HomeDie Horen1795 - Stück 7III. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. [Johann Wolfgang von Goethe]

III. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. [Johann Wolfgang von Goethe]

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Fortsetzung.

Man muß Ihren Prokurator loben, sagte die Baronesse, er ist zierlich, vernünftig, unterhaltend und unterrichtend; so sollten alle diejenigen seyn, die uns von einer Verirrung abhalten oder davon zurück bringen wollen. Wirklich verdient die Erzählung vor vielen andern den Ehrentitel einer moralischen Erzählung. Geben Sie uns mehrere von dieser Art, und unsre Gesellschaft wird sich deren gewiß erfreuen.

Der Alte. Wenn diese Geschichte Ihren Beyfall hat, so ist es mir zwar sehr angenehm, doch thut mir’s leid, wenn Sie noch mehr moralische Erzählungen wünschen, denn es ist die erste und letzte.

Luise. Es bringt Ihnen nicht viel Ehre, daß Sie in Ihrer Sammlung gerade von der besten Art nur eine einzige haben.

Der Alte. Sie verstehn mich unrecht. Es ist nicht die einzige moralische Geschichte, die ich erzählen kann, sondern alle gleichen sich dergestalt, daß man immer nur dieselbe zu erzählen scheint.

Luise. Sie sollten sich doch endlich diese Paradoxen abgewöhnen, die das Gespräch nur verwirren; erklären Sie sich deutlicher.

Der Alte. Recht gern. Nur diejenige Erzählung verdient moralisch genannt zu werden, die uns zeigt, daß der Mensch in sich eine Kraft habe, aus Überzeugung eines Bessern, selbst gegen seine Neigung, zu handeln. Dieses lehrt uns diese Geschichte, und keine moralische Geschichte kann etwas anderes lehren.

Luise. Und ich muß also, um moralisch zu handeln, gegen meine Neigung handeln?

Der Alte. Ja.

Luise. Auch wenn sie gut ist?

Der Alte. Keine Neigung ist an sich gut, sondern nur in so fern sie etwas gutes wirkt.

Luise. Wenn man nun Neigung zur Wohlthätigkeit hätte?

Der Alte. So soll man sich verbiethen, wohlthätig zu seyn, sobald man sieht, daß man sein eigenes Hauswesen dadurch zu Grunde richtet.

Luise. Und wenn man einen unwiderstehlichen Trieb zur Dankbarkeit hätte.

Der Alte. Dafür ist bey den Menschen schon gesorgt, daß die Dankbarkeit bei ihnen niemals zum Triebe werden kann. Doch gesetzt auch, so würde der zu schätzen seyn, der sich lieber undankbar zeigte, als daß er etwas Schändliches aus Liebe zu seinem Wohlthäter unternähme.

Luise. So könnte es denn also doch unzählige moralische Geschichten geben.

Der Alte. In diesem Sinn, ja; doch würden sie alle nichts weiter sagen, als was mein Prokurator gesagt hat, und deswegen kann man ihn einzig dem Geiste nach nennen; denn darin haben Sie recht, der Stoff kann sehr verschieden seyn.

Luise. Hätten Sie sich eigentlicher ausgedruckt, so hätten wir nicht gestritten.

Der Alte. Aber auch nicht gesprochen. Verwirrungen und Mißverständnisse sind die Quellen des thätigen Lebens und der Unterhaltung.

Luise. Ich kann doch noch nicht ganz mit Ihnen einig seyn. Wenn ein tapferer Mann mit Gefahr seines eigenen Lebens andere rettet, ist das keine moralische Handlung?

Der Alte. Nach meiner Art, mich auszudrücken nicht. Wenn aber ein furchtsamer Mensch seine Furcht überwindet und eben dasselbe thut, dann ist es eine moralische Handlung.

Die Baronesse. Ich wollte, lieber Freund, Sie gäben uns noch einige Beyspiele, und verglichen sich gelegentlich mit Luisen über die Theorie. Gewiß, ein Gemüth, das Neigung zum Guten hat, muß uns, wenn wir es gewahr werden, schon höchlich erfreuen; aber schöneres ist nichts in der Welt als Neigung, durch Vernunft und Gewissen geleitet. Haben Sie noch eine Geschichte dieser Art, so wünschten wir sie zu hören. Ich liebe mir sehr Parallelgeschichten. Eine deutet auf die andere hin und erklärt ihren Sinn besser als viele trockene Worte.

Der Alte. Ich kann wohl noch einige, die hieher gehören, vorbringen; denn ich habe auf diese Eigenschaft des menschlichen Geistes besonders acht gegeben.

Luise. Nur eins möchte ich mir ausbitten. Ich läugne nicht, daß ich die Geschichten nicht liebe, die unsre Einbildungskraft immer in fremde Länder nöthigen. Muß denn alles in Italien und Sicilien geschehen? Sind denn Neapel, Palermo und Smyrna die einzigen Orte, wo etwas Interessantes vorgehen kann? Mag man doch den Schauplatz der Feenmärchen nach Samarcand und Ormus versetzen, um unsere Einbildungskraft zu verwirren. Wenn Sie aber unsern Geist, unser Herz bilden wollen, so geben Sie uns einheimische, geben Sie uns Familiengemälde, und wir werden uns desto eher darin erkennen, und wenn wir uns getroffen fühlen, desto gerührter an unser Herz schlagen.

Der Alte. Auch darin soll Ihnen willfahrt werden. Doch ist es mit den Familiengemälden eine eigene Sache. Sie sehen einander alle so gleich, und wir haben fast alle Verhältnisse derselben schon gut bearbeitet auf unsern Theatern gesehen. Indessen will ichs wagen und eine Geschichte erzählen, von der Ihnen schon etwas ähnliches bekannt ist, und die nur durch eine genaue Darstellung dessen, was in den Gemüthern vorging, neu und interessant werden dürfte.

