HomeDie Horen1795 - Stück 5VI. Über Charakterdarstellung in der Musik. [Gottfried Körner]

VI. Über Charakterdarstellung in der Musik. [Gottfried Körner]

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So lange der Tonkünstler kein höheres Ziel kennt als das Vergnügen seines Publikums, so sind es bloß die Eigenheiten dieses Publikums, die ihn in der Wahl und Behandlung seines Stoffes bestimmen. Bald wird er durch schmetterndes Geräusch erschüttern, bald zärtere Nerven durch schmelzende Töne reizten, bald einen Zuhörer, der mehr denckt als empfindet durch künstliche Zusammenstellungen und kühne Übergänge beschäftigen. Ihm ist die Musik blos angenehme Kunst; davon, daß sie etwas mehr seyn könne, hat er keinen Begriff.

Mit dem Eintritte hingegen in das Reich der Schönheit unterwirft sich auch der Tonkünstler ganz andern Gesetzen. Befreyt von aller äusern Herrschaft der Vorurtheile, Moden und Launen seines Zeitalters wird er desto strenger gegen sich selbst, und sein einziges Bestreben ist, seinen Werken einen unabhängigen, selbstständigen Werth zu geben.

Wieviel hätte er dann gewonnen, wenn er nun in einer vollendeten Theorie des Schönen über die Bedingungen jenes unabhängigen Werths einen bestimmten Unterricht vorfände, und ihn bloß auf das Eigenthümliche seiner Kunst anzuwenden brauchte! Aber noch fehlt uns eine solche Theorie, und es gibt Denker vom ersten Range, die sogar in ihrer Möglichkeit zweifeln. Ehe wir indessen eine befriedigende Entwicklung der nothwendigen und allgemeinen Kunstgesetze aus dem Wesen der Schönheit aufweisen können, wird es nicht ohne Nutzen seyn, einzelne Merkmale desjenigen aufzusuchen, was für jede Kunst insbesondere ohne Beziehung auf die Empfänglichkeit eines besondern Publikums an sich selbst darstellungswürdig ist. Vorarbeiten dieser Art giebt es zur Zeit noch weniger für die Musik als für andere Künste, und eben deswegen ist sie vielleicht öfter verkannt worden.

Über das Darstellungswürdige in der Musik herrschten lange Zeit seltsame Vorurtheile. Auch hier wurde der Grundsatz misverstanden, daß Nachahmung der Natur die Bestimmung der Kunst sey; und Nachäffung alles Hörbaren, vom Rollen des Donners bis zum Krähen des Hahns galt manchem für das eigenthümliche Geschäft des Tonkünstlers. Ein besserer Geschmack fängt an, allgemeiner sich auszubreiten. Ausdruck menschlicher Empfindung tritt an die Stelle eines seelenlosen Geräusches. Aber ist dies der Punkt, wo der Tonkünstler stehen bleiben darf, oder giebt es für ihn noch ein höheres Ziel?

Wir unterscheiden in dem was wir Seele nennen, etwas Beharrliches und etwas Vorübergehendes, das Gemüth, und die Gemüthsbewegungen, den Charakter (Ethos) und den leidenschaftlichen Zustand (Pathos). Ist es gleichgültig, welches von beyden der Musiker darzustellen sucht?

Das erste Erforderniß eines Kunstwerkes ist unstreitig, daß es sich als ein menschliches Produkt durch Spuren einer ordnenden Kraft von den Wirkungen des blinden Zufalls unterscheide; daher das Gesetz der Einheit. Auch der bessere Tonkünstler strebt seinen Werken diesen Vorzug zu geben, aber nicht immer mit gleichem Erfolg.

Dichter und bildende Künstler können ihren Natur nach den Zustand nie ohne die Person darstellen; aber bei dem Musiker kann der Wahn leicht entstehen, daß es ihm möglich sey, Gemüthsbewegungen als etwas Selbstständiges zu versinnlichen. Begnügt er sich dann, ein Chaos von Tönen zu liefern, das ein unzusammenhängendes Gemisch von Leidenschaften ausdrückt, so hat er freylich ein leichtes Spiel, aber auf den Namen eines Künstlers darf er nicht Anspruch machen. Erkennt er hingegen das Bedürfniß der Einheit, so sucht er sie vergebens in einer Reihe von leidenschaftlichen Zuständen. Hier ist nichts als Mannichfaltigkeit, stete Veränderung, Wachsen und abnehmen. Will er einen einzelnen Zustand fest halten, so wird er einförmig, matt und schleppend. Will er Veränderung darstellen, so setzt diese irgend etwas Beharrliches voraus, in welchem sie erscheint; und ein solches Beharrliche bildet sich dann oft von selbst, ohne daß der Künstler sich dabei einer Auswahl bewußt ist. Aber eben weil er diese Auswahl vernachlässigt, sinkt er in den meisten Fällen zur gemeinsten Natur herab. Ihn täuscht die Wirkung seines gemisbrauchten Talents, weil der niedrigste Ausdruck grade der allgemein verständlichste ist. Oft erndtet er den lautesten Beifall, wo er sich an der Kunst am schwersten versündigte; und dies entfernt ihn immer mehr von seiner Bestimmung. Er wird der Sklave seines Publikums, anstatt es zu beherrschen.

