HomeDie Horen1795 - Stück 3III. Entzückung des Las Casas oder: Quellen der Seelenruhe. [J. J. Engel]

III. Entzückung des Las Casas oder: Quellen der Seelenruhe. [J. J. Engel]

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Las Casas, dessen Name unter der Zahl thätiger Menschenfreunde ewig glänzen und um so heller glänzen wird, da er neben den Höllenschwarzen Namen jener Ruchlosen erscheint, die durch Schwert und Folter und Sclavendienste eine Million von Unschuldigen innerhalb funfzehn Jahren würgten; dieser beredte, eifrige, unermüdete Fürsprecher der Indianer lag jetzt, als ein neunzigjähriger Greis, auf dem Sterbebette. So sehr schon längst seine ganze Sehnsucht auf den Lohn im Himmel gerichtet war; so ward ihm doch im Angesicht der Ewigkeit bange. Es war die Bangigkeit einer holden, liebenden Braut, die in dem Augenblick, wo das Glück ihres Lebens gegründet und alle ihre Wünsche gekrönt werden sollen, vor der Veränderung ihres Standes zittert. Las Casas war sich der Reinigkeit seines Herzens und der Unschuld seines Lebens bewusst; er hatte Königen ins Antlitz gesehen, und scheute keinen irdischen Richter: aber der Richter, vor den er jezt treten sollte, war Gott; und eine unendliche Heiligkeit und Gerechtigkeit schien ihm furchtbar. Auch das kühne Auge der Rechtschaffenheit, wie das blöde der Schuld, schlägt den Blick vor der Sonne nieder.

Zu seinen Füssen saß ein würdiger Ordensbruder; auch ein Greis, und seit vielen Jahren sein Freund. Gleiche Rechtschaffenheit hatte ihn mit zärtlicher Liebe gegen Las Casas, und Bewußtseyn geringerer Kräfte mit Bewunderung und Ehrfurcht erfüllt. Er sah mit Wehmuth, wie sein Freund, dem er nie von der Seite wich, immer stiller und ohnmächtiger ward, und sprach ihm Hofnung ein, um Hofnung bey sich selbst zu erwecken. Aber der Greis, der des grossen Gedankens an die Ewigkeit voll war, bat ihn hinauszugehen, und ihn mit seinem Richter allein zu lassen.

Las Casas lag und überdachte sein Leben. Wohin er sein Auge wandte, da sah er Irrthümer und Fehler, und sah sie in ihrer ganzen Grösse, ihre Folgen breiteten sich vor ihm aus, wie ein Meer: aber klein, und unlauter, und fruchtlos an dem gehofften Guten schien ihm jede bessere That; eine Quelle der Wüste, die im Sande dahinschwindet, ohne daß Halm oder Blume ihr Ufer schmücke. Reuig, gedemüthigt, beschämt, warf er sich nieder in Gedanken vor Gott, und flehte aus der Tiefe der Seele: Gehe nicht ins Gericht mit mir! Laß mich Erbarmen vor deinem Throne finden, Vater der Menschen!

Die Kräfte des Sterbenden waren zu matt für diese Anstrengung der Seele: so sehr er zu wachen rang, so versiegelte bald der Schlaf seine Augenlieder. Und plözlich war ihm, als hätt’ er die Gestirne des Himmels zu seinen Füssen, und ging’ auf Wolken einher in einem endlosen Raum, und säh’ in tiefer Ferne ein majestätisches Dunkel, durchbrochen von einzelnen Lichtfluthen göttlicher Glorie, und rings von Heerschaaren umschwebt, die aus den Welten herauffuhren, und hinab in die Welten. – Kaum hatte noch sein Auge gefaßt und seine Seele bewundert; so stand vor ihm da, mit ernstem Blick des Richters, ein Engel, und hielt in seiner Linken eine Rolle, die seine Rechte entwickelte. Todesschauer, wie er den Verurtheilten beim Anblick der Richtstätte ergreift, wo er bluten soll, durchfuhr den zitternden Greis, als zuerst der Unsterbliche seinen Namen aussprach, und ihm dann vorhielt die höheren, edleren Kräfte alle, in seine Seele gesenckt, und die bessern, sanfteren Neigungen alle, in seinem Blute bereitet, und die Anlässe, die Hülfen zur Tugend alle, ins eine Lage verwebt, so daß ihm dünkte, sein Gutes komme Alles von Gott, und nichts werde ihm übrig bleiben, als seine Irrthümer und seine Sünden.