Man kann in Familien oft die Bemerkung machen, daß Kinder sowohl der Gestalt als dem Geiste nach, bald vom Vater bald von der Mutter Eigenschaften zu haben scheinen, und so kommt auch manchmal der Fall vor, daß ein Kind die Naturen beider Eltern auf eine besondere und verwundernswürdige Weise verbindet.

Hievon war ein junger Mensch, den ich Ferdinand nennen will, ein auffallender Beweis. Seine Bildung erinnerte an beyde Eltern, und ihre Gemüthsart konnte man in der seinigen genau unterscheiden. Er hatte den leichten und frohen Sinn des Vaters, so auch den Trieb den Augenblick zu genießen und eine gewisse leidenschaftliche Art bey manchen Gelegenheiten nur sich selbst in Anschlag zu bringen. Von der Mutter aber hatte er, so schien es, ruhige Überlegung, ein Gefühl von Recht und Billigkeit und eine Anlage zur Kraft sich für andere aufzuopfern und man sieht hieraus leicht, daß diejenigen, die mit ihm umgingen, oft, um seine Handlungen zu erklären, zu der Hypothese ihre Zuflucht nehmen mußten, daß der junge Mann wohl zwey Seelen haben möchte.

Ich übergehe mancherley Scenen, die in seiner Jugend vorfielen, und erzähle nur eine Begebenheit, die seinen ganzen Charakter ins Licht setzt, und in seinem Leben eine entschiedene Epoke machte.

Er hatte von Jugend auf eine reichliche Lebensart genossen, denn seine Eltern waren wohlhabend, lebten und erzogen ihre Kinder, wie es solchen Leuten geziemt; und wenn der Vater in Gesellschaften, beym Spiel und durch zierliche Kleidung mehr als billig war ausgab, so wußte die Mutter als eine gute Haushälterin dem gewöhnlichen Aufwande solche Grenzen zu setzen, daß im Ganzen ein Gleichgewicht blieb und niemal ein Mangel zum Vorschein kommen konnte. Dabey war der Vater als Handelsmann glücklich; es geriethen ihm manche Speculationen, die er sehr kühn unternommen hatte, und weil er gern mit Menschen lebte, hatte er sich in Geschäften auch vieler Verbindungen und mancher Beyhülfe zu erfreuen.

Die Kinder, als strebende Naturen, wählen sich gewöhnlich im Haus das Beyspiel dessen, der am meisten zu leben und zu geniessen scheint. Sie sehen in einem Vater, der sichs wohl seyn läßt, die entschiedene Regel, wornach sie ihre Lebensart einzurichten haben; und weil sie schon früh zu dieser Einsicht gelangen, so schreiten meistentheils ihre Begierden und Wünsche in großer Disproportion der Kräfte ihres Hauses fort. Sie finden sich bald überall gehindert, um so mehr als jede neue Generation neue und frühere Anforderungen macht, und die Eltern den Kindern dagegen meistens nur gewähren möchten, was sie selbst in früherer Zeit genossen, da noch jedermann mäßiger und einfacher zu leben sich bequemte.

Ferdinand wuchs mit der unangenehmen Empfindung heran, daß ihm oft dasjenige fehle, was er an seinen Gespielen sah. Er wollte in Kleidung, in einer gewissen Liberalität des Lebens und Betragens hinter niemandem zurück bleiben, er wollte seinem Vater ähnlich werden, dessen Beyspiel er täglich vor Augen sah, und der ihm doppelt als Musterbild erschien, einmal als Vater, für den der Sohn gewöhnlich ein günstiges Vorurtheil hegt, und dann wieder, weil der Knabe sah, daß der Mann auf diesem Wege ein vergnügliches und genussreiches Leben führte und dabei von jedermann geschätzt und geliebt wurde.

Ferdinand hatte hierüber, wie man sich leicht denken kann, manchen Streit mit der Mutter, da er dem Vater die abgelegten Röcke nicht nachtragen, sondern selbst immer in der Mode seyn wollte. So wuchs er heran und seine Forderungen wuchsen immer vor ihm her, so daß er zuletzt, da er achtzehn Jahre alt war, ganz ausser Verhältniß mit seinem Zustande sich fühlen mußte.

Schulden hatte er bisher nicht gemacht, denn seine Mutter hatte ihm davor den größten Abscheu eingeflößt, sein Vertrauen zu erhalten gesucht und in mehreren Fällen das Äußerste gethan, um seine Wünsche zu erfüllen, oder ihn aus kleinen Verlegenheiten zu reissen. Unglücklicherweise war in eben dem Zeitpunkte, wo er nun als Jüngling noch mehr aufs Äussere sah, wo er durch die Neigung zu einem sehr schönen Mädchen, verflochten in grössere Gesellschaft, sich andern nicht allein gleich zu stellen, sondern vor andern sich hervorzuthun und zu gefallen wünschte, die Mutter in ihrer Haushaltung gedrängter sein als jemals, und anstatt seine Forderungen wie sonst zu befriedigen, fing sie an seine Vernunft, sein gutes Herz, seine Liebe zu ihr in Anspruch zu nehmen, und setzte ihn, indem sie ihn zwar überzeugte aber nicht veränderte, wirklich in Verzweiflung.

Er konnte ohne alles zu verlieren, was ihm so lieb als sein Leben war, die Verhältnisse nicht verändern, in denen er sich befand. Von der ersten Jugend an war er diesem Zustande entgegen gewachsen; er war mit allem, was ihn umgab, zusammen gewachsen; er konnte keine Faser seiner Verbindungen, Gesellschaften, Spaziergänge und Lustparthien zerreissen, ohne zugleich einen alten Schulfreund, einen Gespielen, eine neue ehrenvolle Bekanntschaft und, was das schlimmste war, seine Liebe zu verletzen.