Es bedarf ferner wohl keines Beweises, daß die Kunst auf einer sehr niedrigen Stufe steht, wenn sie sich begnügt, das, was die wirkliche Welt darbietet, unverändert zu wiederholen. Eine solche Wiederholung kann als Erneurung eines sinnlichen Eindrucks in andrer Rücksicht einen Werth haben; aber wenn wir Kunstgenuß erwarten, fodern wir mehr. Was wir in der Wirklichkeit bei einer einzelnen Erscheinung vermissen, soll uns der Künstler ergänzen; er soll seinen Stoff idealisiren. In den Schöpfungen seiner Phantasie soll die Würde der menschlichen Natur erscheinen. Aus einer niedern Sphäre der Abhängigkeit und Beschränktheit soll er uns zu sich emporheben, und das Unendliche, was uns auserhalb der Kunst nur zu denken vergönnt ist, in einer Anschauung darstellen.

Aber der leidenschaftliche Zustand ist seiner Natur nach beschränckt. Alle Kraft sammelt sich gleichsam in einem einzigen Punkt, um nach einem bestimmten Ziele zu streben .Hier kann die Phantasie den Stoff nicht durch neue Bestandtheile bereichern, sondern nur den Grad des Strebens verstärken.

Man hat oft versucht, den Kummer, die Freude, die Begierde und den Abscheu zu idealisiren. Aber was war alsdann das eigentlich idealische? War es die Empfindung selbst als ein für sich bestehender Gegenstand, oder die Person, an der wir sie wahrnehmen? Denken wir uns alles hinweg, was in dieser Person die männliche Kraft oder die holde Weiblichkeit versinnlicht, wie viel bleibt von dem Ideale noch übrig?

In der menschlichen Natur giebt es nichts Unendliches, als die Freiheit. Die Kraft, welche gegen alle Einwirkungen der Ausenwelt, und gegen alle innere Stürme der Leidenschaft ihre Unabhängigkeit behauptet, übersteigt jede bekannte Größe, und diese Freiheit ist es, welche uns durch Darstellung eines Charakters versinnlicht wird.

Soll die Musik auf alles Verzicht thun, was andere Künste durch Charakter-Darstellung gewinnen, so muß in dem Eigenthümlichen dieser Kunst ein Grund dazu vorhanden seyn. Und dies bedarf einer besondern Untersuchung.

Die Musik würde das Ideal eines Charakters so wenig als irgend einen andern Gegenstand darstellen können, wenn der Vorwurf gegründet wäre, daß sie für sich allein uns nichts bestimmtes zu denken gebe. Noch jetzt aber ist dies eine herrschende Meinung bei einem großen Theile des Publikums. Noch immer hält man Poesie, Schauspiel oder Tanz für nöthig, um jenen Mangel an Bestimmtheit zu ergänzen, und wo die Musik als selbstständige Kunst auftritt, verkennt man den Sinn ihrer Produkte, weil er sich nicht in Worte und Gestalten übertragen läßt.

Die Untersuchung, was jede einzelne Kunst für sich allein darzustellen vermöge, ist in dem jetzigen Zeitalter – bei der Kargheit, mit der uns der Kunstgenuß zugemessen wird – nicht unfruchtbar. Für uns giebt es nicht mehr solche Feste, wo die menschliche Natur in voller Pracht erschien und zugleich für Aug, Ohr und Phantasie alle ihre Schätze eröfnete. Unter dem Drucke der Bedürfnisse haben wir gelernt, das Wenige, was uns von solchen Festen noch übrig ist, mit Mäßigkeit zu feiern. Und wenn in unserm Zeitalter ein seltnes Zusammentreffen von Umständen erfodert wird, daß vorzügliche Kunsttalente von verschiedener Gattung sich zu einem gemeinschaftlichen Zwecke vereinigen, so bleibt nichts übrig, als die Sphäre jeder einzelnen Kunst nach Möglichkeit zu erweitern, damit es ihren Werken auch ohne Beimischung fremdartiger Bestandtheile an innerm Reichthume nicht fehle.

Es war eine Zeit, da man bei Tanz, Musik und Poesie noch gar nicht an Darstellung eines bestimmten Gegenstandes dachte. Was in dem Menschen zuerst diese Kunsttalente entwickelte, war unstreitig der Trieb, sein Daseyn zu verkündigen; ein Trieb, der zwar im gesunden Zustande immer vorhanden ist, aber nur in solchen Momenten sich äußert, wo er durch den Druck der äussern Verhältnisse nicht gehemmet wird. Daher das Streben, die vorhandenen Kräfte an irgend einem nahe liegenden Gegenstande zu versinnlichen, und der unabhängige für sich bestehende Genuß in der Thätigkeit selbst, ihre Wirkung sey, welche sie wolle. Was dem Menschen am nächsten liegt, ist sein Körper, und die Luft, welche er einathmet und aushauchet. In beiden fand der Trieb nach unabhängiger Thätigkeit seinen ersten Wirkungskreis. In dem freien Schweben des Körpers, ohne vom Druck der Schwere beschränkt zu werden, fühlt auch der Geist sich gleichsam seiner Bande entledigt. Die irdische Masse, die ihn stets an die Abhängigkeit von der Aussenwelt erinnerte, scheint sich zu veredeln und es erweitern sich die Gränzen seines Daseyns. So vernimmt auch der Mensch in dem Tone seiner Stimme eine sinnliche Wirkung seiner Thätigkeit ohne sichtbare Schranken, das freie Spiel der Phantasie eröfnet ihm eine Sphäre von unermesslichem Umfange, und sein Gesang spricht mit der ganzen Natur. Der Gesang fodert Worte, aber solche die des Singens werth sind. Geist und Ohr erwarten Genuß von der Sprache, wenn sie nicht als Mittel gebraucht wird die alltäglichen Bedürfnisse der Geselligkeit zu befriedigen, sondern als Werkzeug dienen soll, um irgend einen Zustand der Begeisterung laut werden zu lassen. Die Einbildungskraft fühlt ihre Freiheit von den Schranken des Ortes und der Gegenwart. Sie schwelgt in Bildern der Abwesenheit, Vergangenheit und Zukunft. Aber sie will nicht allein schwelgen. Ihre Dichtungen sollen auch für andere in einem anständigen Gewande erscheinen, und dieß erhalten sie durch Wahl und Stellung der Worte.

