HomeDie Horen1795 - Stück 3II. Dante’s Hölle. [Wilhelm Schlegel]

II. Dante’s Hölle. [Wilhelm Schlegel]

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*1

Als ich die Bahn des Lebens halb vollendet,
Fand ich in einem dunkeln Walde mich,
Weil ich vom graden Weg mich abgewendet.
Es fällt mir hart zu sagen, wie der wilde
Gewalt’ge rauhe Wald beschaffen war,
Denn noch ergraut mein Geist vor seinem Bilde.
An Bitterkeit kommt er dem Tode nah,
Doch um des Heils, das ich darinn gefunden,
Will ich das andre melden, was ich sah.
Ich weiß nicht mehr, wie ich mich drein verlohren,
So ganz voll Schlafes, war ich um die Zeit,
Als ich zuerst den falschen Weg erkohren.

Ein so ernster schmuckloser Anfang ohne voraus geschickte Ankündigung scheint mehr die Geschichte würklich erlebter Begebenheiten, als eine Reihe von willkührlichen Dichtungen zu versprechen, und stimmt zum Glauben selbst an das Wunderbarste, das folgen soll. Die erste Zeile bezeichnet nicht blos im Allgemeinen das männliche Alter, sondern nahmentlich das fünf und dreyßigste Lebensjahr des Dichters nach dem Ausspruche: des Menschen Leben währet siebenzig Jahr; und sezt also den Zeitpunkt der Vision, den andre Stellen noch genauer auf Tag und Stunde bestimmen, nicht ohne geheimnißvolle Beziehungen, in das Jubel-Jahr 1300. Von allen seit dem bis zu den Zeiten wo er schrieb, vorgefallenen Begebenheiten redet Dante, als wären sie noch ungeschehen, wodurch er Gelegenheit zu machen Weissagungen erhält.

Er gelangt zum Fuße eines Hügels, dessen Gipfel schon das Morgenlicht bescheint. Als er ihn zu erklimmen versucht, lockt ihn erst ein schön geflecktes Pardel vom Wege ab; dann schreckt ihn ein Löwe, endlich eine gierige Wölfin in die finstre Tiefe zurück. Die Allegorie ist hier sehr faßlich: es ist der Wald der Irrthümer, die Thiere, die ihm den Ausgang verwehren, sind menschliche Leidenschaften: Wollust, Herrschbegierde, oder Hochmuth und Habsucht. Als er so umherirrt, bietet sich seinem Blick ein Mensch oder der Schatte eines Menschen dar. Diesen ruft er um Hülfe an, wer er auch seyn möge, und vernimmt von ihm, er sey im Leben der Dichter gewesen, der Aeneas Thaten besang.

„So bist du der Virgil, und bist der Bronnen,“
Erwiedert ich ihm mit verschämter Stirn,
„Aus dem so voll der Rede Fluß geronnen?
O du! der andern Dichter Licht und Preiß!
Gedenks mir nun, daß ich in deinem Buche
Geforscht mit groser Lieb’ und stetem Fleiß!
Als Meister muß ich dich und Vorbild loben;
Du bists allein, dem ich den schönen Styl
Verdanke, der zum Ruhme mich erhoben.
Du siehst das Thier, das keck mit mir zu hadern
Nicht unterläßt; steh, groser Meister, mir
Dargegen bey! Mir zittern Puls und Adern.“

In Bezug auf sich selbst, geht Dante in diesem Lobe Virgils unstreitig viel zu weit. Das Ebenmaaß der Ausbildung und die kunstreichen Schönheiten, worinn des Römers ganzes Verdienst besteht, wußte er nicht in sich zu übertragen, und hätte jener die göttliche Komödie lesen können, so würde sein Geschmack vermuthlich die schöpferische Größe darin verkannt haben.2 Eigentlich waren diese beyden Männer gar nicht für einander geschaffen. Was Dante etwa geborgt hat, sind wenige einzelne Züge, nicht immer zum glücklichsten in den Zusammenhang seiner eigenen Dichtungen eingefugt.

Virgil räth ihm, weil die Wölfin ihm diesen Weg durchaus verwehren würde, einen andern zu wählen, und verspricht ihn durch die Hölle und durch die Welt der Büßung zu führen. In dem Himmel werde ihn dann eine würdigere Seele geleiten: denn das sey ihm, einem Heiden, nicht verstattet. Dante willigt ein, und beschwört jenen bey dem Gott, den er im Leben nicht erkannt, sein Versprechen zu erfüllen.

Um die Abenddämmerung machen sie sich auf, indeßen sich unterweges beym Dante Ängstlichkeiten regen. Ich weiß nur zwey, sagt er, die lebend in die Geisterwelt gelangten, Äneas und Paulus.3 Beyde waren es wohl würdig; denn jener war Vater der heiligen Weltherrscherin Rom, und diesen nennt die Schrift das auserwählte Rüstzeug. Aber ich? – „Ein schönes seliges Weib“ so erklärt ihm Virgil seinen hohen Beruf zu der Reise, „kam herab zu mir in den Vorhof der Hölle. Sie bat mich dringend, ihren Freund aus der Verirrung zu retten, und sagte: Ich bin Beatrice, Lucia hat das Unglück meines Freundes von einem andern holdseligen Weibe des Himmels erfahren, und es mir berichtet. Dies hat mich bewogen, meinen Sitz dort oben zu verlassen. – Hierauf wandte sie sich mit Thränen in ihren leuchtenden Augen hinweg, und ich eilte, ihren Willen zu vollbringen.“ Beatrice, Lucia und die ungenannte Himmlische sind Allegorien, deren Deutung anderswo schicklicher ihren Platz finden wird. Im Virgil ist die irrdische Weisheit personifzirt, wozu der Mensch ohne Hülfe der Offenbarung gelangen kann. An ihm finden wir gleich ein Beyspiel von dem, was ich von den Allegorien der göttlichen Komödie im Allgemeinen bemerkte. Es ist aus hundert Stellen klar, daß Dante sich die Weisheit unter seinem Bilde gedacht, eine Menge andrer Züge machen hingegen das Emblem wieder zur individuell bestimmten Person. Virgil handelt und spricht wie die Weisheit, zugleich aber ist er würklich der Römische Dichter, deßen Nahmen er führt. Warum Dante gerade ihn zu dieser Würde erhob? Er war sein Lieblings-Dichter und nach einer natürlichen Ideen-Verbindung machte er den, der eine Reise in die Unterwelt besungen hatte, zum Führer auch der seinigen. Außerdem hegte das ganze Mittelalter eine beynahe abergläubige Ehrfurcht vor ihm.4 Man glaubte in seiner vierten Ekloge eine Ahnung vom Christenthume, eine mit dunklem Bewußtseyn gegebene Prophezeyhung davon zu finden, und schrieb deswegen auch seinen übrigen Schriften eine größere Heiligkeit zu, als irgend einem andern heidnischen Buche. Auf Virgils Rede ermannt sich Dante wieder:

So wie die Blümlein hängend und verschloßen
Vom Nachtfrost, wenn das Sonnenlicht sie färbt,
Ihr Haupt erheben auf den zarten Sproßen;
So wurd’ in mir die Kraft die mir gebrach;
Durch Muth erfrischt, der um mein Herz sich drängte,
So daß ich nun mit tapferm Sinne sprach:
Dank für die Güte der Erbarmungsvollen!
Dank dir, du Freundlicher! daß du so schnell
Der Wahrheit die sie sprach, gehorchen wollen.
Du hast mein Herz durch deines Wortes Lehre
Mit solchem Trieb zu dieser Reis’ erfüllt,
Daß ich zurück zum ersten Vorsatz kehre.
Ein Wille treibt uns beide: nun wohlan!
Sey du mein Führer, Herr und Licht und Rath! –
So sagt’ ich; wir beschritten, er voran
Und ich nach ihm, den tiefen Waldes Pfad.

Dritter Gesang

Ich bin der Weg ins wehevolle Thal,
Ich bin der Weg zu den verstoßnen Seelen,
Ich bin der Weg zur Stadt der ew’gen Quaal.
Mich schuf mein Meister aus gerechtem Triebe,
Ich bin das Werk der göttlichen Gewalt,
Der höchsten Weißheit und der ersten Liebe.
Vor mir war nichts erschaffenes zu finden,
Als ew’ges nur,5 und ewig währ auch ich.
Ihr, die ihr eingeht, lasst die Hofnung schwinden!
So stand geschrieben über einer Pforte
In dunkler Schrift. „O Meister!“ sprach ich drob,
„Zu hart ist mir die Deutung dieser Worte.“6
Er aber sprach nach seinem klugen Sinn:
Hier musst du allen Zweifelmuth ertödten;
Hier ziemt sich keine Zagheit fürderhin.
Wir sind nun an dem Ort, wo ich dir sagte,
Du werdest da das Volk des Elends sehn,
Dem eigne Schuld das höchste Gut versagte. –
Dann faßt’ er heitern Blickes meine Hand
Mit seiner, daß ich Trost gewann, und führte
Mich ein in das geheimnißvolle Land.
Allda in unbestirnter Luft erschollen
Gewinsel, Klag’ und lauter Weheruf,
So daß zu Anfang Thränen mir entquollen.
Verschiedene Sprachen, grauenvolle Zungen,
Des Jammers Worte, Stimmen hohen Zorns
Und heis’res Schreyn, wozwischen Fäuste klungen,
Erregten ein Getös’, das ohne Rast
In diesen ewig schwarzen Lüften kreiset,
So wie der Staub, vom Wirbelwind erfaßt.
Und ich, des Haupt vom Irrthum war umschlungen,
Sprach: Was vernehm’ ich, Meister? Welch ein Volk
Ist dieses da, von Qualen so bezwungen? –

Die ersten neun Zeilen dieses Gesanges sind einstimmig und mit Recht unter das Erhabenste gezählt worden, was unser Dichter, und vielleicht, was je irgend ein Dichter gesagt hat. Weniger umfassend als jene uralte Inschrift vom Tempel der Isis, ist diese über den Pforten der Hölle eben so geheimnißvoll und furchtbarer. Allein die Hölle soll nicht bloß als eine wilde Ausgeburt der Nothwendigkeit schrecken: sie soll zugleich als das Werk unbegriffener göttlicher Vollkommenheiten, dem sittlichen Wesen Ehrfurcht einflößen. Ihre innere Unzerstörbarkeit endlich und gänzliche Ausschließung der Aussicht auf einen bessern Zustand macht sie zum vollendeten Bezirk des Elends.