Jezt, da der Engel sein Leben begann, suchte er nach den Vergehungen seiner Jugendjahre; aber er fand sie nicht. Die erste Thräne der Reue hatte sie alle verwaschen. Nur sie selbst stand bemerkt, diese Thräne, und jeder ernste Vorsatz zum Guten, und jede Beschämung über erneuerten Fehltritt, und jeder stille Triumph über vollbrachte Pflicht, und jedes williggenährte Gefühl der sich selbst verläugnenden Güte, und jeder edle, siegreiche Kampf mit der Sinnlichkeit, der Empörerinn gegen Gott. Da ging sein Herz dem Gerichteten auf in Hofnung. Und obgleich seiner Fehler mehr war, als des Sandes am Meer; so war doch auch des Guten und des Edlen die Fülle: und das Gute wuchs, und der Fehler ward minder, je mehr er an Jahren fortschritt, und Erfahrung und Nachdenken die Kraft der Seele, so wie Übung im Guten die Neigung und das Vermögen stärkte. Doch war auch sein Bestes nicht vollkommen vor Gott, und der edelsten Thaten Quell war auf seinem Grunde noch trübe.

Bald aber, da erhöhte der Engel den Ton, und seine Rede ward strömend; denn der Jüngling war zum Manne gereift, und war aufgetreten, als Held der Menschheit, in jenen Eilanden, die einst Eilande des Segens und Friedens, und jezt des Fluchs und des Mordens waren. Was er hier litt, der Edle, und noch mehr, was er hier that; wie jede Noth der Unschuldigen seine eigene ward, und wie die ganze Seele ihm zu einer Thätigkeit aufflammte, die noch fortglühte im Greisesalter; wie er, hohen Muthes im Gefühl seines Rechts, der Rache der Mächtigen Trotz bot, und lauten Fluch über den Golddurst aussprach, der mordete, und über den Glaubensstolz, der es lächelnd ansah, und über die Staatsklugheit, die es zu ahnden vergaß; wie er hin und her, der Stürme und der Klippen nicht achtend, über die Tiefen des Meeres flog, um bald dem Thron seine Klagen, bald der Unschuld den Trost der Hofnung zu bringen; wie er hintrat vor den stolzen Eroberer, den ersten Herrscher in zwoen Welten, und ihm seine Schuld in die Seele donnerte, daß ihm ward, als ständ er vor seinem ewigen Richter, und als lekten die schwarzen unauslöschlichen Flammen der Hölle schon an sein Krankenlager; wie er sich hinwarf über die Trümmer gescheiterter Hofnungen und laut aufweinte gen Himmel, aber sich stets wieder aufriß, als Mann, und wieder da stand voll Muthes und Kraft, und rüstig fortbaute an immer neuen Entwürfen; wie jeder Strahl der Hofnung, der den Elenden erschien, ihm das Herz mit entzücken schwellte, und als der lezte in trübe, ewige Nacht dahinschwand, wie er da, jeder Freude und jedem Trost entsagend, sich tief in die Einsamkeit barg, und die Erde ihm nichts mehr war, als ein Kerker, und die Sehnsucht nach Auflösung und Ewigkeit ihm von nun an die ganze Seele füllte: alle diese Thaten und diese Leiden standen geschrieben vor Gott, nach ihrer ganzen Lauterkeit, Verdienstlichkeit, Schönheit. – So wie er fortlas, der Engel, so glühte ihm seine Wange von immer höherm Feuer, sein Athem ward lauter, sein Blick beseelter, und rings um ihn her wallte reineres, holderes Licht: denn Eifer für Wahrheit und Recht – und wenn er, thatenlos, nichts als Zeugnis und Thränen opferte, weil ihm Thaten versagt waren – ist von hohem, unnennbarem Werth im Himmel.

Aber noch stand der Greis, den Blick zur Wolke gesenkt, und trüben, denkenden Ernst auf der Stirne: denn ihm preßte das Herz jener unselige Rathschlag, womit er einst, in unbedachter Verzweiflung, um das eine Volk zu erleichtern, das andre erdrückte; alle Gedanken seiner Seele schweiften umher am Gambia und am Senegal, bis tief ins Innerste jenes Welttheils, wo verrätherischer, ewiger Krieg den Barbaren Europens Myriaden auf Myriaden in ihre Ketten liefert. Und sie kam endlich, nach unzähligen bessern, diese furchtbare That; schwärzer in ihren Folgen, als alle Unthaten der Hölle, und reicher an Blut und an Thränen, als sie je der reumüthige Greis in der finstersten seiner Nächte träumte. Aller Greuel der Bosheit und alle Wehklage der Unschuld war im Andenken vor Gott; aller unsägliche, undenkbare, unendliche Jammer, im Mutterlande, auf dem Meer, auf den Inseln; alles Hinsinken der ersterbenden Kraft, und alle Geißelhiebe statt Erquickung und Schlummers; Alles Wimmern der sich sträubenden Todesangst, und alle Stille der dahingegebenen Verzweiflung. – Las Casas stand, als sollt’ ihn das Entsetzen vernichten. Er dachte jezt nicht den Heiligen, den Gerechten, vor dem keine Finsternis deckt, und kein Flügel des Lichtes sichert; voll des innigsten, tiefsten Erbarmens dacht’ er nur das endlose Elend aller dieser Tausende, seiner Brüder. Da der Engel ihn sah, wie die Reue mit allen ihren Nattern ihm an die Seele fiel, und wie er das Kleinod seiner Natur, die Unsterblichkeit, hätte geben mögen, um seine Schuld zu vertilgen; da entfloß auch ihm eine Thräne.