In dieser Periode der Kunstgeschichte sind Tanz, Musik, und Poesie nicht Mittel zu irgend einem Zwecke, sondern Zweck an sich selbst. Sie sind freie Produkte der menschlichen Natur in den Momenten des höhern Lebens. Was in ihnen erscheint, ist bloß das Persönliche des Künstlers. Ein Schritt weiter und er fühlt auch den Beruf, aus seiner Person herausgehen und ein für sich bestehendes Werk zu schaffen. Einem Gedanken, den die Begeisterung in ihm erzeugte, will er ausserhalb seiner eignen Phantasie Realität geben. Er begnügt sich nicht die festliche Stimmung, in der er sich selbst fühlt, um sich zu verbreiten, sondern die Ideenwelt seines Publikums soll auch durch seine Schöpfungen bereichert werden. Dies ist die Periode der Darstellung.

Aber auch als darstellende Künste ändern Tanz, Musik und Poesie nicht gänzlich ihre ursprüngliche Natur. Die sinnliche Form, in welcher der Gedanke des Künstlers erscheint, ist nicht todt, sondern beseelt. Das freie Leben in ihren Bestandtheilen sträubt sich oft gegen die Herrschaft dieses Gedankens. Daher giebt es in einer Reihe von Bewegungen, Tönen und Worten manches, was keinen bestimmten Gegenstand darstellt, sondern bloß die persönliche Stimmung des Künstlers versinnlicht. Ein unbegränzter Trieb nach Darstellung würde sogar endlich die Form durch den Stoff zerstören. Die höchste Leidenschaft ist starr und sprachlos. Soll Tanz, Gesang und Poesie auch dann noch fortdauern, so muß etwas von der Wahrheit aufgeopfert werden, und das Persönliche des Künstlers muß der Herrschaft des Gegenstandes das Gleichgewicht halten.

Daher darf man in allem dem, was nicht zur Darstellung gehört, von der Musik so wenig als vom Tanze und von der Dichtkunst Bestimmtheit fodern. Das Gefühl der Begeisterung, das den Künstler erweckt, indem er seine eigne Stimmung in seinem Wirkungskreise verbreitet, ist seiner Natur nach dunkel und unbestimmt. Und eben diese Unbestimmtheit ist der Einbildungskraft willkommen, weil ihr freies Spiel dadurch mehr geschont wird. Nur wo die Musik darstellen will, müssen die Zeichen, welche sie gebraucht, eine bestimmte Bedeutung haben, und um zu erforschen, ob es für sie solche Zeichen geben, wollen wir versuchen, das, was die allgemeinen Gesetze der Darstellung in Ansehung der Bestimmtheit fodern, auf die Musik insbesondere anzuwenden.

Ein dargestellter Gegenstand wird nur dadurch zu einer Erscheinung für die Phantasie, daß er ihr mit bestimmten Gränzen gegeben wird. Ein Unendliches in seiner Reinheit kann nicht erscheinen. Indem es die Vernunft zu denken versucht, und aus ihrer Vorstellung alles Beschränkte entfernt, entzieht sie zugleich der Einbildungskraft alle Nahrung. Die Idee des Künstlers muß daher schon gleichsam in einer körperlichen Hülle gedacht werden, ehe sie dargestellt werden kann. Die vollkommenste Darstellung kann nicht mehr bewirken, als daß der Gedanke des Künstlers sich unsrer Phantasie vollständig mittheilt. Ist aber in diesem Gedanken selbst für die Phantasie nichts Anschauliches, so entbehren wir den eigentlichen Kunstgenuß, und die große Pracht in der Einkleidung vermag uns nicht dafür zu entschädigen.

Vorausgesetzt nun, daß das Kunstideal bestimmt gedacht ist, so wird es nur durch versinnlicht, daß wir diese Bestimmungen in besondern Verhältnissen wahrnehmen. Denn auch die Natur des wirklichen Gegenstandes erkennen wir durch Erfahrung nie unmittelbar, sondern nur mittelst seiner Verhältnisse, indem wir von den Wirkungen auf die Ursachen schließen. Je vollständiger also die Verhältnisse des Ideals in der Darstellung gegeben sind, desto bestimmter ist seine Erscheinung.

Aber diese Vollständigkeit ist für den Künstler gefährlich. Verbreitet sich die Darstellung des Ideals auch über alle angränzenden Gegenstände, welche mit jenem durch Zeit, Ort und den Zusammenhang der Ursachen und Wirkungen verknüpft sind; so nähert sich die Erscheinung der Wirklichkeit, und für die Phantasie des Betrachters bleibt nichts zu ergänzen übrig. Gleichwohl will diese beim Kunstgenuß nicht müßig empfangen, sondern zu eigner Thätigkeit aufgefodert werden.

Es gibt daher Künstler, welche sich einer solchen Vollständigkeit absichtlich enthalten, und den Schauplatz, auf welchem ihr Ideal erscheint undargestellt lassen. Beispiele dieser Art liefern uns mehrere Werke der griechischen Bildhauer, an denen der Alterthumsforscher die sogenannten Attribute vermißt, die aber demjenigen, der die Kunst um ihrer selbst willen liebt, eben deswegen werther sind, weil sie das freie Spiel seiner Phantasie weniger beschränken. Die überirrdischen Wesen, welche ihm der Bildhauer darstellt, denkt er sich in einer höhern Sphäre ausser den Gränzen der Wirklichkeit. Er ordnet sie in nothwendige Klassen, die in der Natur selbst gegründet, und nicht von dem Zufälligen in der Mythologie und den Sitten eines besondern Volkes abhängig sind. Nur um die Kennzeichen dieser Klassen wahrzunehmen, fodert er Bestimmtheit; in jeder andern Beziehung kann er sie entbehren.