Die Wiederholungen der ersten Terzine sind keine leere Tavtologie: Das Langsame und Feyerliche darin bereitet das Gemüth auf den folgenden Eindruck vor; und vielleicht sollte auch die Dreyzahl etwas Heiliges ahnen lassen. Die leise Anspielung auf die Dreyeinigkeit im fünften und sechsten Verse führt eben dahin.

Der Ort, wozu jener Eingang unmittelbar führt, ist ein Vorhof, von Seelen bewohnt, welche die Hölle, wie der Himmel, verstößt, weil sie ganz thatenlos, ohne Lob und Schande gelebt, oder vielmehr nicht gelebt haben. Fruchtlose Müh’ und kleinliche Leiden bestrafen ihre ehemahlige Unthätigkeit; sie laufen einer Fahne nach, während Mücken und Wespen sie unaufhörlich zerstrechen und eckelhaftes Gewürm ihre mit Blut vermischten Thränen vom Boden auftrinkt. „Sprich nicht von ihnen! Schau und gehe vorüber!“ ruft Virgil seinem Freunde zu. –

Ehe wir uns weiter wagen, müssen wir uns, um nicht vieles miszuverstehen, von Dante’s Hölle eine allgemeine Vorstellung bilden. Man hat Abhandlungen oder eigene Bücher7 darüber geschrieben, ihren Grundriß und Aufriß gezeichnet, jeden ihrer Bezirke umständlich nach Meilen, nach Ellen gemessen: eine unnütze, ermüdende und beynahe lächerliche Genauigkeit, wenn sie auch in den Gedanken des sinnenden Erfinders würklich Statt gefunden hätte. Um diese zu fassen, ist es hinlänglich sich eine unterirrdische Höhlung vorzustellen, die sich bis zum Mittelpunkt der Erde im Ganzen konisch, aber doch mit einigen Abweichungen von dieser Form erstreckt und verengt. Es umgeben den Abgrund nehmlich ausser dem Vorhofe acht Stufen oder Kreise, zu Wohnplätzen der Verdammten nach den verschiedenen Graden und Arten der Schuld eingerichtet und jeder immer tiefer und kleiner als der vorhergehende. Eine runde Fläche macht den neunten Absatz und den Boden der Hölle aus, in dessen Mitte der König der Finsterniß eingekerkert ist. Die drey lezten Grade sind wieder nach den Unterarten der Verbrechen in Ringe abgetheilt, die einander einschliessen. Dante sieht und durchwandert von jedem Kreise einen Theil, ehe er in den nächsten hinabsteigt, und hält sich immer nach derselben Seite zu, so daß sein Weg am Ende ungefähr den ganzen Umfang beschrieben hat. Gerade mitten auf der Erdfläche wovon die Hölle bedeckt wird, liegt Jerusalem, welches der Dichter mehr nach einer gewißen christlichen Mythologie, als durch wissenschaftliche Irrthümer verleitet, wie den Mittelpunkt der bewohnten Sphäre betrachtet. Die andere räumt er dem Ozean – von Amerika ahnete man noch nichts – uneingeschränkt ein; es erhebt sich aus ihm nur eine Insel mit einem Berge, dem Aufenthalte büßender Seelen, grade auf dem der Lage Jerusalems auf unserer Halbkugel entsprechenden Punkte.

Die lokalen Verhältnisse dieser Unterwelt werden im Fortgange des Gedichts, kurz, aber überall mit Bestimmtheit ausgeführt. Eine perspectivische Darstellung die blos die nahen Gegenstände hervortreten läßt, und das Entfernte nachläßig, mit absichtlicher Verwirrung andeutet, thäte vielleicht mehr dichterische Wirkung, besonders im Großen und Fruchtbaren. Dante’s Weise giebt ein Ansehen von historischen Wahrheit. Der allgemeine Plan hat nur seinem Verstande vorgeschwebt; er verliert ihn aus den Augen bei jeder einzelnen Szene, die er dagegen mit seiner ganzen Einbildungskraft fest hält und ergründet. Vertraut mit der Welt seiner Visionen wird er in seinen kargen Beschreibungen ihres Innern oft unverständlich, wie man bey der Schilderung eines Gebäudes, das man selbst bewohnt, leicht in Gefahr ist, etwas für den fremden Zuhörer Nothwendiges auszulassen. Man kann daher den Inferno bis zu Ende gelesen haben, ohne noch zu einer deutlichen Übersicht vom Ganzen des Schauplatzes und der Folge seiner Theile gelangt zu seyn.

Dante’s Zweck erlaubte es nicht, die Hölle in ungewissen Umrissen, wie ein Chaos schreckender Dinge oder Undinge hinzuwerfen. Er öffnet sie nicht, wie etwa Tasso, nur um einzelne handelnde Personen daraus hervorgehen zu lassen, und sie dann wieder zu schliessen, sondern seine ganze Handlung, die wunderbare Reise, liegt in ihr und den beyden andern Geisterreichen, die er vollständig kennen lehren will. Der fast unendliche Reichthum seiner belebten Gruppen müßte zum Labyrinth werden, ohne einen sichern Leitfaden. Dazu dient ihm die mathematische Begränzung der verschiedenen Geisterwohnungen. Deswegen trennt und ordnet er die Arten der Verdammten, Büßenden und Seeligen, nach seinem System der philosophischen Moral und der Theologie.

Ob seine Erfindungen in der Geschichte der menschlichen Einbildungskraft völlig abgerissen da stehen, oder ob er von irgend einem Kirchenvater, der sich vielleicht über die Topographie der Hölle ausläßt, oder sonst woher geborgt hat, kann ich nicht mit Gewißheit sagen. Zuverläßig aber und weit schwerer zu entschuldigen ist es, daß mehrere Mahler8 ihm hinwiederum darinn gefolgt sind, und ihrer Kunst eine Darstellung zugemuthet haben, die auf der Leinwand immer kindisch, wie das überkünstliche Meisterstück eines Handwerkers, ausfallen muß, und höchstens nur für Albrecht Dürers mühseligen Pinsel taugen möchte.

Zwey neuere Dichter haben uns an so ungeheure Bilder der Hölle gewöhnt, daß die des Dante, besonders mit ihren vielen Abtheilungen, uns fast enge und dürftig scheint, obgleich für die menschliche Kleinheit, der es schon am Rande eines Berges, am Rande eines vulkanischen Abgrundes schwindelt, eine Tiefe von einem halben Durchmesser der Erde und verhältnißmäßiger Weite wirklich unermeßlich ist. Nach den Begriffen des Zeitalters, die sich seit Aristoteles wenig verändert hatten, war überall das Weltgebäude unendlich beschränkter, als nach unsern Kenntnissen und Vermuthungen: es gab nur Ein Planetensystem, umgeben von einem Himmelsgewölbe, woran die Fixsterne angeheftet schienen. Auch mußte Dante nach philolosophischen Gründen, die bösen Geschöpfte zum Mittelpunkte der Erde, und folglich des Weltalls, wie in ein dumpfes Gefängniß hinabdrängen. Milton, kühner wie seine Vorgänger, hat, so viel ich weiß, zuerst, und Klopstock nach ihm, eine außerweltliche Schöpfung, eine Hölle weit hinaus im Ozean des weiten Raumes angelegt.9 Denn die uralte Sage der meisten Völker wies den Abgeschiedenen im Innern des Erdbodens ihren Aufenthalt an. Vielleicht hat die sehr allgemeine Sitte des Begrabens zur Entstehung derselben mitgewürkt: allein die dunkeln Träume vom Zustande nach dem Tode, die dem Menschen in seiner sinnlichen Einfalt natürlich sind, schickten sich nirgends so gut hin, als in den schauerlichen unerforschten Schooß der Erde. Der Himmel war zu hell und schön, um ihn mit Schattengestalten zu bevölkern;10 er gehörte den Göttern. Und doch erschienen die Todten den Lebenden oft, und bleiben ihnen stets nahe: also mußte der Hades, das nie gesehene Land, unter ihren Füssen liegen. So fabelte die Vorwelt, so beschrieben es die Dichter, altväterisch oder mit vollendeter Ausbildung, und so phantasirt noch jetzt ein gewöhnlicher Aberglaube.

Ich nehme den Faden der Erzählung wieder auf. Die beyden Reisenden gelangen zum Acheron, der den Vorhof von der eigentlichen Hölle trennt, und dessen Ufer die Seelen Gestorbener immerfort, wie abfallende Blätter des Herbstes bedecken. Charon, ein bärtiger Greis mit glühenden Augen11 bringt sie in seinem Boot hinüber, doch kaum hat Virgil seinem Freunde, die traurigen Gegenstände erklärt, die er vor sich sieht, als dieser von der Erschütterung überwältigt, sein Bewußtseyn verliert.

Hierauf begann der düstre Grund zu wanken,
So heftiglich, daß mich das Graun noch jetzt
Mit kaltem Schweiß bethaut bey dem Gedanken.
Ein Windstoß fuhr aus der bethränten Erde,
Und blitzt’ ein rothes Licht mehr ins Feld,
Ich fiel, betäubt und sinnlos, an Geberde
Gleich einem Menschen, den der Schlaf befällt.

Vierter Gesang.

Es riß tiefen Schlaf in meinem Haupte
Ein schwerer Donner, daß empor ich fuhr,
Wie einer, dem Gewalt den Schlummer raubte.
Und aufgerichtet wandt’ ich rings umher
Mein ruhig Aug’, und schaute festen Blickes
Die Stätte zu erkennen, wo ich wär.
Wahr ists, ich fand nunmehr mich an dem Hange
Des quaalenvollen Thals, durch dessen Schooß
Zahlloses Wehe ruft mit Donnerklange.
Umnachtet war es, tief und neblicht, so,
Daß, wie mein Aug’ auch zu durchbohren strebte
Doch unverkennbar alles mir entfloh.
„Laß in die blinde Welt hinab uns wandern,“
So hub der Dichter ganz erblichen an,
„Ich will zum ersten gehn, geh du zum andern!“
Ich, seine Farbe wohlgewahrend, sprach:
Wie solls ergehn, wenn du dich selbst entsetzest,
Der meinen Zweifelmuth zu trösten pflag? –
Dagegen er zu mir: „Die Quaal der Armen
„Hier unten, mahlt nicht, wie du wähnest, Furcht
„In meinem Antlitz, aber wohl Erbarmen.
„Nun komm, weil uns des Pfades Länge drängt!“
So gieng er fort, und hies auch mich betreten
Den ersten Zirkel, der den Schlund umringt.
Allhier, so viel ich hören mochte, tönte
Kein Jammer, außer leise Seufzer nur,
Wovon die ew’ge Luft erbebend stöhnte.