Wie hoch und werth er seine Neigung hielt, begreift man leicht, wenn man erfährt, daß sie zugleich seiner Sinnlichkeit, seinem Geiste, seiner Eitelkeit und seinen lebhaften Hoffnungen schmeichelte. Eins der schönsten, angenehmsten und reichsten Mädchen der Stadt gab ihm, wenigstens für den Augenblick, den Vorzug vor seinen vielen Mitwerbern. Sie erlaubte ihm mit dem Dienst, den er ihr widmete, gleichsam zu prahlen, und sie schienen wechselsweise auf die Ketten stolz zu seyn, die sie einander angelegt hatten. Nun war es ihm Pflicht, ihr überall zu folgen, Zeit und Geld in ihrem Dienste zu verwenden und auf jede Weise zu zeigen, wie werth ihm ihre Neigung und wie unentbehrlich ihm ihr Besitz sey.

Dieser Umgang und dieses Bestreben machte Ferdinand mehr Aufwand als es unter andern Umständen natürlich gewesen wäre. Sie war eigentlich von ihren abwesenden Eltern einer sehr wunderlichen Tante anvertraut worden, und es erforderte mancherley Künste und seltsame Anstalten, um Ottilien, diese Zierde der Gesellschaft, in Gesellschaft zu bringen. Ferdinand erschöpfte sich in Erfindungen, um ihr die Vergnügungen zu verschaffen, die sie so gern genoß und die sie jedem, der um sie war, zu erhöhen wußte.

Und in eben diesem Augenblicke von einer geliebten und verehrten Mutter zu ganz andern Pflichten aufgefordert zu werden; von dieser Seite keine Hülfe zu sehen, einen so lebhaften Abscheu vor Schulden zu fühlen, die auch seinen Zustand nicht lange würden gefristet haben, dabey von jedermann für wohlhabend und freygebig angesehen zu werden, und das tägliche und dringende Bedürfniß des Geldes zu empfinden, war gewiß eine der peinlichsten Lagen, in der sich ein junges, durch Leidenschaften bewegtes Gemüth befinden kann.

Gewisse Vorstellungen, die ihm früher nur leicht vor der Seele vorüber gingen, hielt er nun fester; gewisse Gedanken, die ihn sonst nur Augenblicke beunruhigten, schwebten länger vor seinem Geiste, und gewisse verdrießliche Empfindungen wurden daurender und bitterer. Hatte er sonst seinen Vater als sein Muster angesehen, so beneidete er ihn nun als seinen Nebenbuhler. Von allem, was der Sohn wünschte, war jener im Besitz; alles, worüber dieser sich ängstigte, ward jenem leicht. Und es war nicht etwa von dem Nothwendigen die Rede, sondern von dem, was jeder hätte entbehren können. Da glaubte denn der Sohn, daß der Vater wohl auch manchmal entbehren sollte, um ihn genießen zu lassen. Der Vater dagegen war ganz anderer Gesinnung; er war von denen Menschen, die sich viel erlauben und die deswegen in den Fall kommen denen, die von ihnen abhängen, viel zu versagen. Er hatte dem Sohne etwas gewisses ausgesetzt und verlangte genaue Rechenschaft ja eine regelmäßige Rechnung von ihm darüber.

Nichts schärft das Auge des Menschen mehr als wenn man ihn einschränkt. Darum sind die Frauen durchaus klüger als die Männer, und auf niemand sind Untergebene aufmerksamer, als auf den, der befiehlt, ohne zugleich durch sein Beyspiel voraus zu gehen. So ward der Sohn auf alle Handlungen seines Vaters aufmerksam, besonders auf solche, die Geldausgaben betrafen. Er horchte genauer auf, wenn er hörte, der Vater habe im Spiel verloren oder gewonnen, er beurtheilte ihn strenger, wenn jener sich willkührlich kostspieliges erlaubte.

Ist es nicht sonderbar, sagte er zu sich selbst, daß Eltern, während sie sich mit Genuß allerley Art überfüllen, indem sie blos nach Willkühr ein Vermögen, das ihnen der Zufall gegeben hat, benutzen, ihre Kinder gerade zu der Zeit von jedem billigen Genusse ausschliessen, da die Jugend am empfänglichsten dafür ist! Und mit welchem Rechte thun sie es? Und wie sind sie zu diesem Recht gelangt? Soll der Zufall allein entscheiden, und kann das ein Recht werden, wo der Zufall wirkt? Lebte der Großvater noch, der seine Enkel wie seine Kinder hielt, es würde mir viel besser ergehen; er würde es mir nicht am Nothwendigen fehlen lassen; denn ist uns das nicht nothwendig, was wir in Verhältnissen brauchen, zu denen wir erzogen und geboren sind? der Großvater würde mich nicht darben lassen, so wenig er des Vaters Verschwendung zugeben würde. Hätte er länger gelebt, hätte er klar eingesehen, daß sein Enkel auch werth ist, zu genießen, so hätte er vielleicht in dem Testament mein früheres Glück entschieden. Sogar habe ich gehört, daß der Großvater eben vom Tode übereilt worden, da er seinen letzten Willen aufzusetzen gedachte; und so hat vielleicht blos der Zufall mir meinen frühern Antheil an einem Vermögen entzogen, den ich, wenn mein Vater so zu wirthschaften fortfährt, wohl gar auf immer verlieren kann.

Mit diesen und anderen Sophistereyen über Besitz und Recht, über die Frage, ob man ein Gesetz oder eine Einrichtung, zu denen man seine Stimme nicht gegeben, zu befolgen brauche, und in wiefern es dem Menschen erlaubt sey im Stillen von den bürgerlichen Gesetzen abzuweichen, beschäftigte er sich oft in seinen einsamen verdrießlichsten Stunden, wenn er irgend aus Mangel des baaren Geldes eine Lustparthie oder eine andere angenehme Gesellschaft ausschlagen mußte. Denn schon hatte er kleine Sachen von Werth, die er besaß, vertrödelt und sein gewöhnliches Taschengeld wollte keineswegs hinreichen.

