Charakterisierung der Luise Miller, Zeichnung von Arthur von Ramberg

Luise Miller, Charakter aus dem Schiller-Drama Kabale und Liebe, Zeichnung von Arthur von Ramberg, 1859

Luise Miller, Charakter aus dem Schiller-Drama „Kabale und Liebe“, Zeichnung von Arthur von Ramberg, 1859

Charakterisierung der Luise Miller

aus der „Schiller-Galerie“, 1859



Man kann „Kabale und Liebe“, diese Jugendarbeit Schillers, nicht vollständig verstehen, wenn man sich nicht zugleich den Boden, auf dem sie gewachsen, vergegenwärtigt, das Württemberg unter der Regierung des Herzogs Karl, wo Schiller die ersten herben Eindrücke empfing, die er nachher in „Kabale und Liebe“ künstlerisch zu gestalten suchte. Er malt uns die demoralisierende Mätressenwirtschaft aus der Jugendzeit dieses despotischen aber begabten und späterhin so vielfach verdienten Fürsten mit der schonungslosen Härte, mit der ein reines schwärmerisches Gemüt die Züge aus jener Epoche, die ihm noch allenthalben im Lande begegnen mussten, zu beurteilen sich gedrungen fühlte, ja oft mit einer Brutalität, die nur aus dem ungezügelten Naturalismus seiner Dichtungsperiode zu erklären, und wohl auch guten teils auf Shakespearedsche Reminiszenzen zurückzuführen sein möchte.

Bezeichnend für die damalige Zeit ist besonders die ungeheurere Kluft, die in dem Stück den Stand Ferdinands von dem der Tochter des Musikers trennt, und deren Bewusstsein so unaufhörlich aus allen Personen spricht, dass es uns fast übertrieben erscheint, während es damals sicherlich vollständig richtig war.

Luise ist nach dem Ausdruck der Lady, der die Eifersucht jedenfalls den Blick geschärft hat, „sehr interessant und doch keine Schönheit“; so hat sie der Künstler auch aufgefasst in dem Augenblick, da Ferdinand ihr sagt:

Die Limonade ist matt wie deine Seele!

Wenn wir die Sprache Luises für ein sechzehnjähriges Mädchen viel zu gewählt und sentenziös finden, so müssen wir dabei doch immer in Anschlag bringen, dass Ferdinand ihren Geist zu bilden gesucht, ihr Bücher aller Art gebracht hat, die jedenfalls den überschwänglichen Charakter der Literatur der damaligen Zeit trugen, ferner, dass eine alles erfüllende und beherrschende Leidenschaft aus jedem Menschen einen Dichter macht, seiner Rede etwas Emphatisches mitteilt; um wie viel mehr wird dies also bei einem schwärmerischen Mädchen der Fall sein müssen.

In der Stille und dem Frieden des häuslichen Kreises aufgewachsen, dringt die Leidenschaft zu dem höher stehenden Manne plötzlich in das bisher bloß der Liebe zu Gott und den Ältern hingegebene Herz und erfüllt es auf einmal ganz und ausschließlich; sie vergisst, dass es noch Menschen, ja beinahe, dass es einen Gott außer ihm gibt, der ihre ganze Seele ausfüllt; sie sieht keine Welt mehr und doch hat sie sie nie so schön gefunden, sie weiß nichts von Gott mehr und doch hat sie ihn nie so sehr geliebt. Drängt dieses Übermaß des Gefühls an sich schon auf einen schweren Ausgang hin, so ist es noch echt tragischer, dass nicht der Hass, sondern die Neigung es ist, die sie dem Untergang entgegenführt, und zwar umso mehr, je stärker sie ist, da ihr Vater, Wurm und zunächst Ferdinand ihr Unglück verschulden. — Die Rohheit in der Sprache des letztem gegen die Geliebte, als er sie schuldig glaubt, was ohnehin mehr als leichtsinnig geschieht, wäre ohne den Hintergrund des Schwabentums, in dem der Dichter noch so tief stak, gar nicht denkbar; bei aller sonstigen Tüchtigkeit sind aber die Schwaben noch heute sicherlich der am wenigsten ritterliche Volksstamm Deutschlands und die soziale Stellung der Frauen die schlechteste, die es gibt, obgleich sowohl die Schönheit als der Geist und die natürlichen Anlagen der Schwäbinnen diese rohe Zurücksetzung in keiner Weise verdienen. Diese zeigt auch Luise, deren in der weiblichen Natur begründeten Schärfung des Blicks und der Intelligenz durch die Liebe wir es denn auch zuzuschreiben haben, wenn sie aus dem Wettkampfe mit der doch so gebildeten, durch alle Überlegenheit der Weltdame und ihrer raffinierten Dialektik glänzenden Lady als Siegerin hervorgeht, weil sie die Größe, Macht und Tiefe des Gefühls besitzt, die ihr in diesem Augenblicke den rechten Ausdruck verleihen. Die Sprache des Herzens aber wird im Moment der Leidenschaft der des Verstandes immer an Beredsamkeit so überlegen bleiben, als der Naturlaut der Volkspoesie der künstlichen Dichtung.

