihn beschrieben hatte.
Dieser neue Ankömmling übergab sogleich eine Bittschrift, worin er seinen Namen und Stand als Martin Guerre zurückforderte und verhört zu werden verlangte. Man ließ ihn in Arrest bringen und stellte ein Verhör mit ihm an. Er wurde über alle die Punkte befragt, über welche sein Nebenbuhler vernommen worden war. Er führte in betreff seines Standes Umstände an, die in jedem andern Fall mehr als hinreichend gewesen sein würden, ihn vollkommen zu legitimieren. Allein mit den Auskünften verglichen, welche der andere gegeben hatte, fand man diese ebenso treffend, ausführlich und vollständig. Man konfrontierte die beiden. Der erstere behauptete, der Neuangekommene sei ein von Peter Guerre erkaufter Betrüger. Er erklärte mit einem Ton der Zuversicht, den man nur der Wahrheit eigen glaubt, daß er sich der Todesstrafe unterwerfen wolle, wenn er nicht diese gegen ihn angezettelte Kabale aufdecken würde. Er befragte sodann seinen Nebenbuhler über mehrere Umstände, die niemand als Bertrandens Ehemann wissen konnte. Der Neuangekommene beantwortete diese Fragen richtig; aber er zeigte dabei nicht die ruhige Fassung, die den andern nie verlassen hatte. Man befragte beide einzeln über zehn oder elf besondere Punkte, von welchen man bisher weder mit dem einen noch mit dem andern gesprochen hatte. Der eine antwortete so richtig als der andere.
Nun war nur noch ein einziges Mittel übrig, die Wahrheit zu entdecken, nämlich die Konfrontation der beiden Gefangenen mit ihren Familien. Man wollte den Versuch zuerst mit Arnold Tilhs Brüdern machen. Man wollte ihnen beide Männer vorstellen, und sie sollten sagen, welchen von beiden sie für ihren Bruder hielten. Allein weder Befehl noch Drohung konnte diese bewegen, vor Gericht zu erscheinen. Man ließ es dabei bewenden, weil man glaubte, daß es der Menschlichkeit zuwider sei, sie zu zwingen, ein Zeugnis wider ihren Bruder abzulegen, das ihn um den Kopf bringen konnte.
Man schritt also zur Konfrontation der Gefangenen mit der Guerrischen Familie. Die älteste von Guerres Schwestern wurde zuerst vorgeladen. Sie stand einige Zeit, den Blick unverwandt auf den Neuangekommenen geheftet, stürzte aber plötzlich in seine Arme und bat mit Tränen um Verzeihung wegen des Irrtums, worin der Betrüger sie und ganz Artigues so lange erhalten habe. Auch Martin Guerre war zu Tränen gerührt; er umarmte seine Schwester und versicherte, daß er einen Irrtum, dem es so schwer gewesen wäre, zu entgehen, sehr verzeihlich finde.
Die übrigen drei Schwestern erkannten ebenfalls den Neuangekommenen als ihren Bruder. Ebendies geschah auch bei den andern Zeugen, die zuvor am hartnäckigsten darauf bestanden hatten, daß Anton Tilh der wahre Martin Guerre sei.
Endlich kam die Reihe auch an Bertrande von Rols. Kaum hatte diese einen Blick auf den Neuangekommenen getan, als ihr die Tränen aus den Augen stürzten und sie sich zu seinen Füßen warf. Um sich wegen ihres Irrtums bei ihm zu verteidigen, stellte sie ihm vor, daß sie nur durch seine Schwestern dazu verleitet worden sei. Die Zuversichtlichkeit, sagte sie, womit diese darauf beharrt hätten, den Betrüger für ihren Bruder zu halten, verbunden mit ihrer eignen Sehnsucht, ihren geliebten Gatten wiederzufinden, habe sie verblendet und in diesen Abgrund von Schande gestürzt; betrogen durch die listige Verstellung des Bösewichts, durch die Reden desselben, durch seine Kenntnis von Umständen, die nur ihrem Ehemann hätten bekannt sein können, und getäuscht durch eine so äußerst auffallende Ähnlichkeit auch im Äußern, habe sie eine Zeitlang in dem Irrtum beharrt; sobald ihr aber die Augen aufgegangen seien, habe sie alles angewendet, sich zu rächen; sie habe es beim Unterrichter schon dahin gebracht, daß er den Betrüger zur Enthauptung verurteilt habe, und sie habe sich auch durch die Appellation gegen dieses Urteil nicht abhalten lassen, ihre Sache mit Eifer fortzusetzen.