Aber eine Stimme vom Heiligthum her, sanft und liebreich, wie eines versöhnten Vaters, gebot dem Engel: Zerreiß die Rolle!

Und der Engel zerriß die Rolle. Getilgt, sprach er, sind deine Schwachheiten vor Gott. Aber geschrieben steht vor seinem Angesichte mit Zügen des Lichts dein Name. Wollt’ er Fehler ahnden, wie deine Fehler; so wäre deiner Brüder keiner gerecht vor ihm, und leer und Bürgerlos bliebe sein Himmel. Er hat Seelen in Staub gesenkt, damit sie durch Irrthümer zur Wahrheit hindurchbrächen, und durch Fehler zur Tugend, und durch Leiden zur Glückseligkeit.

Nimm mir, nimm mir, schluchzte Las Casas, dem mit einer Thränenfluth die Stimme zurückkam; nimm mir, wenn du’s vermagst, die Erinnerung jener That, oder ich werde ewig mein Gericht in mir selber tragen. Zerreiß, wie du diese Rolle zerrissen hast, auch das Andenken an sie hier im Innersten meines Herzens, oder selbst in der Gegenwart Gottes werd’ ich den Himmel suchen, und der Seligkeit im Schooße nach Ruhe jammern.

Sterblicher! rief der Engel; wo ist Seligkeit, als in dir, als in deiner eigenen Seele? Und worinn sonst kann sie dir Endlichen blühen, der du nie ohne Fehl und Irrthum seyn kannst, wie Gott, als daß du dich wirksam zum Guten fühlest mit all deiner Kraft, und innige, treue Liebe nährest auch für den niedrigsten deiner Brüder, und in der Bitterkeit deines Schmerzens selbst, wo du gefehlt hast, den Adel deiner Seele empfindest?

O, aber dieß Grenzenlose, unaussprechliche Elend durch lange Jahrhunderte – –

Wird zu Wonne werden, und zu Fülle der Seligkeit, in dem Weltentwurf deines Schöpfers. Du hast dich selbst in deiner Schwachheit erkannt; erkenne nun in seiner Herrlichkeit Ihn!

Und er gebot der Wolke, daß sie sich donnernd vom Boden des Himmels losriß, und Hand in Hand fuhren sie nun hinab in die Schöpfung. Da rollte zu des Greises Füßen die Erde, und der Unsterbliche wies ihn hin auf rauhe, unwirthbare Gebirge, die ein ewiges Eis bedeckte, und auf Schreknisse schwarzer kämpfender Ungewitter, und auf Zerstöhrungen wilder wütender Stürme. Von den Gebirgen herab quollen Bäche und Ströme, und an ihren Ufern freuten sich Millionen; in den kämpfenden Ungewittern stieg der Segen vom Himmel, und Feld und Wald blühten schöner; und wo die Stürme zerstört hatten, da athmete freier die Brust, und die Wange gewann wieder Röthe; denn zerbrochen war der Flügel der Pest, die in Dämpfen daherzog, und sie war zurückgestürzt in den Abgrund. – So führt’ er den Staunenden fort von Übel zu Übel, aus der sichtbaren in die unsichtbare Natur, und mit immer schwellender Wonne weiht’ er ihn ein in jene höhern Erkenntnisse, deren ganzes Geheimnis dem sterblichen Blick keine sterbliche Hand entsiegelt: wie durch alles Wogen und Empören des Endlichen der Unendliche seinen Weg hindurchgeht in seiner Herrlichkeit, daß kein Fehl und kein Irrthum da bleibt in aller Tiefe und Weite der Schöpfung, vom lezten bis zum lezten Gestirn; – und wie, in der Welt der Seelen, Leiden die Thätigkeit weckt, und Mutter und Pflegerinn wird jedes größten und jedes schönsten Gefühls der Menschheit; – und wie, unter dem fremden Himmel, der geraubte Sclave Eindrücke sammelt, einen Besitz für die Ewigkeit! Eindrücke, in denen der seligen Erkenntnisse zu vielen Tausenden schlafen, so wie im Fruchtkorne die Ärnte schläft, oder im Schössling der Wald; – und wie, in höhern Zeitpuncten des Daseyns, aus seiner duldenden, geängsteten, zerrissenen Seele jede Tugend hervorblüht, und ihre Blüthen die sanfteste, edelste krönt; sie, der Sittlichkeit Wipfel und der Menschheit Vollendung: Liebe, die auch den Todfeind umfängt; – und wie er selbst, der Peiniger und Untertreter der Unschuld, so krank und wund und zerrüttet jede Kraft seiner Natur ist, vom Verderben genes’t; so, daß all sein Gericht nur Verzug seines Heils war, nur rauherer, dornenvollerer Umweg, der sich weit vom Himmel hinwegschlingt, und doch wieder hinführt zum Himmel; wie an der Spitze der Bosheit das Elend aufkeimt, und in dem Elend die Reue, und in der Reue die Tugend, und in der Tugend die Seligkeit, und in der Seligkeit immer höhere Tugend; wie jeder Mißlaut der Erde hinschmilzt in Harmonieen, und jeder Klag’ton in Jubel.