Virgils Wehmuth rührt daher, daß er selbst mit andern guten Heiden, und den ungetauftgestorbenen Kindern (so lehrte die Kirche, der Dante unbedingt gehorcht) diesen Kreis bewohnt, wo man nur durch vergebliches Verlangen nach der ewigen Glückseeligkeit leidet, und wo auch die frommen Erzväter ihre Befreyung durch Christus Höllenfahrt abgewartet haben. Homer und andere grosse Dichterschatten des Alterthums begrüssen ihren Genossen. Eine Helle, die sie erblicken, führt sie in eine schöne Burg mit sieben Mauern, wo Dante die Schatten derer sieht, die sich im Leben durch Thaten oder Lehren ausgezeichnet haben.

Nun lag vor mir das grüne Ruhmgefilde,
Da wurden mir gezeigt die großen Seelen,
Ob deren Anblick stolz mein Muth erschwillt.

Helden und Weisen des Alterthums gesellen sich hier friedlich; doch findet auch Averroes12 neben Aristoteles, dem Fürsten der Schule und andern Griechischen Philosophen, der edle Saladin neben Hecktor und Cäsar seinen Platz.

Man muß gestehen, daß der Dichter, wenn er gleich die Forderungen seines unerbittlichen Glaubens nicht abzuweisen wagte, wenigstens alles gethan hat, was er konnte, um sie mit denen seiner Vernunft in Frieden auszugleichen. Das Loos der edlen Heiden ist erträglich: es besteht in bloßer Entbehrung ohne positive Quaal; und dem Verdienste wird selbst hier noch eine ehrenvolle Unterscheidung zu Theil.

Überhaupt werden in Dante’s Hölle die Menschen durchgängig mit eben den Eigenschaften, auch den guten, dargestellt, die sie in der Oberwelt hatten. Hierinn liegt freylich ein Widerspruch: nur in dem absoluten sittlichen Unwerth eines Menschen kann seine Verdammniß bestehen; und wer noch Tugenden zur Hölle mit hinabnähme, für den würde sie nicht mehr ganz Hölle seyn. Allein aus eben dieser Inconsequenz entspringt der ganze Reichthum des Gedichts an wahr und bestimmt gezeichneten Charackteren; so daß es scheint, als hätte sich der Denker gutwillig von dem Dichter einen Streich spielen lassen.

Böse Geister werden nur selten redend oder handelnd eingeführt, und auch dies ist der künstlerischen Weisheit gemäß. Die Vorstellung von schlechthin bösen und dabey höchst elenden Wesen, an denen der Dichter, so viel an ihm ist, keine Spur von Menschheit erkennen läßt, ist peinigend für das Gefühl, ohne es durch die mindeste wohlthätige Theilnahme zu entschädigen; zugleich gewährt sie weder dem denkenden Geiste, noch der Phantasie mannigfaltigen Stoff zur Unterhaltung. Wenn ein Dichter sich lange bey solchen Darstellungen verweilt, so muß er freylich charakterisiren. Aber wie soll Verschiedenheit der Charaktere da Statt finden, wo die Mischungen von Vernunft und Sinnlichkeit, Kraft und Schwäche, Güte und Selbstsucht wegfallen, woraus sie in der menschlichen Natur entsteht? Er wird es kaum bis zu einem täuschenden Scheine der Nichtidentität bringen können. Er wird den Verstand seines Lesers beleidigen, und dennoch, bey allem Aufwande von Erfindung, ohne den nicht einmal jenes zu erreichen möglich ist, seiner Einbildungskraft keine wahre Gnüge leisten.

Jetzt verlassen Dante und sein Begleiter die Burg wieder und setzen ihre Wanderung weiter fort.

Fünfter Gesang.

So stieg ich aus dem ersten Zirkel nieder
Zum zweyten, der des Raumes minder fasst
Und mehr des Wehes, mehr der Jammerlieder.
Mit furchtbar’m Schnauben stehet Minos dort,
Erforscht beym Eingang jede Sündenschuld,
Entscheidet dann, und schickt durch Zeichen fort.
Ich sage, wennn die unglückseel’ge Seele
Vor ihm erscheint, so beichtet sie durchaus;
Dann sieht der Untersucher aller Fehle,
Was in der Höll’ ihr für ein Platz gebührt.
Sie wird, so oft er mit dem Schweif sich gürtet,
So viele Stufen niederwärts geführt.
Viel stehn da immer; eine nach der andern
Muß ins Gericht vor seinem Antlitz gehen,
Muß reden, hören und hinunterwandern.
„O du, der in die Qualbewohnung bricht:“
So rufte Minos, als er mich erblickte,
Und ließ derweil die Übung seiner Pflicht:
„Schau wem du traust! und laß dich das nicht täuschen,
„Daß sich der Eingang breit und offen zeigt!“
Mein Führer sprach zu ihm! Was soll dein Kreischen?
Du wirst umsonst ihm diesen Gang versagen;
Er wurde dort geboren, wo man kann
Was man nur will; und fürder keine Fragen! –
Nun bin ich hingelangt, wo sich das Chor
Von Klagestimmen läßt von mir vernehmen,
Und viel Gewinsel schlägt nun an mein Ohr.
Hier schweigt das Licht, der dunkle Raum erbrüllt
So wie die See im Sturme, wenn vom Hadern
Feindseel’ger Winde seine Fläche schwillt.
Die Höllenwindsbraut, welche nimmer ruht,
Durchschüttelt, wirbelt die gequälten Geister
Und reißt sie fort mit seiner starken Wuth.
Und wo sie so dem Abgrund nahe schweben,
Da ist Geheul, Geschrey und Weh und Ach,
Da hört man Flüche gegen Gott erheben.
Wie ich erfuhr, sind der Begierden Sclaven,
Von denen die Vernunft in Fleischeslust
Getödtet wird, verdammt zu solchen Strafen.
Wie einen Staarentrupp beym kalten Hauch
Der Herbstluft rasch die Flügel weiter tragen,
So wurden hier vom Sturm die Seelen auch
Hinum, hinan, hinauf, hinab verschlagen;
Sie hoffen, alles Trostes ledig, nie
Auf Ruhe, nicht einmal auf mindre Plagen.
Und wie die Kraniche die Luft entlang
In langen Reihen ziehn, und Lieder krächzen,
So nahten in des Ungewitters Drang
Die Schatten sich mit Winseln und mit Ächzen.
„Wer sind doch jene, Meister?“ sprach ich drob
„Die rastlos in der schwarzen Wolke lechzen?“ –
„Die erste von der Schaar, wovon dein Sinn
„Bericht begehrt,“ erwiederte mein Führer,
„War mannigfacher Sprachen Herrscherin.
„Sie lebt’ in schnöder Wollust ohne Gleichen
„Und macht’ aus ihren Lüsten ein Gesetz,
„Um so erworbner Schande zu entweichen.
„Das ist Semiramis, die, wie wir lesen,
„Dem Ninus nachgefolgt und deren Sitz
„Die Stadt, wo jetzt der Sultan herrscht, gewesen.
„Zunächst ist die, so sich aus Lieb’ erstach,
„Und treulos ward an des Sichäus Asche;
„Kleopatra, die üpp’ge, folgt ihr nach.“ –
Nun sah ich Helena, die arge Zeiten
Der Welt gebrach, ich sah den Held Achill
Der noch zuletzt mit Liebe mußte streiten.13
Ich sahe Paris, Tristan,14 und er wieß
Mit Fingern mir wohl mehr als tausend Schatten,
Die einst die Lieb’ aus diesem Leben stieß.15
Ich sprach: O Dichter! siehst du in der Fern
Die beyden, die vom Winde leicht gehoben
Beysammen gehen? Mit ihnen spräch ich gern. –
Und er zu mir: Schau, wenn sie näher kommen:
Alsdann beschwöre bey der Liebe sie
Die beyde führt, und jene werden kommen.
Sobald der Wind sie her zu uns gekehrt,
Erhub ich meinen Ruf: Gequälte Seelen!
Kommt, sprecht mit uns, wenn es euch niemand wehrt!
Wie Turteltauben mit gelindem Schweben
Der offnen Flügel, wenn zum süßen Nest
Sie Sehnen hinruft, in die Luft sich heben:
So kamen beyde durch die wüste Nacht
Aus jenem Heer, wo Dido war, herüber
So groß war meines Liebesrufes Macht.
„O gütevolles Wesen,16 das mit Hulden
„Uns zu besuchen kömmt, aus jener Welt,
„Die wir mit Blut befleckt, durch unsre Schulden!
„Wär der Monarch des Weltalls unser Freund
„Wir wollten ihn für deinen Frieden bitten;
„Weil unser Elend dich zu jammern scheint.
„Was dir geliebt zu hören und zu fragen,
„Das wollen wir, so lang der Wind wie jetzt
„Sein Schweigen hält, vernehmen und dir sagen.
„Die Stadt die mich gebahr,17 liegt an der Bucht,
„Allwo der Po ins Meer hinuntersteigend
„Mit seinem Flussgefolge Frieden sucht.
„Die Liebe, die ein edles Herz so leise
„Beschleicht, fing diesen durch den holden Leib
„Des ich beraubt ward auf verhaßte Weise.
„Die Liebe, die zum Lohn stets Liebe fodert,
„Ergriff für ihn mit solcher Inbrunst mich
„Daß, wie du siehst, sie stets noch in mir lodert.
„Die Liebe stürzt uns in ein einzig Grab.
„Dem der uns schlug, ist Caina18 bereitet.“ –
Dies war die Rede, die das Paar uns gab.
Als ich vernommen, was der Schatte klagte,
Verneigt ich mein Gesicht und hielts gebückt
Bis mein Begleiter mich: „was denkst du?“ fragte.
Da hub ich an und sprach: „O wehe mir!
„Wie süßes Wähnen, liebliches Begehren
„Trieb in die lezte Noth die beyden hier!“ –
Dann wandt’ ich mich zu reden mit den Armen
Und sprach: Francesca, deine Quaal erregt
Mir bittres Weinen, inniges Erbarmen.
Doch sag mir: in der Zeit der süßen Schmerzen
Wodurch und wie verrieth euch Liebe da
Den noch geheimen Wunsch der beyden Herzen? –
Dagegen sie zu mir: Im Jammerstand
Der seelgen Zeit gedenken, kränkt am tiefsten
Und dies hat auch dein Lehrer19 wohl erkannt
Doch fühlst du ein so sehnliches Bestreben
Zu wissen, wie die Lieb’ in uns entsproß,
So will ich dir mit Thränen Kunde geben.
Mein Trauter las einmahl zur Lust mit mir
Vom Lanzelot, wie ihn die Lieb umstrickte,
Ohn’ alles Arg und einsam waren wir.
Oft irrten unsre Blick’, und unsre Wangen
Verfärbten sich beym Lesen dieses Buchs;
Doch eine Stelle war’s, die uns befangen.
Wir lasen, wie ein Kuß das Bündniß schloß
Den er auf das begehrte Lächeln20 drückte;
Da bot mein unzertrennlicher Genoß
Den ersten Kuß erhebend meinem Munde.
Galotto21 war das Buch, und der es schrieb;
Wir lasen fürder nicht zur selben Stunde.
Der andre Geist, der weil der eine dieß
Erzählte, weinte so, daß meine Glieder
Vor Mitleid alle Lebenskraft verließ;
Und wie ein Todter hinfällt, fiel ich nieder. –