Der Ton, in welchem sie sprach, ihre Schönheit, ihre Tränen, der Ausdruck der innigen Betrübnis in ihrem Gesichte und in ihren Bewegungen rührte selbst die Richter. Nur Martin Guerre, der bei den Zeichen der Zärtlichkeit und Reue, die seine Schwestern ihm gegeben hatten, so sehr gerührt gewesen war, blieb unempfindlich bei den Tränen seiner Frau. Er hörte sie an, ohne sie zu unterbrechen, aber mit einem finstern Blick und mit dem Ausdruck der Verachtung. »Ich kann dir«, sagte er endlich, »weder glauben noch verzeihen. Das Beispiel meines Oheims und meiner Schwestern ist keine Entschuldigung für dich. Es gibt so viele untrügliche Merkmale, an denen eine Frau ihren Ehemann erkennen kann, daß es unmöglich ist, einen Fremden dafür anzunehmen, wenn sie nicht selbst an dem Irrtum Vergnügen findet. Du allein bist also an dem Unglück schuld, das unser Haus erlitten hat.« Die Frau stand ganz betroffen. Die Richter selbst bemühten sich, ihren Mann von ihrer Unschuld zu überzeugen. Er blieb unbeweglich.
Pasquier, der diesen Prozeß in seinen rechtlichen Untersuchungen auch erzählt, ist sehr verwundert über dieses harte Betragen Martin Guerres gegen seine Frau. Seiner Meinung nach hatte dieser eine ebenso scharfe Strafe verdient als Arnold Tilh, weil er durch seine lange Abwesenheit zu dem Irrtume seiner Frau Gelegenheit gegeben habe. Allein, wo muß wohl Herr Pasquier den Grundsatz gefunden haben, daß es einem Mann nicht erlaubt sei, einige Zeit abwesend zu sein, und daß seine Frau berechtigt sei, ihn für seine Abwesenheit zu strafen und seine Stelle einem Fremden einzuräumen, der ihm etwas ähnlich sieht? So unbescholten auch die Tugend der Bertrande von Rols war, so ist es doch schwer zu glauben, daß sie nicht an dem Irrtum Gefallen gefunden habe. Daß der erste Anblick des Betrügers sie so gut als andre getäuscht habe, wird man ganz begreiflich finden. Allein bei der auffallendsten Ähnlichkeit zweier Menschen gibt es doch gewiß bei jedem gewisse Eigentümlichkeiten, die wohl den Augen der Menge entgehen, aber der Ehefrau nicht unbekannt bleiben können. Es ist nicht wahrscheinlich, daß Bertrande bei einem dreijährigen Umgange mit dem Betrüger nicht eine solche Verschiedenheit an ihm bemerkt haben sollte, selbst auch dann nicht, nachdem sie schon jene Aussage des Soldaten durch einen Notarius hatte aufnehmen lassen und nachdem sie durch Peter Guerre und dessen Söhne aufgefordert worden war, mit ihnen gemeinschaftlich den Betrug zu untersuchen. Gegen eine Person, mit der man so eng verbunden ist, gebraucht man keine solche Vorsicht, und man willigt noch weniger ein, einer gerichtlichen Verfolgung wider sie beizutreten, wenn man nicht schon einen heimlichen Verdacht hegt. Es läßt sich zu ihrer Entschuldigung nichts weiter sagen, als daß es ihr, nachdem sie den Betrug eingesehen hatte, ratsamer geschienen habe, in dem Irrtume zu beharren, als ihre eigne Schande ruchbar zu machen.
Wie dem auch sei, der Betrüger war nunmehr entlarvt, und die Wahrheit stand in ihrem vollen Licht. Ehe aber die Richter zum Endurteil schreiten konnten, fanden sie für nötig, noch die Frage zu untersuchen, ob nicht auch Martin Guerre und seine Frau eine Strafe verdient hätten.
Das Verbrechen des Mannes bestand nicht sowohl darin, daß er sich von seinem Heim entfernt, sondern darin, daß er in der Schlacht bei St. Laurent, in der ihm das Bein abgeschossen worden war, die Waffen wider sein Vaterland geführt hatte. Bezüglich des ersten Umstandes kam in Erwägung, daß seine Abwesenheit, wenn sie als Ursache des Ehebruchs angesehen werden konnte, den seine Frau begangen hatte, doch nur eine sehr entfernte Ursache gewesen sei. Man kann einem Ehemann die Ausschweifungen seiner Frau nicht zur Last legen, wenigstens in dem Fall nicht, wenn sie nicht vor seinen Augen begangen werden und wenn er nicht durch sein Betragen selbst den Verdacht erregt, daß er stillschweigend seine Einwilligung dazu gebe. Wenn er sich aber entfernt und seine Frau diese Abwesenheit benutzt, sich den Ausschweifungen zu überlassen, so kann man ihn darüber nicht zur Strafe ziehen. In betreff des zweiten Verbrechens urteilten die Richter, daß er eigentlich nicht den Vorsatz gehabt habe, wider sein Vaterland zu streiten. Er hatte zuerst bei dem Kardinal von Burgos und dann bei dessen Bruder in Spanien Dienste genommen und war mit dem Gefolge des letztern nach Flandern geschickt worden. Dort war er gezwungen worden, seinem Herrn in die Schlacht zu folgen und wider seinen Willen zu fechten. Überdies, setzten sie hinzu, sei er durch den Verlust seines Beines und eines Teils seiner Güter, die Tilh durchgebracht hatte, und durch die unglückliche für ihn so erniedrigende Zerrüttung, in welcher er seine Familie angetroffen habe, für dieses Verbrechen mehr als zuviel bestraft.