Horchend, von Schauder auf Schauder ergriffen, der ihm durch all sein Gebein fuhr, im Gefühle der nähern Gegenwart Gottes, stand vor dem Engel der Greis, und staunte, und lernte am Geheimnis der Liebe. Da fiel es ihm von seinem Auge, wie Schuppen; da schwanden die Schatten der Unwissenheit und ihre Unholden hin; da ging über dem Innern der Schöpfung für ihn der Tag auf, der volle, heitre, selige Tag, und Entzücken war seine Morgenröthe. Aber noch bebte heimlich jede Nerve in ihm von Mitleiden und Wehmuth; die kämpfenden Gefühle vermischten sich, und neue Thränengüsse quollen auf seine Wangen herab. – O du, rief er jezt aus, indem sein Knie in die zitternde Wolke stürzte, und Arm und Auge sich froh emporhuben gen Himmel; o du, den ich suchte von meiner Kindheit an, und der sich mir jezt entwölkt, wie er ist, als ganze Huld, ganz Erbarmen und Liebe; du, mein Vater und nicht mein Richter! Und aller deiner Geschöpfe Vater! und aller deiner zahllosen Welten Vater! Gott! Gott! – der du mir Ärnten des Heils zeigst, auch wo meine Thorheit Verderben sä’te; der du von mir hinnimmst jeden Kummer der Seele, und mich fühlen lässest in meinem Innersten, daß dir anhangen einzig Seligkeit ist, und deine Herrlichkeit sehn, ihre Vollendung; der du Wollen des Guten, ach! nur Wollen, nur Ringen darnach mit diesen Entzückungen lohnst, und Irrthümer selbst durch ihre spätesten Folgen in Quellen neuer Entzückungen wandelst; Herrlicher! Unbegreiflicher! du, dessen Ehre die Himmel – du, dessen Ehre ich Staub – – Aber ich kann nicht weiter. Meine Seele erliegt.

So war es. Seine Seele erlag; seine Zunge verstummte. Hülfreich hob, die Hände gegen ihn ausgestreckt, der Engel ihn auf, und mit Blicken voll holder, unaussprechlicher Liebe, zog er ihn näher an seinen Busen, und hieß ihn Bruder.

Hier erwachte Las Casas. Als er den Blick erhob, sah er seinen irdischen Engel, der geschlichen kam, nach seinem Athem zu horchen. Er wollte reden, wollte ihm von der Seligkeit, die seine ganze Seele durchdrang, das Pflichttheil der Freundschaft geben; aber schon brach sein Auge; er sank zurück, und streckte sein Gebein in den Tod hin. Zitternd und stumm hing über dem Entseelten der Bruder. Dann sank er nieder auf ihn, küßte seinen erstarrten, verlornen Freund, und weinte. Sein gen Himmel gerichteter Blick und seine gefalteten Hände sprachen ein Gebet zu Gott, daß sein Hingang wäre, wie dieses Gerechten Hingang. Denn der Tod des Edlen war sanft, ein leises, stilles Hinschlummern des Säuglings im Schooß der Mutter, und Ruhe der Seele, wie sie aus Erkenntnis Gottes und seiner selbst hervorging, lächelte noch im Tode auf seinem Angesichte.

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