Sein Gemüth verschloß sich und man kann sagen, daß er in diesen Augenblicken seine Mutter nicht achtete, die ihm nicht helfen konnte, und seinen Vater haßte, der ihm überall im Wege zu stehen schien.

Zu eben der Zeit machte er eine Entdeckung, die seinen Unwillen noch mehr erregte. Er bemerkte, daß sein Vater nicht allein kein guter, sondern auch ein unordentlicher Haushälter war. Denn er nahm oft aus seinem Schreibtische in der Geschwindigkeit Geld, ohne es aufzuzeichnen, und fing nachher manchmal wieder an zu zählen und zu rechnen, und schien verdrießlich, daß die Summen mit der Casse nicht übereinstimmen wollten. Der Sohn machte diese Bemerkung mehrmals, und umso empfindlicher ward es ihm, wenn er zu eben der Zeit, da der Vater nur willkührlich in das Geld hinein griff, einen entschiedenen Mangel spürte.

Zu dieser Gemüthsart traf ein sonderbarer Zufall, der ihm eine reizende Gelegenheit gab, dasjenige zu thun, wozu er nur einen dunkeln und unentschiedenen Trieb gefühlt hatte.

Sein Vater gab ihm den Auftrag, einen Kasten alter Briefe durch zu sehen und zu ordnen. Eines Sonntags, da er allein war, trug er ihn durch das Zimmer, wo der Schreibtisch stand, der des Vaters Casse enthielt. Der Kasten war schwer; er hatte ihn unrecht gefaßt, und wollte ihn einen Augenblick absetzen, oder vielmehr nur anlehnen. Unvermögend, ihn zu halten, stieß er gewaltsam an die Ecke des Schreibtisches, und der Deckel desselben flog auf. Er sah nun alle die Rollen vor sich liegen, zu denen er manchmal nur hinein geschielt hatte, setzte seinen Kasten nieder und nahm, ohne zu denken und zu überlegen, eine Rolle von der Seite weg, wo der Vater gewöhnlich sein Geld zu willkührlichen Ausgaben herzunehmen schien. Er drückte den Schreibtisch wieder zu und versuchte den Seitenstoß; der Deckel flog jedesmal auf und es war so gut, als wenn er den Schlüssel zum Pulte gehabt hätte.

Mit Heftigkeit suchte er nunmehr jede Vergnügung wieder, die er bisher hatte entbehren müssen. Er war fleißiger um seine Schöne; alles, was er that und vornahm, war leidenschaftlicher; seine Lebhaftigkeit und Anmuth hatten sich in ein heftiges ja beynahe wildes Wesen verwandelt, das ihm zwar nicht übel ließ, doch niemandem wohlthätig war.

Was der Feuerfunke auf ein geladnes Gewehr, das ist die Gelegenheit zur Neigung, und jede Neigung, die wir gegen unser Gewissen befriedigen, zwingt uns ein Übermaaß von physischer Stärke anzuwenden; wir handeln wieder als wilde Menschen, und es wird schwer, äußerlich diese Anstrengung zu verbergen.

Jemehr ihm seine innere Empfindung widersprach, destomehr häufte Ferdinand künstliche Argumente an einander und desto muthiger und freyer schien er zu handeln, je mehr er sich selbst von einer Seite gebunden fühlte.

Zu derselbigen Zeit waren allerley Kostbarkeiten ohne Werth Mode geworden. Ottilie liebte sich zu schmücken; er suchte einen Weg, sie ihr zu verschaffen, ohne daß Ottilie selbst eigentlich wußte, woher die Geschenke kamen. Die Vermuthung ward auf einen alten Oheim geworfen, und Ferdinand war doppelt vergnügt, indem ihm seine Schöne ihre Zufriedenheit über die Geschenke und ihren Verdacht auf den Oheim zugleich zu erkennen gab.

Aber um sich und ihr dieses Vergnügen zu machen mußte er noch einigemal den Schreibtisch seines Vaters eröffnen, und that es mit desto weniger Sorge, als der Vater zu verschiedenen Zeiten Geld hinein gelegt und herausgenommen hatte, ohne es aufzuschreiben.

Bald darauf sollte Ottilie zu ihren Eltern auf einige Monate verreisen. Die jungen Leute betrübten sich äusserst da sie scheiden sollten, und ein Umstand machte ihre Trennung noch bedeutender. Ottilie erfuhr durch einen Zufall, daß die Geschenke, die sie erhalten hatte, von Ferdinanden kamen; sie setzte ihn darüber zu Rede und als er es gestand, schien sie sehr verdrießlich zu werden. Sie bestand darauf, daß er sie zurücknehmen sollte, und diese Zumuthung machte ihm die bittersten Schmerzen. Er erklärte ihr, daß er ohne sie nicht leben könne noch wolle; er bat sie, ihm ihre Neigung zu erhalten, und beschwur sie ihm ihre Hand nicht zu versagen, sobald er versorgt und häuslich eingerichtet seyn würde. Sie liebte ihn, sie war gerührt, sie sagte ihm zu, was er wünschte, und in diesem glücklichen Augenblicke versiegelten sie ihr Versprechen mit den lebhaftesten Umarmungen und mit tausend herzlichen Küssen.