Das Sinnliche des Ideals besteht hier in einem einzigen Verhältnisse, nicht zu einem einzelnen besondern Gegenstande, sondern zu der Totalvorstellung des Raums überhaupt. Ein bestimmter Theil dieses Raums erscheint hier ausgefüllt. Von demjenigen, was ihn ausfüllte, ist nur eine dunkle Vorstellung vorhanden, aber eine desto deutlichere, vollständigere und bestimmtere von seinen Gränzen. Und bloß durch Darstellung dieser Gränzen gelang es dem Künstler, uns für das Bild seiner Phantasie zu begeistern. Die Gestalt, welche uns erschien, war bis auf die kleinsten Theile ihrer Oberfläche bedeutend. Das einzige Merkmal des sinnlichen Stoffs, was uns in der Anschauung gegeben wurde, war die Ausdehnung; aber noch nie hatte uns eine Erscheinung in der wirklichen Welt soviel in einem einzigen Merkmale geliefert.

Wie aber in diesem Falle der höchste Reichthum mit einer scheinbaren Armuth bestehen könne, wird uns begreiflich, wenn wir uns an die Bedingungen erinnern, von denen der Gehalt eines Ideals überhaupt abhängig ist. Wir schätzen die Erscheinung nach demjenigen, was in ihr nicht erscheint, sondern gedacht werden muß, nach der Summe von Realität, welche durch sie vorausgesetzt wird, nach dem Innhalte unsers Begriffs von dem, was ausserhalb unsrer Vorstellung der Erscheinung zum Grunde liegt. Was wir unmittelbar in der einzelnen Erscheinung wahrnehmen, giebt uns nie eine vollständige Vorstellung eines Gegenstands; es bleiben Lücken übrig, die durch Schlüsse und Ahnungen ergänzt werden müssen. Zu diesen Ergänzungen nimmt die Einbildungskraft den Stoff aus ihren eigenen Schätzen, aber in der Wahl dieses Stoffs ist sie von dem abhängig, was ihr in der unmittelbaren Wahrnehmung gegeben wurde. Und je größer diese Abhängigkeit bey Betrachtung eines Kunstwerks ist, je unumschränkter der Künstler die Phantasie des Kenners beherrscht; desto reichhaltiger ist das Ideal, das durch seine Darstellung versinnlicht wird.

Das Sinnliche in der Erscheinung ist es, was die Einbildungskraft des Betrachters leitet, aber nicht insofern es mannigfaltig, sondern insofern es bestimmt ist. Der bloße Umriß einer Figur, den eine Meisterhand auf das Papier wirft, ist hinreichend, unsrer Phantasie Gesetze zu geben. Jeder Punkt der zarten Linie ist gleichsam beseelt; aus jedem spricht ein unverkennbarer Ausdruck von Kraft oder Anmuth. Wir fühlen einen unwiderstehlichen Drang in uns selbst, das Bild auszumahlen, was hier nur angedeutet wird; aber wir fühlen auch die Unmöglichkeit irgend etwas in unsre Idee aufzunehmen, was mit dem Eigenthümlichen einer solchen Erscheinung nicht vereinbar wäre.

Im Werke des Bildhauers sind die Umrisse der Gestalt nach allen möglichen Richtungen zugleich bestimmt. Desto öfter also würde die Phantasie gewarnt werden, wenn sie sich eine unpassende Dichtung erlauben wollte; aber desto mehr Auffoderung findet sie auch, ihre eigne Unthätigkeit zu äussern. Und für diese ist ihr eben in Ansehung aller der Merkmale, worüber der Künstler nichts bestimmte, ein unermeßliches Feld eröffnet. Alles. Was der Gegenstand durch Farbe, durch Bewegung, durch äussere Verhältnisse gewinnen kann, ist in ihrer Gewalt. Auch in der Zeit ist sie nicht beschränkt. Was ihr der Künstler in der Anschauung giebt, kann von ihr als ewig gedacht werden.

Ein einziges sinnliches Merkmal giebt hier dem Ideale Bestimmtheit und Reichhaltigkeit. Gilt dieß aber nur von den Umrissen der Gestalt? Oder giebt es auch ein andres eben so bedeutendes Merkmal für andre Künste?

Unter die Verhältnisse, welche der Vorstellung eines Gegenstandes Bestimmtheit geben, gehört auch eine besonders angewiesene Stelle in einer Reihe von Ursachen und Wirkungen. Dieß Verhältniß ist es vorzüglich, was den Dichter beschäftigt, und hier zeigt er seine Darstellungskraft im weitesten Umfange. Er geht bis zu den entferntesten Veranlassungen der Begebenheiten zurück, und folgt ihrem Gange durch die kleinsten Fortschritte bis zur endlichen Entwicklung.

Begnügt sich der Dichter eine Reihe von Erscheinungen darzustellen, die durch allgemeine Naturgesetze verknüpft sind, so kann er uns ein sehr belehrendes Werk liefern, aber gewiß kein begeisterndes. Um aus dem Reiche der beschränkten Wirklichkeit in das Reich der Ideale überzeugehen, bedarf er der Freyheit. Diese ist die Seele seiner Dichtung. Indem er den Glauben an die Freyheit voraussetzt, verbreitet sich selbstständige Lebenskraft über die Bestandtheile seines Werks, und an die Stelle eines Puppenspiels, das von einer unbekannten Macht durch unsichtbare Fäden bewegt wird, treten handelnde Personen. Für jede dieser handelnden Personen giebt es dann einen besondern Wirkungskreis, in dem sie der Mittelpunkt ist, und in diesem Wirkungskreise erscheint eine Reihe von Zuständen, welche Leben genannt wird. Jeder Zustand gründet sich auf ein bestimmtes Verhältniß des freyen selbstständigen Wesens zu der Welt, welche es umgiebt. Beyde werden in einem Zusammenhange gedacht, durch welchen die Thätigkeit des einen in die Empfänglichkeit des andern eingreift.