Jedes nicht ganz erstorbene Gefühl muß bey der traurigen Geschichte zweyer Liebenden, die diesen Gesang beschließt, von der tiefsten Rührung ergriffen werden. Aus allen Reden Francesca’s athmet Weiblichkeit, Unschuld, Liebe, Seele, eine zarte Seele der Liebe. In dem öden, dämmernden Schattenleben erinnert sie sich noch so warm und wahr jeder Lockung zu einer Leidenschaft, die sie und ihren Geliebten zum Verderben hinzog; die sie nicht zu entschuldigen strebt, und nicht zu bereuen vermag. Die Geständnisse Francesca’s sind schüchtern und kühn, wie das erste Wort der Liebe; ein schauerlich entzückendes Bewußtseyn jener Gewährungen und ihres Werthes verräth sich in ihnen, und der schnell abbrechende Schluß:

Galotto war das Buch, und der es schrieb;
Wir lasen fürder nicht zur selben Stunde. –

Dieser Schluß mag eben sowohl Fülle des verstummenden Gefühls seyn, als ein Schleyer den die Sittlichkeit wirft. Jedoch paart sich mit der Hingegebenheit des schwachen Weibes unbesingbare Seelenstärke, die dem Tode nicht weicht, und Seeligkeit oder Verdammniß neben dem einzigen Verlangen der Leidenschaft verschwinden läßt. Nur zu der Buße gebräche ihr der Muth, den Urheber und Gefährten ihres Unglücks zu verlassen und der wehmuthsvollen Erinnerung zu entsagen; ihre Liebe ist ewig wie ihre Leiden.

Die äußern Umstände, die mit der Phantasie beyder Liebenden gleichsam verschworen, den entscheidenden Augenblick herbeyführten, sind auf das treffendste gewählt. Einsam, ohne Besorgniß vor Überraschung, lasen sie zur Lust; lasen wie Lanzelot vom See, der untadliche Ritter, um die Minne seiner Königin warb, wie er beglückt wurde, und Genevra (auch sie war vermählt) um ihn ihre Treu verletzte. Der Glanz jener fabelhaften Nahmen verkleidete die Grösse ihrer Schuld, und ach! das verrätherische Buch verschönerte sie wohl gar.

Jede Empfindung oder Leidenschaft wird in uns durch eine Art von Reflexion aus dem Gemüthe anderer, an denen wir gleiche Eindrücke wahrnehmen, verstärkt, und wenn die Gemeinschaft zugleich innig und ausgebreitet ist, beynahe vervielfacht: aber von den weichern Regungen, die den Busen für Mittheilung öfnen, und denen Geselligkeit wesentlich ist, gilt dies ganz vorzüglich. Gewiss sind daher Paolos stumme Thränen neben dem beredten Grame seiner Freundin, und das Mitgefühl Dante’s, sein gänzliches Ermatten unter der Last der Wehmuth, von sehr bedeutender Wirkung, um dem Zuhörer oder Leser das Schicksal jener Beyden noch näher an die Seele zu legen. Ich will dem Herzen des Dichters nicht so sehr zu nahe treten, ihm die Art, wie er seine eigene Theilnahme schildert, für Kunst anzurechnen. Die Kunst hätte wohl eher eine zweyte Ohnmacht, so bald nach jener ersten am Ende des dritten Gesanges verschmäht. Nein, diese Redlichkeit und Einfalt, womit Dante die Geschichte seines Innern während der ganzen Handlung des Gedichts entfaltet, trägt einen Stempel, den nur die höchste Künstlerin, die Natur, aufzuprägen weiß. Beym Eintritt in die Hölle ist es, als hätte er sich gegen den verwirrten Andrang des Schmerzens kaum zu retten gewußt, und zur Betrachtung der empörendsten Verbrechen und schrecklichsten Strafen stählt er sich nur allmählig. Da jene Menschlichkeit, die in den Fehltritten des Einzelnen immer die allgemeinen Gebrechen unserer Natur beklagt, und bey einer Sinnesart, die der Sittlichkeit unbestechlich strenge huldigt, um so mehr Werth hat, ihn überall hinbegleitet; wie stark mußte sie hier wirken? Er sahe die Allgewalt des süssesten Triebes zugleich mit der unglückseeligen Frucht seiner Abweichung vor sich. Vielleicht hatte er die schöne Francesca persönlich gekannt: wenigstens nennt er sie sogleich, ohne ihren Nahmen gehört zu haben; Auch weiß man, daß er an ihrem Vater, Guido da Polenta, in der Verbannung einen großmüthigen Freund hatte, unter dessen gastfreyem Schutze er endlich zu Ravenna sein Leben beschloß. Sollten sie nicht oft mit einander den grausamen frühen Tod der Tochter Guido’s beweint haben?22

In den Stürmen, denen die Verdammten des zweyten Kreises unterworfen sind, erkennt man ein Bild des Zustandes, worein die Heftigkeit der Leidenschaft schon in diesem Leben versetzt. Diese Anspielung auf die unmittelbaren und natürlichen Folgen der Ausschweifungen oder Laster in der Beschaffenheit der Strafen wird im Fortgange mehrmahls angebracht; nur muß man sie nicht überall herausdeuten wollen, sonst verfällt man in Zwang. Minos zu Anfange des Gesanges ist ein dantisirtes Bild aus der Mythologie wie viele andere bey ihm. Solch eine Einbildungskraft konnte nicht umhin, selbst an Geburten der Einbildung ihr unumschränktes Herrscherrecht geltend zu machen. Die Darstellung erinnert fast mehr an das Ungeheuer Minotaurus, als an Minos, den weisen Richter. Vielleicht haben dem Dichter Vorstellungen von beyden verwirrt vorgeschwebt, oder er schmelzte sie absichtlich in eins. Indessen kömmt Minotaurus nachher noch besonders vor. Wie dem auch sey, Michelangelo, der mit Dante’s Ideen überhaupt sehr vertraut war, hat von dieser Stelle Anlaß zu einem beißenden Künstlereinfalle hergenommen.23 Bey einem Besuche, den der Pabst Paul der Dritte bey ihm ablegte, während er an seinem jüngten Gericht arbeitete, nahm der Zeremonienmeister des heiligen Stuhles an den vielen nackten Figuren Anstoß, und ließ sich verlauten: Dergleichen möchte sich eher für ein Badezimmer, als für eine Kapelle schicken. Michelangelo schwieg; sobald aber die Gesellschaft fort war, mahlte er den Kunstrichter als Minos mit einem grossen Schlangenschweif mitten unter einer Gruppe von Teufeln. Ob er sich gleich dabey nur auf sein Gedächtniß verlassen mußte, gerieth doch die Ähnlichkeit vollkommen; und als der Hofbediente sich bey seinem Herrn über diese lächerliche Verewigung beklagte, und auf die Frage: in welchem Theil des Gemäldes Michelangelo ihn hingestellet? gestehen mußte: Leider in die Hölle! – „Sehr übel, Messer Biagio!“ erwiedert der Pabst; „sehr übel. Vielleicht hätte sich etwas thun lassen, um Sie dem Fegefeuer zu entreissen; aber aus der Hölle – nulla est redemtio!“ Ein Scherz, der beynahe profan heissen könnte, wenn er nicht von einem Pabste herrührte, aber der Ernst, den er einkleidet, verdient Beyfall. Paul der Dritte wußte also selbst den Muthwillen großer Talente zu schonen, und was bey Hofe selten der Fall ist, ein Hofmarschall galt ihm weniger als ein Künstler.

In den nächsten drey Kreisen, die unser Dichter durchwandert, sieht er die Bestrafung der Schwelger, die unter ewigen kalten Regen, Schnee und Hagel in Schlamme versunken liegen; der Geitzigen und Verschwender (unter jenen bemerkt er viele Geistliche, selbst Kardinäle und Päbste) die in entgegengesetzter Richtung schwere Lasten wälzen, und jedesmahl, daß sie damit zusammenstossen, wechselseitig die Thorheit der unähnlichen Brüder verhöhnen; der Jähzornigen, die tief im sumpfigen Wasser des Styx immerfort sich selbst oder andere wüthend zerfleischen. Beym Eintritte in jeden dieser Kreise droht oder wehrt ihm ein Ungeheuer, ein Teufel mit einem mythologischen Nahmen, wie vorhin schon Charon und Minos gethan hatten: erst Zerberus mit drey Kehlen, dickem Bauch, triefenden Augen, ein Bild der Gefräßigkeit; dann Plutus, der Dämon der Reichthümer; endlich Flegyas, den, nach der Fabel, Rachsucht getrieben hat, sich an dem Heiligsten zu vergreifen.23 Alle drey, werden so wie jene, durch Virgils Zureden besänftigt. Solch eine Symmetrie liebt Dante überhaupt in seinen Erfindungen. Flegyas fährt beyde Reisende in seinem Nachen über den Styx, welcher fast die ganze Breite des fünften Kreises einnimmt, und die schon von fern an ihren glühenden Thurmspitzen sichtbare Stadt Dis umfließt. Sie landen am Thore; tausend böse Geister brechen hervor, und weisen Dante als einen noch Lebenden zurück. Virgil möge hereinkommen, und jenen allein den Rückweg finden lassen. Nach einem geheimen Gespräch mit Dante’s Führer, der sie zur Nachgiebigkeit zu bewegen sucht, ziehen sie sich eilend in die Stadt, schliessen die Pforte, den einzigen Eingang zu den untern Bezirken der Hölle, hinter sich, und verlassen beyde in der quälendsten Verlegenheit. Doch heißt Virgil seinen Freund auf die nahe Ankunft eines Retters vom Himmel hoffen.