In bezug auf die Frau waren ohnehin bloße Vermutungen vorhanden. Wie sollte man ihr gerichtlich beweisen, daß sie den Irrtum wirklich so bald entdeckt habe, als man annehmen zu dürfen glaubte? Wie wollte man gerichtlich nachweisen, daß die Ähnlichkeit des Betrügers, die jedermann getäuscht hatte, sich wirklich nicht über alle einzelnen Teile erstreckt habe? Für sie galt also die billige Regel: daß man in zweifelhaften Fällen stets für die Unschuld vermuten solle; und das Parlament zu Toulouse sprach sie von aller Strafe frei.
Nun erfolgte endlich das Urteil. In einem Arret vom 12. September 1560 wurde zuvörderst die Sentenz des Richters zu Rieux für null und nichtig erklärt, weil dieser ihm die Enthauptung zuerkannt hatte, eine Bestrafung, welche ein Vorrecht des Adels war, das man nicht an einen so niedrigen Verbrecher verschwenden konnte. Demnach wurde »Anton Tilh, als überwiesen, Namen, Stand und Person Martin Guerres sich angemaßt, dessen Frau zum Ehebruch verleitet, dessen Güter verschwendet, das Sakrament der Ehe entweiht und die Frau eines andern an sich behalten zu haben, dahin verurteilt, daß er vor der Kirche zu Artigues auf den Knien, im Hemd, mit bloßen Kopf und Füßen, einen Strick um den Hals und eine brennende Wachskerze in der Hand, Gott, den König, die Obrigkeit, Martin Guerre und Bertranden von Rols um Verzeihung bitten, von da durch die Straßen und Gassen der Stadt Artigues geführt und endlich vor dem Hause des Martin Guerre aufgehängt, sein Körper aber hernach verbrannt werden solle.« Nach französischen Gebräuchen und Gesetzen fallen die Güter eines zum Tode verurteilten Missetäters dem Könige zu oder dem Obergerichtsherrn, zu dessen Gebiet sie gehören. In dem gegenwärtigen Falle aber hielt sich das Parlament zu Toulouse für berechtigt, zugunsten des Kindes, das der Verurteilte mit Bertranden von Rols gezeugt hatte, von dieser Regel eine Ausnahme zu machen. Das Vermögen des Tilh wurde seiner Tochter zugesprochen.
Die Vollstreckung des Urteils ward dem Richter zu Rieux aufgetragen. Martin Guerre und seine Frau wurden wieder auf freien Fuß gesetzt.
Vor der Vollstreckung des Urteils hielt der Richter am 16. September 1560 mit dem Verurteilten noch einmal ein Verhör, in welchem dieser näheren Aufschluß über den Gang seiner Betrügerei mitteilte. Als Soldat, erzählte er, habe er zuerst Martin Guerre kennen gelernt und nähere Bekanntschaft mit ihm geschlossen. In ihren Unterhaltungen habe ihm Guerre manchmal sehr vieles von seinem Herkommen, von seinem Vermögen, von seinen Verwandten und von seiner Frau erzählt und auf diese Art ihn nach und nach eingeweiht; und in der Trunkenheit habe er ihn sogar einst mit Geheimnissen bekanntgemacht, welche sonst nur Hymens Eingeweihten offenbar würden. Er habe nachher das Soldatenleben aufgegeben. Bei seiner Zurückkunft sei es ihm begegnet, daß mehrere von Martin Guerres vertrautesten Freunden ihn für diesen gehalten hätten. Dieser Irrtum habe in ihm den ersten Gedanken zu seinem Unternehmen erregt; er habe von diesen Leuten noch mehrere besondre Umstände zu erfahren gesucht, von denen ihm Guerre entweder nichts erzählt habe oder die ihm wieder entfallen gewesen seien, weil er damals an der Erzählung zu wenig Interesse genommen habe. Endlich sei er dreist genug gewesen, seine Rolle anzufangen, und nun habe er die geheimsten Nachrichten von Bertranden selbst erfahren, die in der Meinung, ihn an gewisse Umstände, die er längst wisse, nur wieder zu erinnern, ihm eine Menge von Geheimnissen entdeckt habe, und er habe sich dabei so zu benehmen gewußt, daß sie wirklich geglaubt habe, er besinne sich noch auf alles ganz genau. Er beendete sein Verhör mit dem Bekenntnis noch verschiedener andrer Verbrechen.
Dem Urteil zufolge wurde er an dem Galgen, der vor der Haustür Martin Guerres errichtet worden war, aufgehängt, sein Körper aber darauf wieder abgenommen und verbrannt.