Freyheit, Persönlichkeit, Zustand und Leben als Gegenstände der Kunst betrachtet, sind keine metaphysische Begriffe, sondern Merkmale, die durch den innern Sinn in uns selbst wahrgenommen, und auf andre Wesen übergetragen werden. Durch Selbstbewußtseyn unterscheiden wir in uns Abhängigkeit und Unabhängigkeit von der Aussenwelt. Das Unabhängige in uns nennen wir Vermögen. Dieß äussert sich theils durch Empfänglichkeit, indem es das Bestimmte in der Aussenwelt auffasst, theils durch Thätigkeit, indem es den gegebenen Stoff in der Aussenwelt nach eigner Willkühr bestimmt. Durch dieses Bestimmtwerden und Bestimmen fühlen wir uns mit der Aussenwelt in demjenigen Zusammenhange, welchen wir Zustand nennen. In einem solchen Zustande können wir bestimmte Merkmale wahrnehmen, ohne von unsrer eignen Natur und der Beschaffenheit der äussern Gegenstände eine deutliche Vorstellung zu haben. Alsdann betrachten wir das Verhältniß unsers Vermögens nicht zu einem einzelnen Gegenstande, sondern zu unsrer Aussenwelt überhaupt. So gab es auch für die Gestalt bestimmte Umrisse, ohne daß wir von dem, was sowohl innerhalb, als ausserhalb dieser Umrisse vorhanden war, etwas deutlich erkannten. Wie dort nur die Ausdehnung im Raume begränzt wurde, so hier nur das Vermögen in der Reihe von Ursachen und Wirkungen.

Unter der Voraussetzung, daß ein innrer Trieb unser Daseyn zu erweitern und der äussern Beschränkung zu widerstehen seine Wirksamkeit nie gänzlich verliert, sind uns die Gränzen unsers Vermögens nicht gleichgültig. Ihre Wahrnehmung ist daher von gewissen Gefühlen, von Freude oder Schmerz und ihren mannichfaltigen Mittelstufen begleitet. An diesen Gefühlen erkennt der innere Sinn, in wie weit jener allgemeine Lebenstrieb durch unser gegenwärtiges Verhältniß zur Aussenwelt befriedigt wird, und dieß gehört zu den bestimmten Merkmalen des Zustandes.

Um nun diß Merkmal eines Zustandes auch an andern lebenden Wesen wahrzunehmen, bedürfen wir gewisser äussern Zeichen, welche den Grad jener Gefühle bestimmt andeuten. Und solche Zeichen finden wir in der Bewegung. Daher ist sie für alle Künste, welche unmittelbar auf die äussern Sinne wirken, das anerkannte Mittel zur Darstellung eines Zustandes. Auch in den Werken des Bildhauers und Mahlers wird die Lage der beweglichen Theile des Körpers nur dadurch für den Zustand bedeutend, daß sie die Spur einer vorhergegangenen Bewegung enthält. Im Tanz und in der Schauspielkunst erscheint die Bewegung zwar mit Gestalt verknüpft, aber auf jener allein hafftet die Aufmerksamkeit beym eigentlichen Kunstgenusse, und die Gestalt ist gleichsam nur das Gerüste des Kunstwerks. Es entsteht daher die Frage, ob nicht auch Bewegung ohne Gestalt zur Darstellung zureichend sey, so wie es Gestalt ohne Bewegung ist.

Die Gestalt verschwindet bey einer Bewegung, die wir nicht durch sichtbare, sondern durch hörbare Merkmale wahrnehmen. Daß wir aber solche Merkmale in einer Reihe von Tönen zu finden glauben, lehrt uns schon der Sprachgebrauch. Sind es nur bloß bildliche Ausdrücke, wenn wir von einer Fortschreitung der Melodie, von einem Auf- und Absteigen der Stimme reden, oder giebt es wirklich eine Ähnlichkeit zwischen der Bewegung der Gestalt im Raum, und der Bewegung des Klangs innerhalb der Tonleiter?

Die Höhe und Tiefe der Töne wird von dem Ohr auf ähnliche Art unterschieden, wie von dem Auge die Farben. Sind zwey Töne von verschiedner Höhe gegeben, so wird die Phantasie veranlasst, noch höhere und tiefere Töne zu denken, und dadurch gelangt sie zu der Vorstellung einer Tonleiter, indem sie die Reihe der Abstuffung gegen die beyden äussersten Gränzen, wo das Ohr die Höhe und Tiefe nicht mehr unterscheidet, verlängert.

Ist in einer Reihe von Tönen ausser der Mannigfaltigkeit der Höhe und Tiefe auch die Einheit eines besondern Schalls hörbar, so vernehmen wir einen bestimmten Klang. Dieser Klang – das Beharrliche in der Melodie – ist für das Ohr eben das, was in der sichtbaren Bewegung die beharrliche Masse für das Auge ist. Wie diese ihren Ort verändert, so verändert jener seine Stelle in der Tonleiter.