Neunter Gesang.

Die Farb’, womit mich Zagheit überdeckte,
Ward mein Begleiter kaum an mir gewahr,
Als er die eigne Bläße schnell versteckte.
Aufmerksam sah ich ihn und horchend stehn,
Weil durch die schwarze Luft, den dichten Nebel
Sein Auge rings nur wenig konnt’ erspähn.
„Wir müssen dennoch siegen im Gefechte,“
Sagt er; „wo nicht – Verhieß sie uns nicht so?24
„O daß doch er25 nicht länger weilen möchte!“
Ich merkte deutlich, wie er den Beginn
Der Rede plötzlich abbrach, und vertauschte
Mit andern Worten von verschiednem Sinn.
Und was er sagte, gab mir dennoch Sorgen:
Mir schien vielleicht in dem zerrißnen Spruch
Ein schlimmer Sinn, als würklich war, verborgen.
„Steigt jemals einer aus dem ersten Grade,
„Wo nur Vernichtung aller Hofnung straft,
„Hinab an dieses grausere Gestade?“
So fragt’ ich ihn; er sagte: „Selten nur
„Geschah’s, daß auf dem Pfade, den ich wandle
„Von uns da droben einer nieder fuhr.
Wahr ist, ich bin hier einmahl schon gewesen,
Erichtho’s Zauber,26 der die Schatten oft
Zurück in ihre Leiber zwang, zu lösen:
Der Hüll’ entnommen war ich kurz zuvor,
Da trieb sie mich um einen Geist herauf
Aus Judas Kreis27 zu bannen, durch dies Thor.
So tief, so dunkel ist kein andrer Ort,
So fern vom Himmel, der das All’ umkreiset.
Ich weiß den Weg: dies sey dein Trost und Hort.
Der Sumpf aus dem die argen Dämpfe hauchen,
Umgiebt ringsum die qualenvolle Stadt,
Wo wir Gewalt um einzudringen brauchen.
Er sprach noch mehr, doch schwebt mirs nicht im Sinne;
Mein Auge hatte ganz mich weggerückt
Zum hohen Thurme mit der glühnden Zinne.
Schnell aufgerichtet sah’ ich dort alsbald,
Drey Höllenfurien mit Blut besudelt
Von weiblicher Geberdung und Gestalt.
Umgürtet waren sie mit grünen Nattern
Und Schlangenbrut und Ottern, statt des Haars,
Sah’ ich um ihre wilde Schläfe flattern.
Er kannte wohl der Sclavenweiber Schaar
Die die Monarchin ew’ger Pein28 bedienen
„Nimm, sagt er, dort der grimmen Furien wahr!
„Tisifone steht in der Schwestern Mitte,
„Es heult Alekto ihr zur rechten Hand,
„Megära heißt zur Linken dort die Dritte.“
Die Brust zerriß sich jede mit den Klaun
Sie schrieen laut und schlugen sich mit Fäusten;
Des drängt ich mich dem Dichter an vor Graun.
Sie sahn herab, und huben an zu sprechen:
„Medusa komm! Ersteinen soll er hier.
„Wir wußten Theseus Anfall wohl zu rächen“29
„Steh weggewandt und hüll’ dein Antlitz ein!
„Wenn sich die Gorgo zeigt und du sie siehest
„So wird’s geschehn um deine Rückkehr seyn! –“
Der Meister sprachs, und war, mich abzuwenden
Voll rascher Eil, verließ sich nicht auf mich
Und deckte mein Gesicht mit beyden Händen –
O Menschenkinder, die ihr Weisheit übt!
Schaut an die Lehre, der in diesen Reimen
Die seltne Dichtung ihren Schleyer giebt! –
Und schon kam hallend auf den trüben Wogen,
So daß das Ufer rinas erschüttert ward,
Ein furchtbar Tosen zu uns her gezogen.
So, wenn’s der schwülen Hitz’ entgegen stürmt,
So rauscht der Gang des ungestümen Windes,
Vor dessen Schlägen nichts die Waldung schirmt.
Die Äste splittert er, zerstäubt die Blüthen,
Staubwolkig wallt er seinen stolzen Gang,
Daß Vieh und Hirten fliehn vor seinem Wüthen. –
Nun ließ er mir die Augen frey: „Wohlan!
„Dort, wo der Dampf sich auf dem alten Schaume
„Am dicksten regt, mach deiner Sehkraft Bahn!“
Wie Frösche plötzlich da und dorthin schlupfen
Wenn sich ihr Feind, die Wasserschlange naht,
Bis sie hervor ans Land geklammert hüpfen;
So sah ich tausend bange Seelen fliehn
Vor einem, der mit unbenetzten Fersen
Des Styx Gewäßer zu betreten schien.
Er trieb den feuchten Dunst, der überschattet
Sein Antlitz hielt, oft mit der Linken weg,
Und schien allein durch diese Last ermattet.
Und weil er mir ein Himmelsbote dünkte;
So wandt’ ich mich zum Meister, welcher mir
Zu schweigen und mich tief zu bücken winkte.
Ha! wie so zürnend war sein Blick und Gang!
Er trat zum Thor und rührt’s mit einem Stabe:
Da that sich’s auf und jeder Riegel sprang.
„O du vom Himmel ausgestoßne Rotte!“
So rief er von der furchtbar’n Schwell herab,
„Was willt du doch mit solchem Frevelspotte?
„Was hilfts die Stirne gegen den empören
„Des Wille nie sein Ziel verfehlen kann
„Der dir schon oft die Plagen ließ erschweren?
„Was strebst du gegen das Verhängniß doch?
„Es trägt davon, wenn du dich recht besinnest
„Dein Zerberus die kahle Gurgel noch!“30
Dann wandt’ er sich, ohn’ uns ein Wort zu sagen
Zum Sumpf zurück, und war so anzusehn,
Wie einer, welchen andre Sorgen nagen,
Als um die Menschen, welche vor ihm stehn,
Und wir nun sicher, nach der heil’gen Rede
Erhuben uns, um in die Stadt zu gehen. –

Diese Feste Pluto’s, ihre eiserne Mauern, die Furien als Thorwächterinnen, sind aus der Äneide entlehnt. Indessen wird man bey der Vergleichung bemerken, daß Dante nie ganz der Spur fremder Ideen folgen konnte. Sein Hinweisen wie mit Fingern auf das Sinnbildliche der Erzählung (O Menschenkinder, die ihr Weißheit übt, u. s. w.) sollte wohl eigentlich ihren Eindruck schwächen: Medusa kann schwerlich viel Schrecken erregen, wenn man weiß, daß sie nur eine Redefigur ist. Zum Glücke trift es sich, daß Dante – er thut es noch sonst einige Mahle – gerade seine unergründlichsten oder willkührlichsten, also mislungensten Allegorien mit einer solchen Aufforderung an den Leser begleitet.

Durch die Unmöglichkeit, die versteckte Bedeutung zu entziffern, wird die äußere Darstellung wieder in ihre Rechte eingesetzt. In der That sind alle Bemühungen der Ausleger über diese Stelle sehr unbefriedigend. So hat sich denn hier das Unbegriffne, vielleicht gegen des Dichters Willen, dem Furchtbaren zugesellt: eine schickliche Vereinigung, weil beydes gleichartig würkt und unsere geistige Natur vor jenem, wie der sinnliche Mensch vor diesem schauert.

Durch die grossen zu übersteigenden Schwierigkeiten und Gefahren wird Dante’s Reise, die sonst nur das Interesse der Belehrung haben würde, handelnder und reicher an epischer Anziehungskraft. Der Widerstand der Daemonen, ob ihnen gleich Virgil en göttlichen Willen bekannt gemacht hat, ist wahrscheinlich und ihrer Natur gemäß. Hieraus entsteht eine Verwickelung, die einen höhern Entscheider nothwendig macht. Die Erscheinung des Engels ist also kein eitles Prachtstück, wie so mancher Dichter seine Götter auf unnütze Botschaften sendet, den Kunstrichtern zu gefallen, denen es nun einmal im epischen Gedicht an bloßen Menschen durchaus nicht genügt. Es ist sonderbar genug, daß man aus dem Glauben der Vorwelt an die beständige Einmischung höherer Wesen in die Angelegenheiten der Menschen, welcher allerdings die damahligen Sänger sehr begünstigte, ein Gesetz, ja sogar ein unterscheidendes Merkmahl der epischen Poesie für alle Zeitalter abgeleitet hat. Seit jener Glaube verschwand, sind die Maschinen der Epopöe (so heißt das Kunstwort) Das Steckenpferd des Kunstrichters und die Krücke des Dichters geworden. Wohin soll dieser sich um Ausfüllung der Mängel wenden? Die erwachsene menschliche Vernunft hat gelernt, die Verkettung der Ursachen bis zur höchsten Einheit hinauf zu verfolgen. Nach ihren geläuterten Vorstellungen liegt die Vorsehung im allgemeinen System der Naturgesetze, nicht in besondern Eingriffen darein, um dieses oder jenes Zwecks willen. Unsere Religion heißt uns zwar an Wunder glauben, denn sie ist selbst ein Wunder; aber nur an solche, die auf ihre eigne Grüdnung und Bestätigung Bezug haben. Dies berechtigt uns also nur bey Gedichten religiösen Innhalts, die Handlung unmittelbar durch himmlische Mächte lenken zu lassen. Überdies läßt eine so genau bestimmte Dogmatik wie die unsrige, wenig Spielraum für die Erdichtung übrig. Die Griechische, wie jede ursprüngliche Volksreligion, war aus Träumen der Phantasie entstanden, an denen sich künstlerische Willkühr immerhin alles erlauben mochte. Sie war Poesie. Der Dichter nahm also, wenn er sie gebrauchte, nur sein Eigenthum zurück. Nach ihren Mythen und Sagen gab es viel Gesetzlosigkeit im Himmel und auf Erden. Die Unterordnung und Eintracht der höhern Kräfte war sehr unvollkommen; doch gehorchten auch die mächtigsten unter ihnen dann und wann einem unerforschlichen Verhängniß. Dieses Gewirr ist der Poesie, deren Element rastloses Bestreben und Ringen der Wesen ist, willkommen: sie verstummt vor einer allzu geregelten Ordnung der Dinge.