Nach ihrer Abreise schien Ferdinand sich sehr allein. Die Gesellschaften, in welchen er sie zu sehen pflegte, reizten ihn nicht mehr, indem sie fehlte. Er besuchte nur noch aus Gewohnheit sowohl Freunde als Lustörter, und nur mit Widerwillen griff er noch einigemal in die Casse des Vaters, um Ausgaben zu bestreiten, zu denen ihn keine Leidenschaft nöthigten. Er war oft allein, und die gute Seele schien die Oberhand zu gewinnen. Er erstaunte über sich selbst bey ruhigem Nachdenken, wie er jene Sophistereien über Recht und Besitz, über Ansprüche an fremdes Guth und wie die Rubriken alle heißen mochten, bei sich auf eine so kalte und schiefe Weise habe durchführen und dadurch eine unerlaubte Handlung beschönigen können. Es ward ihm nach und nach deutlich, daß nur Treue und Glauben die Menschen schätzenswerth machen, daß der Gute eigentlich leben müsse, um alle Gesetze zu beschämen, indem ein anderer sie entweder umgehen oder zu seinem Vortheil gebrauchen mag.

Inzwischen eh diese wahren und guten Begriffe bey ihm ganz klar wurden und zu herrschenden Entschlüssen führten, unterlag er doch noch einigemal der Versuchung, aus der verbotenen Quelle in dringenden Fällen zu schöpfen. Niemals that er es aber ohne Widerwillen, und nur wie von einem bösen Geiste an den Haaren hingezogen.

Endlich ermannte er sich und faßte den Entschluß, vor allen Dingen die Handlung sich unmöglich zu machen und seinen Vater von dem Zustande des Schlosses zu unterrichten. Er fing es klug an und trug den Kasten mit den nunmehr geordneten Briefen in Gegenwart seines Vaters durch das Zimmer, beging mit Vorsatz die Ungeschicklichkeit, mit dem Kasten wider den Schreibtisch zu stossen, und wie erstaunte der Vater, als er den Deckel auffahren sah. Sie untersuchten beyde das Schloss und fanden, daß die Schließhaken durch die Zeit abgenutzt und die Bänder wandelbar waren. Sogleich ward alles repariert und Ferdinand hatte seit langer Zeit keinen vergnügtern Augenblick, als da er das Geld in so guter Verwahrung sah.

Aber dieß war ihm nicht genug. Er nahm sich sogleich vor, die Summe, die er seinem Vater entwendet hatte, und die er noch wohl wußte, wieder zu sammlen und sie ihm auf eine oder die andere Weise zuzustellen. Er fing nun an aufs genaueste zu leben und von seinem Taschengelde, was nur möglich war, zu sparen. Freylich war das nur wenig, was er hier zurückhalten konnte, gegen das, was er sonst verschwendet hatte; indessen schien die Summe schon groß, da sie ein Anfang war, sein Unrecht wieder gut zu machen. Und gewiß ist ein ungeheurer Unterschied zwischen dem letzten Thaler, den man borgt, und zwischen dem ersten, den man abbezahlt.

Nicht lange war er auf diesem guten Wege, als der Vater sich entschloß, ihn in Handelsgeschäften zu verschicken. Er sollte sich mit einer entfernten Fabrikanstalt bekannt machen. Man hatte die Absicht in einer Gegend, wo die ersten Bedürfnisse und die Handarbeit sehr wohlfeil waren, selbst ein Kontor zu errichten, einen Compagnon dorthin zu setzen, den Vortheil, den man gegenwärtig andern gönnen mußte, selbst zu gewinnen, und durch Geld und Credit die Anstalt ins Große zu treiben. Ferdinand sollte die Sache in der Nähe untersuchen und davon einen umständlichen Bericht abstatten. Der Vater hatte ihm ein Reisegeld ausgesetzt und ihm vorgeschrieben damit auszukommen; es war reichlich und er hatte sich nicht darüber zu beklagen.

Auch auf seiner Reise lebte Ferdinand sehr sparsam, rechnete und überrechnete und fand, daß er den dritten Theil seines Reisegeldes ersparen könnte, wenn er auf jede Weise sich einzuschränken fortführe. Er hoffte nun auch auf Gelegenheit, zu dem übrigen nach und nach zu gelangen, und er fand sie. Denn die Gelegenheit ist eine gleichgültige Göttin, sie begünstigt das Gute wie das Böse.

In der Gegend, die er besuchen sollte, fand er alles weit vortheilhafter, als man geglaubt hatte. Jedermann ging in dem alten Schlendrian handwerksmäßig fort. Von neu entdeckten Vortheilen hatte man keine Kenntniß, oder man hatte keinen Gebrauch davon gemacht. Man wendete nur mäßige Summen Geldes auf und war mit einem mäßigen Profit zufrieden, und er sah bald ein, daß man mit einem gewissen Capital, mit Vorschüssen, Einkauf des ersten Materials im Großen, mit Anlegung von Maschinen durch die Hülfe tüchtiger Werkmeister eine große und solide Einrichtung würde machen können.

Er fühlte sich durch die Idee dieser möglichen Thätigkeit sehr erhoben. Die herrliche Gegend, in der ihm jeden Augenblick seine geliebte Ottilie vorschwebte, ließ ihn wünschen, daß sein Vater ihn an diesen Platz setzen, ihm das neue Etablissement anvertrauen und ihn so auf eine reichliche und unerwartete Weise ausstatten möchte.

Er sah alles mit größrer Aufmerksamkeit, weil er alles schon als das seinige ansah. Er hatte zum erstenmal Gelegenheit, seine Kenntnisse, seine Geisteskräfte, sein Urtheil anzuwenden. Die Gegend sowohl als die Gegenstände interessirten ihn aufs höchste, sie waren Labsal und Heilung für sein verwundetes Herz, denn nicht ohne Schmerzen konnte er sich des väterlichen Hauses erinnern, in welchem er wie in einer Art von Wahnsinn eine Handlung begehen konnte, die ihm nun das größte Verbrechen zu seyn schien.