Eine solche Bewegung eines Klangs hören wir an uns selbst nicht bloß im Gesange, sondern auch in der Rede. Jeder Laut unsrer Stimme hat eine bestimmte Stelle auf der Tonleiter, und diese Stelle würden wir auch im Sprechen wahrnehmen, wenn der Ton so zu uns gelangte, wie ihn die Stimmritze angiebt, und nicht wie er durch das Geräusch der übrigen Sprachorgane unterdrückt wird. Eine bestimmte Höhe oder Tiefe des Tons wird hörbar, sobald man dieß Geräusch von ihm absondert, wie uns beym Aushalten eines Vokals die Erfahrung lehrt.

Durch Selbstgefühl sind wir uns bewußt, daß die Bewegung des Klangs unsrer Stimme durch unsre eigne Thätigkeit bestimmt wird. Diese Bewegung gehört zu dem, was wir, als unabhängig von der Aussenwelt, von dem Abhängigen in uns unterschieden, zu den Äusserungen unsrer Freyheit. Daher ahnen wir Freyheit und Persönlichkeit in jeder Bewegung eines bestimmten Klangs. Dieser Klang ist für unser Ohr die sinnliche Form eines freyen lebendigen Wesens, so wie es die bewegliche Gestalt für unser Auge ist.

Sind nun in der Bewegung der Gestalt die sinnlichen Zeichen eines bestimmten Zustands nicht zu verkennen, so fragt sich’s, ob die Bewegung des Klangs weniger bedeutend sey. Die Gebehrdensprache wird allerdings von einer grössern Anzahl für verständlicher gehalten, als die Sprache der Töne, allein dieser Unterschied verdient noch eine genauere Untersuchung.

Was in der Gebehrdensprache ein bestimmtes Ziel der Bewegung bezeichnet, giebt ihrer Darstellung ohne Zweifel eine Deutlichkeit, die wir in einer Reihe von Tönen vermissen. Durch Wahrnehmung dieses Ziels entsteht eine bestimmte Vorstellung von dem Gegenstande der Begierde, des Abscheus, der Furcht, des Zorns und der Liebe. Auch in der Musik giebt es zwar ein Ziel der Bewegung, den Hauptton der Melodie. In dem Verhältnisse, wie sich die Fortschreitung des Klangs diesem Ziele nähert, oder sich von ihm entfernt, vermehrt oder vermindert sich die Befriedigung des Ohrs. Aber dieses Ziel der musikalischen Bewegung bezeichnet nichts in der sichtbaren Welt. Was es andeutet, ist ein unbekanntes Etwas, das von der Phantasie nach Willkühr als irgend ein einzelner Gegenstand, oder als eine Summe von Gegenständen, als die Aussenwelt überhaupt, gedacht werden kann.

Zugegeben aber, daß die musikalische Darstellung in dieser Rücksicht weniger vollständig ist, und der Einbildungskraft mehr zu ergänzen übrig läßt, als Tonkunst und Mimik, so haben wir im Vorhergehenden an dem Beyspiele der Bildhauerkunst gesehen, daß die Bestimmtheit der Darstellung nicht von ihrer Vollständigkeit abhängt. Selbst in der Gebehrdensprache bleibt auch alsdann noch, wenn das Ziel der Bewegung nicht angedeutet wird, in der Art der Bewegung Bestimmtheit genug übrig, und es entsteht die Frage, ob wir von dieser Bestimmtheit allein etwas dem ähnliches erwarten dürfen, was wir in den bloßen Umrissen der Gestalt finden.

Der schwebende Gang der Freude und der schwere Tritt des Kummers sind in der Gebehrdensprache allgemein verständlich, auch wenn wir in beyden Fällen von der Richtung dieser Bewegungen keine deutliche Vorstellung haben. Was diese Zeichnen bedeutend macht, ist ein gewisser Zusammenhang, den wir in uns selbst zwischen diesen Unterschieden der Bewegung und den Unterschieden unsers Zustandes wahrgenommen haben, und den wir von uns auf andre lebende Wesen übertragen. In den Bewegungen der fremden Gestalt erkennen wir uns selbst wieder.

Von ähnlicher Art ist der Unterschied zwischen dem Jauchzen der Fröhlichkeit und dem gepreßten Tone des Schmerzens. Was für einen Zustand diese Verschiedenheit bezeichnet, wissen wir nicht bloß aus eigner Erfahrung von der Art, wie diese Gefuhle an uns selbst sich ankündigten, sondern auch durch eine gewisse Sympathie, die schon bey der Gebehrdensprache, obwohl in einem unmerklichern Grade, sich äussert.

Vorausgesetzt nun daß es selbst für die stumpfesten und ungeübtesten Sinne deutliche Merkmale giebt, wodurch sich die Zeichen der Freude von den Zeichen des Schmerzens in Gebehrden und Tönen unterscheiden, so sind da durch auch für eine unendliche Menge von Abstuffungen beyder entgegengesetzter Gefühle bestimmte Zeichen gegeben. Der feinere und geübtere Sinn vergleicht die weniger verständlichen Gebehrden und Töne mit den allgemein verständlichen, und entdeckt mehr oder wenige Ähnlichkeit mit den anerkannten Zeichen der Freude und des Schmerzens. So bereichert sich die Gebehrdensprache, und, wo es nicht an Gelegenheit fehlt, den Sinn des Gehörs eben sowohl, als den Sinn des Gefühls zu üben, auch die Sprache der Töne. Daß zu Wahrnehmung feiner Unterschiede das Ohr weniger tauglich sey, als das Auge, läßt sich im Allgemeinen nicht behaupten, aber der einzelne Mensch kann sich in Lagen befinden, wo er öfter veranlaßt wird, das Sichtbare, als das Hörbare zu vergleichen. Alsdann werden ihm Tanz und Schauspielkunst verständlicher seyn, als Musik, so wie diese hingegen zu demjenigen deutlicher sprechen wird, dessen Aufmerksamkeit mehr auf Tönen, als auf Gestalten haftet.

