Agamemnon. Menelaus. Chor.
Agamemnon.
Unglücklichster, was nun? – Wen – wen bejammr‘ ich
Zuerst? Ach, bei mir selbst muß ich beginnen!
In welche Schlingen hat das Schicksal mich
Verstrickt – ein Dämon, listiger als ich,
Vernichtet alle meine Künste. Auch
Nicht einmal weinen darf ich. Sel’ges Loos
Der Niedrigkeit, die sich des süßen Rechtes
Der Thränen freuet und der lauten Klage!
Ach, das wird unser Einem nie! Uns hat
Das Volk zu seinen Sklaven groß gemacht.
Es ist unköniglich, zu weinen – ach
Und hier nicht weinen, ist unväterlich!
Wie vor die Mutter treten? Was ihr sagen?
Wie ihr ins Auge sehen? – Mußte sie,
Mein Elend zu vollenden, ungeladen
Die Tochter hergeleiten? – Doch wer nimmt’s
Der Mutter, das geliebte Kind der süßen
Vermählung zuzuführen? – Nur zu sehr,
Treuloser! hat sie dir gedient, da sie,
Was sie auf Erden Theures hat, dir liefert!
Und sie, die unglücksel’ge Jungfrau – Jungfrau?
Ach nein, nein! bald wird Hades sie umfangen.
Erbarmungswürdige! Da liegt sie mir
Zu Füßen – »Vater! morden willst du mich?
Ist das die Hochzeit, die du mir bereitet?
So gebe Zeus, daß du und Alles, was
Du Theures hast, nie eine beßre feire!«
Orest, der Knabe, steht dabei und jammert
Unschuldig mit, unwissend, was er weinet,
Ach, von dem Vater nur zu gut verstanden!
O Paris! Paris! Paris! welchen Jammer
Hat deine Hochzeit auf mein Haupt geladen!
Chor.
Er jammert mich, der unglücksvolle Fürst.
So sehr ich Fremdling bin, sein Leiden geht mir nahe.
Menelaus.
Mein Bruder! Laß mich deine Hand ergreifen!
Agamemnon.
Da hast du sie. Du bist der Hochbeglückte,
Ich der Geschlagene.
Menelaus.
Bei Pelops, deinem
Und meinem Ahnherrn, Bruder, und bei deinem
Und meinem Vater Atreus sei’s geschworen!
Ich rede wahr und ohne Winkelzug
Mit dir, gerad‘ und offen, wie ich’s meine.
Wie dir die Augen so von Thränen flossen,
Da, Bruder – sieh, ich will dir’s nur gestehn –
Da ward mein innres Mark bewegt, da konnt‘ ich
Mich selbst der Thränen länger nicht erwehren.
Ich nehme, was ich vorhin sprach, zurück.
Ich will nicht grausam an dir handeln. Nein,
Ich denke nunmehr ganz wie du. Ermorde
Die Tochter nicht, ich selber rath‘ es dir.
Mein Glück geh‘ deinem Glück nicht vor. Wär’s billig,
Daß mir‘s nach Wunsche ginge, wenn du leidest?
Daß deine Kinder stärben, wenn die meinen
Des Lichts sich freun? Um was ist mir’s denn auch
Zu thun? Laß sehn! Um eine Ehgenossin?
Und find‘ ich die nicht aller Orten, wie’s
Mein Herz gelüstet? Einen Bruder soll ich
Verlieren, um Helenen heimzuholen?
Das hieße Gutes ja für Böses tauschen!
Ein Thor, ein heißer Jünglingskopf war ich
Vorhin; jetzt, da ich’s reifer überdenke,
Jetzt fühl‘ ich, was das heißt – sein Kind erwürgen!
Die Tochter meines Bruders am Altar
Um meiner Heirath willen hingeschlachtet –
Nein, das erbarmt mich, wenn ich nur dran denke!