Ein Freund seines Hauses, ein wackrer aber kränklicher Mann, der selbst den Gedanken eines solchen Etablissements zuerst in Briefen gegeben hatte, war ihm stets zur Seite, zeigte ihm alles, machte ihn mit seinen Ideen bekannt, und freute sich, wenn ihm der junge Mensch entgegen, ja zuvorkam. Dieser Mann führte ein sehr einfaches Leben, theils aus Neigung, theils weil seine Gesundheit es so forderte. Er hatte keine Kinder; eine Nichte pflegte ihn, der er sein Vermögen zugedacht hatte, der er einen wackern und thätigen Mann wünschte, um mit Unterstützung eines fremden Capitals und frischer Kräfte dasjenige ausgeführt zu sehen, wovon er zwar einen Begriff hatte, wovon ihn aber seine physischen und ökonomischen Umstände zurück hielten.

Kaum hatte er Ferdinanden gesehen, als ihm dieser sein Mann zu seyn schien, und seine Hoffnung wuchs, als er so viel Neigung des jungen Menschen zum Geschäft und zu der Gegend bemerkte. Er ließ seiner Nichte seine Gedanken merken, und diese schien nicht abgeneigt. Sie war ein junges wohlgebildetes, gesundes und auf jede Weise gut geartetes Mädchen. Die Sorgfalt für ihres Oheims Haushaltung erhielt sie immer rasch und thätig, und die Sorge für seine Gesundheit immer weich und gefällig. Man konnte sich zur Gattin keine vollkommnere Person wünschen.

Ferdinand, der nur die Liebenswürdigkeit und die Liebe Ottilies vor Augen hatte, sah über das gute Landmädchen hinweg, oder wünschte, wenn Ottilie einst als seine Gattin in diesen Gegenden wohnen würde, ihr eine solche Haushälterin und Beschließerin beygeben zu können. Er erwiederte die Freundlichkeit und Gefälligkeit des Mädchens auf eine sehr ungezwungene Weise; er lernte sie näher kennen und sie schätzen; er begegnete ihr bald mit mehrerer Achtung und sowohl sie als ihr Oheim legten sein Betragen nach ihren Wünschen aus.

Ferdinand hatte sich nunmehr genau umgesehen und von allem unterrichtet. Er hatte mit Hülfe des Oheims einen Plan gemacht, und nach seiner gewöhnlichen Leichtigkeit nicht verborgen, daß er darauf rechne, selbst den Plan auszuführen. Zugleich hatte er der Nichte viele Artigkeiten gesagt und jede Haushaltung glücklich gepriesen, die einer so sorgfältigen Wirthin überlassen werden könnte. Sie und ihr Onkel glaubten daher, daß er wirklich Absichten habe, und waren in allem um desto gefälliger gegen ihn.

Nicht ohne Zufriedenheit hatte Ferdinand bey seinen Untersuchungen gefunden, daß er nicht allein auf die Zukunft vieles von diesem Platze zu hoffen habe, sondern daß er auch gleich jetzt einen vortheilhaften Handel schliessen, seinem Vater die entwendete Summe wieder erstatten und sich also von dieser drückenden Last auf einmal befreyen könne. Er eröffnete seinem Freund die Absicht seiner Spekulation, der eine außerordentliche Freude darüber hatte, und ihm alle mögliche Beyhülfe leistete, ja er wollte seinem jungen Freunde alles auf Credit verschaffen, das dieser jedoch nicht annahm, sondern einen Theil davon sogleich von dem Überschusse des Reisegeldes bezahlte, und den andern in gehöriger Frist abzutragen versprach.

Mit welcher Freude er die Waaren packen und laden ließ, war nicht auszusprechen, mit welcher Zufriedenheit er seinen Rückweg antrat, läßt sich gedenken. Denn die höchste Empfindung, die der Mensch haben kann, ist die, wenn er sich von einem Hauptfehler, ja von einem Verbrechen durch eigne Kraft erhebt und los macht. Der gute Mensch, der ohne auffallende Abweichung vom rechten Pfade vor sich hinwandelt, gleicht einem ruhigen lobenswürdigen Bürger, da hingegen jener als ein Held und Überwinder Bewunderung und Preiß verdient, und in diesem Sinne scheint das paradoxe Wort gesagt zu seyn, daß die Gottheit selbst an einem zurückkehrenden Sünder mehr Freude habe, als an neun und neunzig Gerechten.

Aber leider konnte Ferdinand durch seine guten Entschlüsse, durch seine Besserung und Wiedererstattung die traurigen Folgen der That nicht aufheben, die ihn erwarteten, und die sein schon wieder beruhigtes Gemüth aufs neue schmerzlich kränken sollten. Während seiner Abwesenheit hatte sich das Gewitter zusammengezogen, das gerade bey seinem Eintritte in das väterliche Haus losbrechen sollte.

Ferdinands Vater war, wie wir wissen, was seine Privatcasse betraf, nicht der ordentlichste, die Handlungssachen hingegen wurden von einem geschickten und genauen Associe sehr richtig besorgt. Der Alte hatte das Geld, das ihm der Sohn entwendete, nicht eben gemerkt, ausser daß unglücklicherweise darunter ein Paquet einer in diesen Gegenden ungewöhnlichen Münzsorte gewesen war, die er einem Fremden im Spiel abgewonnen hatte. Diese vermißte er und der Umstand schien ihm bedenklich. Allein was ihn äusserst beunruhigte war, daß ihm einige Rollen, jede mit hundert Dukaten, fehlten, die er vor einiger Zeit verborgt, aber gewiß wiedererhalten hatte. Er wusste, daß der Schreibtisch sonsten durch einen Stoß aufgegangen war, er sah als gewiß an, daß er beraubt sey, und gerieth darüber in die äusserste Heftigkeit. Sein Argwohn schweifte auf allen Seiten herum. Unter den fürchterlichsten Drohungen und Verwünschungen erzählte er den Vorfall seiner Frau; er wollte das Haus um und um kehren, alle Bediente, Mägde und Kinder verhören lassen, niemand blieb von seinem Argwohn frei. Die gute Frau tat ihr möglichstes, ihren Gatten zu beruhigen; sie stellte ihm vor, in welche Verlegenheit und Discredit diese Geschichte ihn und sein Haus bringen könnte, wenn sie ruchbar würde, daß niemand an dem Unglück, das uns betreffe, Antheil nehme, als nur um uns durch sein Mitleid zu demüthigen; daß bey einer solchen Gelegenheit weder er noch sie verschont werden würden; daß man noch wunderlichere Anmerkungen machen könnte, wenn nichts heraus käme, daß man vielleicht den Thäter entdecken, und, ohne ihn auf Zeitlebens unglücklich zu machen, das Geld wieder erhalten könne. Durch diese und andere Vorstellungen bewog sie ihn endlich ruhig zu bleiben, und durch stille Nachforschung der Sache näher zu kommen.