Zu den Schwierigkeiten der Erfindung für den christlichen Dichter, wenn er sein Epos nicht auf den Kreis der Menschheit beschränken will, gesellen sich Schwierigkeiten der Darstellung: er mag nun Gott selbst oder die guten und gefallnen Engel zur Mitwürkung herbeyrufen. Das Wesen der Wesen redend und handelnd einführen,31 den unendlichen Geist den engen armseligen Formen unserer Psychologie unterwerfen, ist ein Wagstück, wobey man sich vergeblich auf das Beyspiel der heiligen Bücher beruft. Was der Wahrheit erlaubt ist, gilt darum nicht sofort für die Erdichtung. Die Engel dürfen wir zwar nach menschlicher Analogie schildern, allein es bleibt immer schwer, mit der Vorstellung von fehlerlosen Wesen, welchen vertrautes Anschaun der Gottheit alle Triebfedern des Handelns und gleichsam ihr unmittelbarer Odem die Kraft dazu leiht, die von einem individuellen freyen Willen zu vereinbaren. Unstreitig sind ihnen die Teufel, die Feinde Gottes seinen Dienern, an Spontaneität überlegen, wenn sich nicht andre Rücksichten der Darstellung des schlechthin sittlich Verderbten widersetzten.

In der göttlichen Komödie geht bis auf das Eine große Wunder, daß Dante noch lebend die Höhen und Tiefen jenseits der Sterblichkeit durchwandern darf, das Meiste natürlich zu; nehmlich den Gesetzen derjenigen Welt, wo jedesmal die Szene liegt, gemäß. Die wichtigsten handelnden Personen sind Menschen. Dante selbst, Virgil, Beatrice. Ob sich der Umfang des Gedichts gleich über alle Geisterklassen, als Gegenstände der Betrachtung verbreitet, so tritt doch selten einer aus ihnen dramatisch auf. Unmittelbare Wirksamkeit Gottes wird nur hier durch die Sendung des Engels, und ein andres Mahl durch die Erhörung eines Gebets angedeutet.

Fast immer sind Heldenthaten der Engel von sehr zweydeutigem Werthe. Was haben sie zu befahren, da ihr ätherischer Körper kaum irgend einem physischen Angriffe verletzbar ist, und ihrem geistigen unsterblichen Daseyn viel weniger etwas Leides geschehen kann? Sollten sie einmal auf eine überlegene Macht der Bösen treffen, so steht ihnen am Ende ihr allmächtiger Bundesgenosse für alles. Es ist freylich kein geringes sich allein, ohne körperliche Waffen,32 nur mit furchtbaren Worten gerüstet, Gegen die ganze Macht der Hölle zu stellen, und ihre Pforten zu sprengen, die vielleicht von jeher, vermuthlich weil die Todten nie wieder ins Leben zurückkehren, für ein Sinnbild unerschütterlicher Festigkeit gegolten haben. Dennoch ist es weniger die That, als die Art, wie sie geschieht, die Würde des großen Ungenannten, was Bewunderung erregt und verdient. Sein Gang ist Entscheidung. Achtlos auf die Wirkung seiner Ankunft, die Erschütterung der Unterwelt, die Angst und Flucht der Verdammten, ist er einzig auf die Vollbringung seines Auftrages geheftet. Kaum hat er ihn ausgeführt, so wendet er sich weg, ohne für Dante und Virgil, um derentwillen er doch gesandt worden, auch nur ein Wort, nur ein Blick übrig zu haben. Es giebt eine erhabene Kürze im Thun wie im Reden. Es ist wahrhaft groß, nach einer erstaunlichen That sich nicht anders zu fühlen, als wenn man ein gewöhnliches TagesGeschäft verrichtet hätte.

Den sechsten Kreis, der sich innerhalb der Stadt an den Mauern herumzieht, findet Dante voll offener glühender Särge, in deren jedem ein Ketzer büßt. Hier kömmt er mit zweyen seiner Landsleute, Farinata und Cavalcante Cavalcanti in eine Unterredung, die einige Bekanntschaft mit den Personen voraussetzt.

Farinata,33 einer der edelsten und berühmtesten Bürger des freyen Florenz, lebte im nächsten Menschenalter vor Dante. In einem Aufstande des vielleicht durch die Herrschbegierde seines Hauses gereitzten Volkes wurden mehrere Uberti umgebracht, und er sammt allen Gibellinen aus der Stadt verjagt. Sie fanden Aufnahme und Schutz zu Siena. Einige Zeit darauf wurden die Florentinischen Guelfen durch List nach Val d’ Arbia, nahe bey Monte Aperto gelockt, und von den Vertriebenen, den Sienern, und einigen Hülfstruppen Manfrieds, des wakern Bastards von Hohenstaufen, angegriffen, (am 4ten Sept. 1260). Sie erlitten eine schreckliche Niederlage, und da Farinata’s kühne Klugheit in diesem Gibellinenbunde die Seele aller Anschläge war, so gebührt ihm der Ruhm, oder ihn trift der Vorwurf einer Schlacht, worinn viertausend seiner Mitbürger, nicht gemietheter Soldaten, das Leben verlohren. Hierauf geschah bey einer Versammlung der Toskanischen Städte und Barone Gibellinischer Parthey zu Empoli, der Vorschlag, Florenz ganz zu schleifen, und die Einwohner in die umliegenden Flecken zu vertheilen, damit es nie wieder ein Vereinigungspunkt der Guelfen werden könnte. Man ruft laut und einstimmig Beyfall, nur Farinata redet mit glühendem Eifer dargegen. In der rauhen Beredsamkeit des Zeitalters bietet er alle vaterländische Sprüchwörter auf, um seine Gründe zu bekräftigen,34 endlich greift er an sein Schwerdt, und schwört: Wenn er auch ganz allein stünde, so lange er noch einen Tropfen Bluts zu vergiessen habe, solle niemand Florenz vernichten dürfen. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß ohne ihn diese Stadt sich nur noch in den Italiänischen Alterthümern finden würde. Nie sollten wir also eine schöne Geistesblüthe des neuern Athen, – so heißt Florenz mit Recht wegen der Feinheit seiner Sprache, der Aufgewecktheit seiner Köpfe, und einst auch wegen seines rastlosen Demokratensinnes – geniessen oder bewundern, ohne dem Schatten Farinata’s degli Uberti zu huldigen. Die obigen Züge von ihm beweisen, daß er etwas mehr war, als ein selbstsüchtiger Partheyenführer, an dem nur Schlauheit oder stürmender Muth gepriesen wird. Der Mann, in dessen Brust, die fürchterliche, verderbliche Wuth eines Bürgerkrieges die Flamme der Vaterlandsliebe nicht erstickte; der nicht um gemeine Befriedigungen rettete oder zerstörte, sondern nach dem innern Gebot seiner Seelengröße: der Mann könnte fast für einen verspäteten Römer gelten. Allein Florenz haßte oder vergaß, wie oftmahls Rom, die Wohlthat eines so gefährlichen Bürgers, und bey den Amnestieen, welche den vertriebenen Gibellinen nach den Siegen der Guelfischen Parthey heimzukehren erlaubten, blieben lange nachher noch die Uberti ausgeschlossen.35

Ohne sich auf einen Platz in der Geschichte Ansprüche zu erwerben, wie sein Mitburger Farinata, genoß Cavalcante Cavalcanti aus einem alten und angesehenen Geschlechte, die Achtung seiner Zeitgenossen. Auf die Nachwelt ist sein Nahme mehr durch seinen Sohn Guido Cavalcanti, als durch ihn selbst gekommen. Guido war unter den zahlreichen Vorgängern unsers Dichters und Petrarca’s einer der zartesten Liebessänger, von dem auch vorzüglich viele Gedichte auf uns gekommen sind. Er war ein genauer Freund Dante’s, sie wechselten oft in dichterischem Wetteifer Sonette mit einander. Haben sein Vater und Farinata würklich unter die Läugner der Unsterblichkeit gehört, bey welchen Dante sie in der Hölle antrift (und schwerlich konnte er über ihre Denkart irren) so zeigt diese Abweichung an Republicanern und Helden des dreyzehnden Jahrhunderts, wo nicht von ausgezeichneter Stärke, doch gewiß von eigenthümlicher seltner Wendung des Verstandes.