Ganz aber werden wir freilich diese philosophische Betrachtung, diese ausgeklügelte Kasuistik wohl nicht der sechzehnjährigen Geigerstochter zuschreiben dürfen: es ist die Subjektivität des Dichters selber, die hier und da fortgerissen von der Leidenschaft durchbricht und die Rede der handelnden Personen übernimmt; es ist der Student aus der Karlsschule, der bisweilen so überschwänglich und geistreich räsoniert.
Deshalb, weil er einen Teil des eigenen Selbst malt, ist ihm auch die zügellose, überschäumende Leidenschaft des Ferdinand so vortrefflich gelungen, während er pathetisch und aufgeregt im höchsten Grade, wie er war, für die naive Schönheit der Sprache eines Bürgermädchens, wie sie uns Goethe im Gretchen so wunderbar malt, noch kaum ein Ohr hatte.

Werden wir also schwerlich glauben können, dass die wirkliche Luise so gesprochen hätte, so prägt sich die geniale Kraft des Dichters umso sicherer in ihrem Handeln aus, wo er die sanfte, mehr zum Dulden und Entsagen als Kämpfen geschickte Natur des Weibes wunderbar richtig herausempfindet, die überall sich an Pflicht, Gesetz und Herkommen halten, sich ihnen unterwerfen will, wenn sie auch ihr Herz zerreißen, da sie fühlt, dass sie doch der Schutz und Schirm ihres Geschlechts sind gegenüber der Leidenschaft und dem rohen Egoismus der Männer.

Dass Luise ihren Schwur, der doch nur gezwungen war, nicht bricht, das wäre vielleicht für ein heutiges Mädchen nicht richtig, wo auch in die untersten Klassen der Gedanke kecken Aufruhrs gegen göttliche und menschliche Gesetze gedrungen ist, also auch in der Seele eines gefolterten Mädchens auftauchen muss; damals aber war man jedenfalls noch nicht so weit, und die Idee des Selbstmordes lag der Verzweifelnden naher. Ebenso lässt uns eine Vergleichung der jetzigen mit der damaligen Zeit zu dem Schlusse kommen, wie das Verhältnis zu der Familie nicht minder als das zu Gott und dem Staat ein so viel gebundeneres war, als es heute ist, die Macht des Vaters nach der damaligen Sitte eine viel größere Ausdehnung hatte, als er sie heute besitzt.

Unwiderstehlich wird die Wucht der Dichtung in den letzten Szenen‚ als die Ahnung des Todes Luise erfasst, da sie Ferdinand wiedersieht, wo sie ihn richtig beurteilt, wenn sie sagt:

Ehe er sich eine Uebereilung gestände, greift er lieber den Himmel an.

Die ganze aufopfernde Natur des Weibes, welcher der Geliebte weit über die eigene Existenz geht, dringt aber durch, als sie von ihm das Verbrechen erfährt, das er an ihr begangen, und ihr erster Gedanke ist:

O Gott, vergib es ihm — Gott der Gnade, nimm die Sünde von ihm. —

Würde bei einem Mann, den die Geliebte auf einen so leichtsinnig geglaubten Verdacht hin vor die Pforten des Todes geführt, dieses wohl die erste Empfindung sein?