Und leider war die Entdeckung schon nahe genug. Ottiliens Tante war von dem wechselseitigen Versprechen der jungen Leute unterrichtet. Sie wußte von den Geschenken, die ihre Nichte angenommen hatte. Das ganze Verhältniß war ihr nicht angenehm, und sie hatte nur geschwiegen, weil ihre Nichte abwesend war. Eine sichere Verbindung mit Ferdinand schien ihr vortheilhaft, ein ungewisses Abentheuer war ihr unerträglich. Da sie also vernahm, daß der junge Mensch bald zurückkommen sollte, da sie auch ihre Nichte täglich wieder erwartete, eilte sie, von dem, was geschehen war, den Eltern Nachricht zu geben und ihre Meynung darüber zu hören, zu fragen, ob eine baldige Versorgung für Ferdinand zu hoffen sey, und ob man in eine Heirath mit ihrer Nichte willige.

Die Mutter verwunderte sich nicht wenig, als sie von diesen Verhältnissen hörte. Sie erschrack, als sie vernahm, welche Geschenke Ferdinand an Ottilien gegeben hatte. Sie verbarg ihr Erstaunen, bat die Tante, ihr einige Zeit zu lassen, um gelegentlich mit ihrem Manne über die Sache zu sprechen, versicherte, daß sie Ottilien für eine vortheilhafte Parthie halte, und daß es nicht unmöglich sey, ihren Sohn nächstens auf eine schickliche Weise auszustatten.

Als die Tante sich entfernt hatte, hielt sie es nicht für räthlich, ihrem Mann die Entdeckung zu vertrauen. Ihr lag nur daran, das unglückliche Geheimniß aufzuklären, ob Ferdinand, wie sie fürchtete, die Geschenke von dem entwendeten Geld gemacht habe? Sie eilte zu dem Kaufmann, der diese Art Geschmeide vorzüglich verkaufte, feilschte um ähnliche Dinge und sagte zuletzt: er müsse sie nicht übertheuern, denn ihrem Sohn, der eine solche Commission gehabt, habe er die Sachen wohlfeiler gegeben. Der Handelsmann betheuerte nein! zeigte die Preiße genau an und sagte dabey: man müsse noch das Agio der Geldsorte hinzurechnen, in der Ferdinand zum Theil bezahlt habe. Er nannte ihr zu ihrer größten Betrübniß die Sorte; es war die, die dem Vater fehlte.

Sie ging nun, nachdem sie sich zum Scheine die nächsten Preise aufsetzen lassen, mit sehr bedrängtem Herzen hinweg. Ferdinands Verirrung war zu deutlich, die Rechnung der Summe, die dem Vater fehlte, war groß, und sie sah nach ihrer sorglichen Gemüthsart die schlimmste That und die fürchterlichsten Folgen. Sie hatte die Klugheit, die Entdeckung vor ihrem Manne zu verbergen; sie erwartete die Zurückkunft ihres Sohnes mit getheilter Furcht und Verlangen. Sie wünschte sich aufzuklären, und fürchtete das Schlimmste zu erfahren.

Endlich kam er mit großer Heiterkeit zurück. Er konnte Lob für sein Geschäft erwarten, und brachte zugleich in seinen Waaren heimlich das Lösegeld mit, wodurch er sich von dem geheimen Verbrechen zu befreyen gedachte.

Der Vater nahm seine Relation gut, doch nicht mit solchem Beyfall auf, wie er hofte, denn der Vorgang mit dem Gelde machte den Mann zerstreut und verdrießlich, um so mehr als er einige ansehnliche Posten in diesem Augenblick zu bezahlen hatte. Diese Laune des Vaters drückte ihn sehr, noch mehr die Gegenwart der Wände, der Mobilien, des Schreibtisches, die Zeugen seines Verbrechens gewesen waren. Seine ganze Freude war hin, seine Hoffnungen und Ansprüche; er fühlte sich als einen gemeinen, ja als einen schlechten Menschen.

Er wollte sich eben nach einem stillen Vertriebe der Waaren, die nun bald ankommen sollten, umsehen, und sich durch die Thätigkeit aus seinem Elende herausreissen, als die Mutter ihn bey Seite nahm und ihm mit Liebe und Ernst sein Vergehen vorhielt, und ihm auch nicht den mindesten Ausweg zum Leugnen offen ließ. Sein weiches Herz war zerrissen; er warf sich unter tausend Thränen zu ihren Füßen, bekannte, bat um Verzeihung, betheuerte, daß nur die Neigung zu Ottilien ihn verleiten können, und daß sich keine andere Laster zu diesem jemals gesellt hätten. Er erzählte darauf die Geschichte seiner Reue, daß er vorsetzlich dem Vater die Möglichkeit, den Schreibtisch zu eröffnen, entdeckt, und daß er durch Ersparniß auf der Reise und durch eine glückliche Speculation sich im Stande sehe, alles wieder zu ersetzen.