Dante folgt seinem Begleiter auf einem Pfade zwischen den Mauern und Särgen hin, als eine fremde Stimme ihr Gespräch unterbricht:

„Toskaner! der du durch die Stadt der Gluten
„Noch lebend gehst und so gefüge sprichst,
„Laß etwas hier zu weilen, dir gemuthen!
„Denn deine Sprache macht dich offenbar
„Als bürtig aus dem edlen Vaterlande
„Dem ich vielleicht einst allzulästig war.“
Urplötzlich scholl aus einem von den Särgen
Solch eine Stimm’; ich suchte mich deshalb
Voll Furcht an meines Führers Näh’ zu bergen.
Er sprach: Was säumest du, dich umzudrehn?
Schau! dort hat Farinata sich erhoben.
Vom Gürtel aufwärts wirst du ganz ihn sehn. –
Ich heftete den Blick auf seine Stirne:
Er reckte Brust und Angesicht empor
Als ob er trotzig ob der Hölle zürne.
Und muthig stieß mit raschem Ungestüm
Mein Führer mich hinan durch all die Grüfte,
Und sagte: Rede sonder Hehl zu ihm! –
Als ich nun stand an seines Grabes Fuß
Und er mich stolz ein Weilchen angeschauet:
„Was hattest du für Ahnen?“ war sein Gruß.
Gern dem Gebot des Meisters unterthänig
Verschwieg ich’s nicht und thät ihm alles kund.
Darob erhob er seine Brau’n ein wenig,
Und saget dann: „Sie waren bitter gnug
„Mir, meinen Ahnen, meinem Bund gehaß.36
„So, daß ich zweymahl in die Flucht sie schlug.
„Und waren sie verbannt, sie kehrten immer“
Erwidert’ ich „von allen Seiten heim,
„Die Euern37 lernten diese Kunst noch nimmer!“
Derweil erhob sich sichtbar bis ans Kinn
Dem Sarge neben ihm ein andrer Schatte,38
Ich glaub’ er lag auf seinen Knien drin.
Er blickte rings mich an, als wärs ihm wichtig
Zu wissen, ob noch jemand bey mir sey;
Doch bald befand er seinen Argwohn nichtig.
Und jammerte: Wenn durch dies Nachtrefier
Dir hoher Geist und Witz die Wege bahnet:
Wo ist mein Sohn? Weswegen nicht mit dir? –
„Ich komme nicht aus eigner Kraft und That.“
Sagt’ ich zu ihm; „dort wartet mein Begleiter,
„Den euer Guido wohl verachtet hat.“
Schon hatt’ ich seinen Nahmen mir gedeutet
Aus seiner Stadt und aus dem Ort der Quaal,
Drum war ich so zur Antwort vorbereitet.
„Wie?“ rief er plötzlich starr emporgericht’t;
„Er hat, sagst du? So lebt er denn nicht mehr?
„Sein Aug’ entbehret schon das süße Licht?“
Und als er sahe, daß ich sinnig stand,
Und zauderte, den Zweifel ihm zu lösen,39
Da fiel er rücklings nieder und verschwand.
Doch jener Hochgeherzte, dem zu dienen
Ich dageblieben war, stand unbewegt,
Bog nicht den Hals, verzog auch nicht die Minen!
„Und wußten sie so wenig diese Kunst,“
So fuhr er fort im vorigen Gespräche,
„Das quält mich mehr als dieses Lagers Brunst.
„Allein, es wird nicht funfzigmahl entbrennen
„Das Angesicht der Frauen, die hier herrscht40
„So wirst schon dieser Kunst Beschwerde kennen.
„Doch sage mir, so du die schöne Welt
„Noch mögest wieder sehn, warum den Meinen
„Dies Volk so hart in jeder Satzung fällt?“
Drauf ich zu ihm: Seit jenes grosse Morden
Die Arbia41 geröthet, ist bey uns
Im Tempel solche Predigt Sitte worden –42
Er aber seufzend schüttelte sein Haupt
Dort war ich nicht allein, und traun! ich hätte
Mir diese That nicht ohne Grund erlaubt.
Doch da wo alle willig leiden mochten
Daß man Florenz vernichte, war’s nur ich,
Nur ich allein, der kühnlich sie verfochten.

Unser Dichter besitzt die Zauberkunst, einen tiefen Charakter, und in dem Charakter des Mannes den seines Jahrhunderts mit so wenigen Zügen zu fassen, und an beyden die innerste Eigenthümlichkeit zu offenbaren. Solche Menschen, aus deren Thaten, auch den verheerendsten, immer noch ein freyes, heroisches, unwandelbar-selbstständiges Wollen hervorleuchtete, die bey gewaltigem Nachdruck der Leidenschaften die einfachste, ruhigste Fassung bewahren, wie dieser stolze Florentiner; solche Menschen trug Italien damahls: aber der Sinn, der so etwas rein und ganz wie es ist, erkennt, wurde von jeher äusserst wenigen zu Theil. Die Natur ist zu zurückhaltend mit ihren Geheimnissen, wie verschwenderisch mit ihren Gaben, man möchte ihr fast Eifersucht auf die vertraute Bekanntschaft mit ihren Lieblingen Schuld geben. Hoheit der Seele verschmäht es, sich selbst zu untersuchen und zu beklügeln. Sie ist oft von einem wunderbaren Unbewußtseyn begleitet, welches sie gewißermaßen auch von ihren Darstellern fordert. Wenigstens wird nicht leicht ein Geschichtschreiber, Künstler oder Dichter durch bloße Bestrebungen des Verstandes, ohne jenes heilige Ahnungsvermögen sich ihr nähern.

Die Zusammenstellung mit dem andern Schatten, dessen Schwäche Farinata’s mannhafte Festigkeit um so viel abstechender hervorhebt, ist, wenn auch ein Werk der Überlegung, doch ein kühner und treffender Gedanke. Schauerlich ist die ganze Episode von Cavalcanti, sein Kauern im Sarge, sein Schrecken über den vermeinten Tod seines Sohnes, sein markloses Hinfallen. Das bange Gespenst scheint zum zweyten mahle zu sterben, während Farinata so wenig dadurch irre wird, als ob eine Fliege neben ihm umkäme.

Die Verdammniß dieser beyden theilt unter andern auch der teutsche Kaiser Friedrich der Zweyte. Es ist schwer zu bestimmen, ob ihm die Bannflüche und Anklagen der Päbste,43 oder das berüchtigte Buch: von den drey Betrügern, dessen mittelbarer oder unmittelbarer Urheber er gewesen seyn soll, oder unbesonnene Spöttereyen, oder eine seinem Jahrhunderte weit vorauseilende, freye Denkart zu diesem vielleicht ehrenvollen Platz verholfen haben. Da der Gibelline mit einem ruhmwürdigen Kaiser so übel umgeht, so darf es nicht befremden, daß er sogar einen Pabst, Anastasius den Zweyten, trotz seiner Unfehlbarkeit unter die feineren Ketzer verweiset. Indessen hat den Verfechtern der Römischen Kirche, Baronio und Bellarmin, Dante’s Ansehen wichtig gnug geschienen, um die Beschuldigung mit ernstem Eifer zu widerlegen.

Vor dem Hinabsteigen in dem innern Abgrund giebt der Begleiter des Dichters diesem einen summarischen Begrif von der Einrichtung der Hölle, und von ihren verschiedenen Bewohnern, die nach einem Eintheilungsgrunde aus der Ethik des Aristoteles geordnet sind.

Zügellosigkeit der Leidenschaften ist weniger strafbar als eigentliche Bösartigkeit. Die vielerley Laster, welche aus jener entspringen: Wollust, Schwelgerey, Ausschweifung im Gebrauche der Güter, also Geitz oder Verschwendung; endlich Jähzorn; büßen insgesammt in den obern, auf die Vorhöfe der Hölle folgenden Kreisen. Böses wird ferner durch Gewalt oder List verübt. List verdient überhaupt strengere Misbilligung als Gewalt, weil sie auf einem Misbrauche der dem Menschen eigenthümlichen Vorzüge beruht.44 Die allgemeine Pflicht der Redlichkeit gegen alle brechen, ist hinwiederum weniger schändlich, als die mit uns durch näheres Zutrauen verbundenen verrathen. Dem zufolge sind drey Kreise innerhalb der Stadt des Dis, jeder mit seinen Unterabtheilungen für Gewaltthätige, für Betrüger, für Verräther bestimmt. Weil Gewalt, gegen den Nächsten, den Thäter selbst und Gott gerichtet seyn kann, so theilt sich der Kreis der Gewaltthätigen in drey schmälere Zirkel auf derselben Fläche: im äußersten wird Raub und Mord gestraft; im mittlern Selbstmord und sonstige Zerstörung eignen Glückes; im letzten Gotteslästerung, unnatürliche Wollust und Wucher, den Dante durch Spitzfindigkeiten der Schule zum Verbrechen gegen die Natur und also mittelbar gegen die Gottheit macht. Ferner nimmt er sehr willkührlich zehn Unterarten des Betrugs an: Verführung; Schmeicheley; Simonie; falsche Wahrsagerey; Gaunerey, besonders Bestechlichkeit;45 Heucheley; Dieberey; Missbrauch des Scharfsinnes zu Erfindung schlauer Ränke; Zwietrachtstiften; Verfälschung. In der untersten Fläche der Hölle endlich läßt er vier Bezirke einander anschliessen, deren Nahmen: Kaina, Antenora, Tolommea, Guidecca, von Beyspielen des Verraths an Blutsverwandten, an Freunden oder Schutzgenossen oder Wohlthätern, ihrer Bestimmung gemäß abgeleitet sind. Zwischen den blos ausschweifenden und den eigentlichen Verbrechern schaltet er, wie wir schon gesehen haben, die Ketzer ein, über die ihm Aristoteles schwerlich viel Auskunft gab.

Wer könnte nun wohl von diesem Gerippe auf die lebendige, kraftvolle Bekleidung, von dieser scholastischen Tabelle auf ein Gedicht voll hoher Einfalt und freyer Naturgrösse schliessen? Und wer (so läßt sich eben die Frage allgemeiner fassen) würde unter den Finsternissen des dreyzehenden Jahrhunderts einen Dante vermuthen, wenn das Werk, das von ihm zeugt, nicht vor seinen Augen stünde? Unabhängig von fremden Einflüssen sieht man ächten Genius öfter, weil er meistens seinen Gang unbekümmert bey ihnen vorübergeht; allein so auffallend, wie in Dante’s Überlegenheit über das, warum er sich selbst bewarb, über den Ideenkreis, worein er sich doch selbst forschend vertiefte, erscheint das unvermischte Nebeneinanderseyn des Erlernten und Unerlernbaren fast nie. –

Die Fortsetzung folgt.

1 Siehe Bürgers Akademie der schönen Redekünsten IIItes Stück, wo der Verfasser dem Publikum den ersten Versuch seiner Darstellung des Dante vorlegte, die hier vollendet erscheint. D. H.

2 Ein geistreicher Schriftsteller, der Abbate Bettinelli hat ihn wirklich in seinen Lettere die Virgilio agli Arcadi diese Rolle spielen lassen, und ihm viele spottende Kriticken über Dante und andern Italiänische Dichter in den Mund gelegt, zu deren Widerlegung ein ebenfalls lebhaft geschriebenes Pamphlet: Giudicio degli antichi poeti sopra la moderna sensura die Dante, da Gasparo Gozzi erschienen ist.

3 Dieser seinem zweyten Briefe an die Korinther (XII. 2-4) jener dem sechsten Buche der Äneide zufolge. Wunderbar zusammen gestellt! Oder errieth der Dichter etwas von einer Analogie zwischen fabelnder Dichtung und schwärmerischer Extase?