Wenn es der Musik nicht an deutlichen Zeichen fehlt, um einen bestimmten Zustand zu versinnlichen, so ist ihr dadurch auch die Möglichkeit der Charakterdarstellung gegeben. Was wir Charakter nennen, können wir überhaupt weder in der wirklichen Welt noch in irgend einem Kunstwerke unmittelbar wahrnehmen, sondern nur aus demjenigen folgern, was in den Merkmalen einzelner Zustände enthalten ist. Es fragt sich also nur, ob auch in einer solchen Reihe von Zuständen, wie sie durch Musik dargestellt wird, Stoff genug vorhanden sey, um daraus die bestimmte Vorstellung eines Charakters zu bilden.

Der Begriff des Charakters setzt ein moralisches Leben voraus, ein Mannichfaltigen im Gebrauche der Freyheit, und in diesem Mannichfaltigen eine Einheit, eine Regel in dieser Willkühr. Eine solche Regel wird entweder unmittelbar wahrgenommen, indem man aus der Reihe von Erscheinungen eines moralischen Lebens das Gemeinsame heraushebt, oder sie wird durch einen Schluß aus einzelnen Zügen gefolgert, wenn diese eine Ursache voraussetzen, deren Wirksamkeit sich nach dem Gesetze der Analogie nicht auf einen einzigen Fall einschränken kann. Zu diesen charakteristischen Zügen gehören besonders solche Handlungen, die mit den äussern Verhältnissen im Widerspruche stehen, und wozu wir also einen Grund innerhalb der Person zu suchen genöthigt werden. Durch dieses Mittel bewirkt der Dichter eine reiche und lebendige Charakterdarstellung auch in einem kleinen Umfange von Begebenheiten. So sehen wir Achill und Priamus einander gegenüber bey einem traulichen Mahle – jener vergißt den Vater Hektors, dieser den Mörder des Sohns – einer ist im Anschauen des andern verloren, und beyde ehren die höhere menschliche Natur.

Auf ähnliche Art verfahren auch andre Künstler, und je reichhaltiger ihre Produkte an solchen bedeutenden Zügen sind, desto vollkommner ist ihre Charakterdarstellung. Das Beyspiel des Tänzers und Schauspielers lehrt uns, wie viel besonders durch die Zeichen der Bewegung für diesen Zweck geleistet werden kann. Gilt nun eben diß auch von der Sprache der Töne, oder giebt es hierinn einen Unterschied zwischen den Bewegungen der Gestalt und den Bewegungen des Klangs?

Auch hier äussern sich allerdings die Folgen des Umstandes, daß in einer Reihe von Tönen kein bestimmtes Ziel, sondern nur eine bestimmte Art der Bewegung wahrgenommen wird. Was der Tänzer und Schauspieler durch dieses Ziel andeutet, fehlt in der Charakterdarstellung des Tonkünstlers. Daher vermißt man alles dasjenige bey ihm, was irgend einen fortdauernden Trieb nach einem besondern Gegenstande betrifft. Aber es fragt sich, ob nicht auch alsdann noch bestimmte Merkmale in der Vorstellung eines Charakters übrig bleiben, wenn sie von irgend einer besondern Richtung der Triebe nichts bestimmtes enthält.

Ausser den Verschiedenheiten der besondern Gegenstände, auf welche unsre Triebe gerichtet sind, giebt es noch einen allgemeinen Unterschied, der die Triebe überhaupt in zwey Classen abtheilt. Ihr Zweck ist entweder unsre Thätigkeit oder unsre Empfänglichkeit zu äussern, zu bestimmen, oder bestimmt zu werden. Von diesen beyden entgegengesetzten Classen der Treibe verliert keine ihre Wirksamkeit gänzlich, so lange das Leben selbst währt, aber sie beschränken einander gegenseitig und in einzelnen Momenten hat bald der Trieb der Thätigkeit, bald der Trieb der Empfänglichkeit das Übergewicht. Wird nun zwischen beyden ein bestimmtes fortdauerndes Verhältniß wahrgenommen, so gehört dieß zu den Merkmalen des Charakters. Daher das männliche und weibliche Ideal, und die unendlich mannichfaltigen Abstuffungen zwischen beyden.

Giebt es nun in der Musik deutliche Zeichen für ein bestimmtes Verhältniß der männlichen Kraft zur weiblichen Zartheit, so ist dadurch eine Charakterdarstellung möglich, welche in Ansehung dieses Merkmals völlig bestimmt ist, wenn sie gleich die Ergänzung der andern Merkmale dem freyen Spiele der Einbildungskraft überlässt. In den Umrissen und Bewegungen der Gestalt erkennt ein geübtes Auge die kleinsten Abstuffungen der Männlichkeit und Weiblichkeit. Auch verliert das Bild der Phantasie dadurch nichts an Bestimmtheit, daß man es nicht durch Worte beschreiben kann. Denn welche Sprache wäre wohl reich genug, um die unendliche Mannichfaltigkeit der feinsten Unterschiede dieses Merkmals andeuten zu können? Ist aber die Frage, ob es für diese Unterscheide in dem Klange und seiner Bewegung deutliche Zeichen gebe, so dürfen wir nicht vergessen, was schon bey den hörbaren Zeichen des Zustands bemerkt worden ist, daß es nehmlich dem Sinn des Gehörs deswegen an sich selbst nicht an Feinheit fehlt, weil er in mehreren Fällen nicht eben so viel Gelegenheit zur Übung und Ausbildung hatte, als der Sinn des Gesichts. Daß es für den äussersten Grad der Männlichkeit und Weiblichkeit in einer Reihe von Tönen einen eben so allgemein verständlichen Ausdruck giebt, als für Freude und Schmerz, bedarf wohl keines Beweises. Auch dem ungeübtesten Ohr, das den Klang der Posaune und der Flöte, den Marsch und die ländliche Tanzmusik, den Kirchenhymnus und das Adagio des einzelnen Sängers oder Instrumentisten gegeneinander hört, braucht man diese Unterschiede nicht zu erklären. Aus diesen Zeichen aber von anerkannter Bedeutung bildet sich nach und nach eine Sprache wie bey den Zeichen des Zustands, indem man die unbedeutlichern Zeichen mit den deutlichern vergleicht, und mehr oder weniger Ähnlichkeit zwischen ihnen bemerkt.