Was hat das Kind mit dieser Helena
Zu schaffen? Die Armee der Griechen mag
Nach Hause gehn. Drum, lieber Bruder, höre
Doch auf, in Thränen dich zu baden und
Auch mir die Thränen in das Aug zu treiben.
Will ein Orakel an dein Kind – das hat
Mit mir nichts mehr zu schaffen. Meinen Antheil
Erlass‘ ich dir. Es siegt die Bruderliebe.
Entsag‘ ich einem grausamen Begehren,
Was hab‘ ich mehr als meine Pflicht gethan?
Ein guter Mann wird stets das Beßre wählen.
Chor.
Das nenn‘ ich brav gedacht und schön – und wie
Man denken soll in Tantalus‘ Geschlechte!
Du zeigst dich deiner Ahnherrn werth, Atride.
Agamemnon.
Jetzt redest du, wie einem Bruder ziemt.
Du überraschest mich. Ich muß dich loben.
Menelaus.
Lieb‘ und Gewinnsucht mögen oft genug
Die Eintracht stören zwischen Brüdern. Mich
Hat’s jederzeit empört, wenn Blutsverwandte
Das Leben wechselseitig sich verbittern.
Agamemnon.
Wahr!
Doch, ach! dies wendet die entsetzliche
Nothwendigkeit nicht ab. Ich muß, ich muß
Die Hände tauchen in ihr Blut.
Menelaus.
Du mußt?
Wer kann dich nöthigen, dein eigen Kind
Zu morden?
Agamemnon.
Die versammelte Armee
Der Griechen kann es.
Menelaus.
Nimmermehr, wenn du
Nach Argos sie zurücke sendest.
Agamemnon.
Laß
Auch sein, daß mir’s von dieser Seite glückte,
Das Heer zu hintergehn – von einer andern –
Menelaus.
Von welcher andern? Allzusehr muß man
Den großen Haufen auch nicht fürchten.
Agamemnon.
Bald
Wird er von Kalchas das Orakel hören.
Menelaus.
Laß dein Geheimniß mit dem Priester sterben!
Nichts ist ja leichter.
Agamemnon.
Eine ehrbegier’ge
Und schlimme Menschenart sind diese Priester.
Menelaus.
Nichts sind sie, und zu nichts sind sie vorhanden.
Agamemnon.
Und – eben fällt mir’s ein – was wir am meisten
Zu fürchten haben – davon schweigst du ganz.
Menelaus.
Entdecke mir’s, so weiß ich’s.
Agamemnon.
Da ist ein
Gewisser Sohn des Sisyphus – der weiß
Schon um die Sache.
Menelaus.
Der kann uns nicht schaden!
Agamemnon.
Du kennst sein listig überredend Wesen
Und seinen Einfluß auf das Volk.
Menelaus.
Und, was
Noch mehr ist, seinen Ehrgeiz ohne Grenzen.
Agamemnon.
Nun denke dir Ulyssen, wie er laut
Vor allen Griechen das Orakel offenbart,
Das Kalchas uns verkündigt, offenbart,
Wie ich der Göttin meine Tochter erst
Versprach und jetzt mein Wort zurücke nehme.
Durch mächt’ge Rede reißt der Plauderer
Das ganze Lager wüthend fort, erst mich,
Dann dich und dann die Jungfrau zu erwürgen.
Laß auch nach Argos mich entkommen – mit
Vereinten Schaaren fallen sie auf mich,
Zerstören feindlich die Cyklopenstadt
Und machen meinem Reiche dort ein Ende.
Du weißt mein Elend – Götter, wozu bringt
Ihr mich in diesem fürchterlichen Drange!
Den einz’gen Dienst noch, lieber Menelaus,
Erweise mir – gehst du durchs Lager, suche
Ja zu verhüten, daß der Mutter nicht
Kund werde, was hier vorgehn soll, bevor
Der Erebus sein Opfer hat – so bin ich
Doch mit der kleinsten Thränensumme elend. (Zum Chor.)
Ihr aber, fremde Fraun – Verschwiegenheit!
(Agamemnon und Menelaus gehen.)