4 S. Bettinelli Risorgimento delle arti et degli studj. T. I. p. 193. 194.

5 Nehmlich die reinen Geister und die gleichfalls unvergänglichen Sphären, deren Schöpfung, nach Dante’s Kosmologie, der des Menschen und der übrigen organischen Naturen, lange vorhergieng.

6 Ihr Sinn ist mir zu schrekensvoll, da sie auch mir, der ich nur hindurchreisen will, die Unmöglichkeit eines Ausweges anzukündigen scheinen.

7 P. Giambullari Academico Fiorentino el fito forma e misure dello inferno di Dante. Firenze. 1544. Ich finde auch einen Dialog von Bonivieni erwähnt.

8 Man sehe Vasari Vite de pittori. T. I. p. 115. 118. 168. (Ed. Del. Bottari) im Leben des Andrea Oryagna und Taddeo Bartoli. Von einem Schnitzwerk, welches gleichfalls die Hölle nach Dante vorstellete. p. 470.

9 Man sehe Paradise lost vorzüglich im ersten und zweyten Buche, und den Meßias (Altona 1780. 8. S. 35. 36.)

10 Ossians Geistererscheinungen, wenn sie anders alt und ächt sind, machen hiervon eine Ausnahme, die man vielleicht aus den düstern Wolken und Nebeln seines Himmelstriches erklären muß.

11 Virg. Aen. VI. 299. 300.
cui plurima mento
Canities inculta jacet; stant lumina flamma.

12 Er muß ihn also nicht wie einige neuere Gelehrte für den Verfaßer einer Schmähschrift gegen Moses, Christus und Mahomet gehalten haben. Man sehe Brucker Hist. Crit. Phil. T. III. (Lips. 1766) p. 166.

13 Vermuthlich ist nicht Deodamia, oder Briseis, sondern Polyxena unter dem Gegenstande dieser Liebe gemeint.

14 So hetrogene Nahmen neben einander dürfen uns nicht befremden. In der Vorstellungsart des Mittelalters verwandelten sich die Griechischen Heldenfabeln in Ritterromane. Noch bey Shakespearn findet man den Herzog Theseus und dergleichen mehr.

15 Auch in der Äneide nehmen die Schatten, welchen Liebe den Tod zugezogen hat, einen eignen Wohnplatz, nicht weit vom Eingange des Orkus ein. Aen. VI. 440. seq.

16 Der weibliche Schatten Francesca’s da Polenta redet. Sie war mit Lanciotto, Sohn des Herrn von Rimino, einem mächtigen und tapfern Ritter vermählt. Allein er war lahm und ungestalt; sein Bruder Paolo, schön, edel, und von milden Sitten, sah seine Schwägerin oft, und es entspann sich ein Verständniß unter ihnen, welches damit endigte, daß Lauciotto sie einst überraschte und beyde ermordete.

17 Ravenna.

18 Der Wohnsitz verrätherischer Mörder ihrer Blutsfreunde im untersten Kreise der Hölle.

19 Virgil; Anspielung auf eine Stelle seiner Gedichte, worüber die Ausleger nicht einig sind.

20 Il defiato riso: kühn, statt des lächelnden Mundes, den er zu küßen wünschte.

21 So hieß der Vermittler zwischen Lanzelot und Genevra, dessen Nahme damals zum Sprüchworte geworden war.

22 Nach der Beschäftigung mit so traurigen Gegenständen sey es mir erlaubt aus einem Französischen Buche: Vie de Dante avec une notice détaillée de ses ouvrages par Mr. Chabanon eine Probe als zerstreuende Unterhaltung mitzutheilen.

Un jour de Lancelot l’amoureuse avanture
Occupoit nos loisirs, charmoit notre lecture:
En lisant le récit de ses heureux destins
Plus d’une fois le livre échappa de nos mains;
Et le trouble confus, peint sur notre visage
Exprimant nos désirs, nous tint lieu de langage.
Un moment plus fatal acheva tous nous maux;
Le livre se r’ouvrit, et nous lûmes ces mots:
„Lancelot d’un baiser, que ravit sa tendresse –„
A ce mot ma rougeur attesta ma foiblesse:
Eh! quelle amante, ô ciel! auroit pû resister?
Ce que fit Lancelot, Paul osa le tenter;
Sa bouche s’approcha de ma bouche tremblante
Son ame se perdit au sein de son amante;
Helas! depuis ce jour, si funeste à tous deux,
Le livre ne s’est plus ouvert devant nos yeux.

Wer erkennt hierin wohl noch das Original? Man kann nicht wohl ein milderes Urtheil über diese Parodie fällen, als daß sie gewiss, ohne die Absicht, lächerlich zu machen, und in dem vollen Glauben des Verfassers, er liefere eine poetische Übersetzung, oder wohl gar eine verfeinernde Nachbildung, geschrieben ist. In dem depuis ce jour statt: quel giorno più non vi leggemmo avante, hat er sich selbst übertroffen. Ein Mitglied der ehmaligen Academie royale des inscriptions et belles lettres sollte doch nicht so höchst unglücklich mißverstehen, oder so höchst abgeschmackt verschönern.

23 So ganz Unrecht hatte er indessen nicht. Erbittert über die Entehrung seiner Tochter Koronis steckte er Apollo’s Tempel zu Delfi in Brand, und mußte dafür ewig im Orkus büßen. Apollo tödtete darauf die von ihm noch schwangere Geliebte, wegen einer Untreue, deren sie angeklagt wurde. Hätte er nicht neben Flegyas dort unten einen Platz verdient?

24 Nehmlich Beatrix.

25 Der gehoffte Retter.

26 Man sehe über diese fabelhafte Hexe, die Tochter eines überpoetischen Gehirns Pharsal. VI. 507. bis zu Ende. Die Freyheiten, die Dante sich in dieser Anspielung mit Lukans Erzählung nimmt, sind weniger bemerkenswerth, als der grobe Anachronismus Virgilen zur Zeit des Farsalischen Krieges schön unter die Todten zu versetzen. Die Äneide selbst mußte ihn besser belehren, wenn er sie überall recht verstanden hätte. ^
27 Dem Aufenthalte der verworfensten Verräther.

28 Hekate oder Proserpina.

29 Theseus hatte sich mit sehr unglücklichem Erfolge in den Orkus hinabgewagt.

30 Weil ihn Herkules, dem er sich bey seiner Höllenfahrt widersetzte, gebändigt und an einer Kette fortgeschleppt hatte:
– nexis adamante catenis
Cerberon abstraxit.

31 Es macht keinen großen Unterschied, ob dies in Miltons feyerlichen Tone geschieht, oder einfältiglich, wie unser ehrlicher Hanns Sachs eines seiner Schauspiele anhebt. Gott der Vater tritt auf und spricht:

Ich hab geschaffen alle Ding
Die Erden sampt der Himmel Ring, u. s. w.

Mislingen muß es in jedem Falle.

32 Zwischen Geistern sollte doch nur mit Gedanken, nicht mit Lanzen, Pfeilen, Schwerdtern, am wenigsten mit Kanonen gefochten werden. Aber was nicht alles ein berühmter Name entschuldigt! Man sehe im Pardise lost das sechste Buch.

33 Sein Bildniß nebst einer kurzen Lebensbeschreibung findet man im ersten Theil der Serie di ritratti d’uomini illustri Toscani congli elogi istorici Le Firenze 1766-73. Villani handelt von ihm vorzüglich im sechsten Buche, C. 75-80. 84.

34 Die Anwendung dieser Denksprüche auf den vorliegenden Fall, welche Villani übergeht, ist mir ziemlich dunkel.

35 Man sehe Ditta Mundi oder Ditta mondo L. II. c. 29. Der Verfasser dieses Werkes, mehr ein reimender Geograph und Chronickschreiber als ein Dichter, und nur ein matter Nachahmer Dante’s, blühte um die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts, war ein Enkel Farinata’s, und lebte in der Verbannung von Florenz, zu der indessen damahls nicht nur die Uberti, sondern alle Familien von altem Adel durch die demokratische Heftigkeit ihrer Landsleute verdammt waren. S. Leone Alacci in der Vorrede zu seinen Poeti antichi raccolti da Codici Mss. Und Bettinelli Risorgimento delle arti et degli studi nel 1300. T. II. p. 83. Fagio degli Uberti würde seine nähere Theilnahme an dem Schicksale seiner Nahmensgenossen, wenn man sie sonst nicht wüßte, beynahe durch die Wärme, womit er davon und von Farinata’s Verdiensten spricht, verrathen. Doch geräth ja selbst Villani, der Florentinische Herodot, eben so ehrlich, nur um ein gutes Theil einfältiger wie der Grieche in eine Art von Enthusiasmus über den vertudioso e savio cittadino, che fece a guisa del buono anticho Camillo Romano.

36 Dante’s Vorfahren waren Guelfen.

37 Die Gibellinen. Er redet im Sinne seiner Väter.

38 Cavalcante Cavalcanti.

39 Dante antwortet nur darum nicht, weil er in Gedanken über das Gespräch mit Farinata versunken ist. Guido lebte damahls noch, und theilte nachher mit ihm das Schicksal der Weissen die Verbannung; starb aber bald darauf. Villani VIII. c. 42.

40 Proserpina oder Hekate, in der Oberwelt Luna. In weniger als funfzig Monaten wirst du aus eigner Erfahrung wissen, wie schwer jene Kunst ist. Im Jahr 1304 machte Dante mit den Weissen einen unglücklichen Versuch, ihr Bürgerrecht wieder zu erobern. – Die Seltsamkeit und Dunkelheit des Ausdrucks kann damit entschuldiget werden, daß es eine Weißagung ist.

41 Ein Fluß bey Monte Aperto.

42 Vermuthlich bildlich: Tempel für Rathhauß und Predigt für die Reden oder Aussprüche, die dort gehalten oder gethan werden.

43 Comment peut-il être hérétique sans être chrétien? fragt Voltaire bey Gelegenheit derselben.

44 Cic. De offic. I. 13. Cum autem duobus modis, id est, aut vi, aut fraude, fiat injuria: fraus vulpeculae, vis leonis videtur: utrumque homine alienissimum: sed fraus odio digna majore.

45 Baralteria; nach Dante’s Sinne ungefähr eben das in weltlilichen Angelegenheiten, was Simonie im geistlichen.

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