Die unverkennbarsten Zeichen des Charakters finden sich in der Verschiedenheit des Klangs. Die mannichfaltigen Grade des Rauhen und Sanften, wodurch sich Menschenstimmen und Instrumente unterscheiden, sind daher eines von den brauchbarsten, aber nicht das einzige Mittel der Charakterdarstellung in der Musik.

In der Bewegung des Klanges bemerken wir theils die Unterschiede der Dauer, theils die Unterschiede der Beschaffenheit. Jene sind für die Charakterdarstellung die wichtigsten. Das Regelmäßige in der Abwechselung von Tonlängen (Rhythmus) bezeichnet die Selbstständigkeit der Bewegung. Was wir in dieser Regel wahrnehmen ist das Beharrliche in dem lebenden Wesen, das bey allen äussern Veränderungen seine Unabhängigkeit behauptet. Daher der hohe Werth des Rhythmus in der griechischen Musik, Poesie, und Tanzkunst. Das ruhige Fortschreiten der Würde, und das Schweben der Anmuth haben diese Künste mit einander gemein. „Das Wortlose“ sagt Klopstock „wandelt in einem guten Gedicht umher, wie in Homers Schlachten die nur von wenigen gesehen Götter.“

Über die Melodie der Griechen haben wir nur dunkle und unvollständige Nachrichten, aber was sie im Rhythmus leisteten, können wir schon an dem einzigen Beyspiele zweyer Versarten erkennen: den Alcäischen, und den Sapphischen. Jene ist eine musterhafte Darstellung des männlichen, diese des weiblichen Ideals. Der Deutsche – der es aber bedarf von Zeit zu Zeit an seine Schätze erinnert zu werden – braucht solche Muster so weit nicht zu suchen. Nur zwey Beyspiele von eben dem Dichter, der den Werth des Rhythmus so gut erkannte:

Komm! ich bebe vor Lust! Reich mir den Adler
Und das triefende Schwerdt! komm, athme und ruhe
Hier in meiner Umarmung
Aus von der donnernden Schlacht. –

Und dieser Heldinn gegenüber das ängstliche Mädchen:

Aber in dunkler Nacht ersteigst du Felsen,
Schwebst in täuschender dunkler Nacht auf Wassern;
Theilt’ ich nur mit dir die Gefahr zu sterben;
Würd’ ich Glückliche weinen?

Was durch die Melodie unmittelbar dargestellt wird, ist der Zustand, das Vorübergehende im Gegensatz des Beharrlichen, der Grad des Lebens in dem einzelnen Momente. Die Bewegung innerhalb der Tonleiter besteht in einem unaufhörlichen Schwanken zwischen Realität und Beschränkung. Im Verhältnis der einzelnen Töne zum Haupttone, auf welchem die Einheit der Melodie beruht, erscheint das Streben nach einem Ziele, bald Annäherung bald Entfernung, und endlich Ruhe, wenn es erreicht ist. Neben diesen Veränderungen kann es aber auch in der Melodie etwas Beharrliches geben, gewisse Gränzen nehmlich in dem Umfange der melodischen Bewegung, ein gewisses Ebenmaas in der Art der Fortschreitung. Und in diesem Beharrlichen erkenne wir eine bestimmte Kraft oder Zartheit des Charakters. Daher vielleicht die scheinbare Ängstlichkeit der Kunst-Polizey bey den Griechen in Ansehung dieser Merkmale des Charakters. Daher der Censor-Eifer des Spartaners, der auf der Cither des Timotheus nicht mehr als sieben Saiten duldete.

Ob sich die Musik der Griechen bloß auf Rhythmus und Melodie einschränkte, oder ob sie auch das kannten, was wir Harmonie nennen, ist in der Geschichte der Tonkunst noch eine Streitfrage. Es hat neuere Theoretiker gegeben, die wegen dieses Umstandes an dem Werthe der Harmonie überhaupt noch gezweifelt haben. Diese zu widerlegen ist hier der Ort nicht; aber es bedarf nur eines flüchtigen Blicks, um sich von der Wichtigkeit der Harmonie wenigstens für die Charakterdarstellung zu überzeugen. Durch eine Verbindung zugleich tönender Stimmen wird es möglich die Melodie und den Rhythmus unter diese Stimmen zu vertheilen. Leidenschaft und Charakter können beydes abgesondert durch verschiedne Bewegungen lebendiger und bestimmter versinnlicht werden, ohne daß das Gleichgewicht zwischen beyden aufgehoben wird, was zur vollkommensten Wirkung des Ganzen erfoderlich ist. Jeder Gedanke, jede Empfindung, die durch den Zustand erweckt wird, und gleichsam als ein einzelnes lebendes Wesen sich durch die Töne einer Menschenstimme, oder eines nachahmenden Werkzeugs verkündigt, bereichert das Ideal der Phantasie, und erhöht die Vorstellung von der Kraft, die in einem solchen Kampfe nicht unterliegt. In diesem Umfange und Grade giebt es vielleicht keine andre Darstellung in der Musik für das Erhabene des Charakters.

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