Die Mutter, die nicht gleich nachgeben konnte, bestand darauf zu wissen, wo er mit den großen Summen hingekommen sey, denn die Geschenke betrügen den geringsten Theil. Sie zeigte ihm zu seinem Entsetzen eine Berechnung dessen, was dem Vater fehlte; er konnte sich nicht einmal ganz zu dem Silber bekennen, und hoch und theuer schwur er, von dem Golde nichts angerührt zu haben. Hierüber war die Mutter äußerst zornig. Sie verwieß ihm, daß er in dem Augenblicke, da er durch aufrichtige Reue seine Besserung und Bekehrung wahrscheinlich machen sollte, seine liebevolle Mutter noch mit Leugnen, Lügen und Mährchen aufzuhalten gedenke, daß sie gar wohl wisse, wer des einen fähig sey, sey auch alles übrigen fähig. Wahrscheinlich habe er unter seinen liederlichen Kameraden Mitschuldige, wahrscheinlich sey der Handel, den er geschlossen, mit dem entwendeten Gelde gemacht, und schwerlich würde er davon etwas erwähnt haben, wenn die Übelthat nicht zufällig wäre entdeckt worden. Sie drohte ihm mit dem Zorne des Vaters, mit bürgerlichen Strafen, mit völliger Verstossung, doch nichts kränkte ihn mehr, als daß sie ihn merken ließ, eine Verbindung zwischen ihm und zwischen Ottilien sey eben zur Sprache gekommen. Sie verließ ihn mit gerührtem Herzen in dem traurigsten Zustande. Er sah seinen Fehler entdeckt, er sah sich in dem Verdachte, der sein Verbrechen vergrößerte. Wie wollte er seine Eltern überreden, daß er das Gold nicht angegriffen? Bey der heftigen Gemüthsart seines Vaters mußte er einen öffentlichen Ausbruch befürchten; er sah sich im Gegensatze von allem dem, was er seyn konnte. Die Aussicht auf ein thätiges Leben, auf eine Verbindung mit Ottilien verschwand. Er sah sich verstoßen, flüchtig, und in fremden Weltgegenden allem Ungemach ausgesetzt.

Aber selbst alles dieses, was seine Einbildungskraft verwirrte, seinen Stolz verletzte, seine Liebe kränkte, war ihm nicht das Schmerzlichste. Am tiefsten verwundete ihn der Gedanke, daß sein redlicher Vorsatz, sein männlicher Entschluß, sein befolgter Plan, das Geschehene wieder gut zu machen, ganz verkannt, ganz geleugnet, gerade zum Gegentheil ausgelegt werden sollte. Wenn ihn jene Vorstellungen zu einer dunkeln Verzweiflung brachten, indem er bekennen mußte, daß er sein Schiksal verdient habe, so ward er durch diese aufs innigste gerührt, indem er die traurige Wahrheit erfuhr, daß eine Übeltat selbst gute Bemühungen zu Grunde zu richten im Stande ist. Diese Rückkehr auf sich selbst, diese Betrachtung, daß das edelste Streben vergebens seyn sollte, machte ihn weich; er wünschte nicht mehr zu leben.

In diesen Augenblicken dürstete seine Seele nach einem höhern Beystand. Er fiel an seinem Stuhle nieder, den er mit seinen Thränen benetzte, und forderte Hülfe vom göttlichen Wesen. Sein Gebet war eines erhörenswerthen Innhalts: der Mensch, der sich selbst vom Laster wieder erhebt, habe Anspruch auf eine unmittelbare Hülfe, derjenige, der keine seiner Kräfte ungebraucht lasse, könne sich da, wo sie eben ausgehen, wo sie nicht hinreichen, auf den Beystand des Vaters im Himmel berufen.

In dieser Überzeugung, in dieser dringenden Bitte verharrte er eine Zeitlang und bemerkte kaum, daß seine Thüre sich öffnete und jemand hereintrat. Es war die Mutter, die mit heiterm Gesichte auf ihn zukam, seine Verwirrung sah und ihn mit tröstlichen Worten anredete. Wie glücklich bin ich, sagte sie, daß ich dich wenigstens als keinen Lügner finde, und daß ich deine Reue für wahr halten kann. Das Gold hat sich gefunden; der Vater, als er es von einem Freunde wieder erhielt, gab es dem Cassier aufzuheben, und durch die vielen Beschäftigungen des Tages zerstreut, hat er es vergessen. Mit dem Silber stimmt deine Angabe ziemlich zusammen, die Summe ist nun viel geringer. Ich konnte die Freude meines Herzens nicht verbergen, und versprach dem Vater die fehlende Summe wieder zu verschaffen, wenn er sich zu beruhigen und weiter nach der Sache nicht zu fragen verspräche.

Ferdinand ging sogleich zur größten Freude über. Er eilte sein Handelsgeschäft zu vollbringen, stellte bald der Mutter das Geld zu, ersetzte selbst das, was er nicht genommen hatte, wovon er wußte, daß bloß durch die Unordnung des Vaters in seinen Ausgaben vermißt wurde. Er war fröhlich und heiter, doch hatte dieser ganze Vorfall eine sehr ernsthafte Wirkung bei ihm zurückgelassen. Er hatte sich überzeugt, daß der Mensch Kraft habe, das Gute zu wollen und zu vollbringen; er glaubte nun auch, daß dadurch der Mensch das göttliche Wesen für sich interessiren und sich dessen Beystand versprechen könne, den er so eben unmittelbar erfahren hatte. Mit großer Freudigkeit entdeckte er nun dem Vater seinen Plan, sich in jenen Gegenden niederzulassen. Er stellte die Anstalt in ihrem ganzen Werthe und Umfang vor; der Vater war nicht abgeneigt und die Mutter entdeckte heimlich ihrem Gatten das Verhältniß Ferdinands zu Ottilien. Diesem gefiel eine so glänzende Schwiegertochter, und die Aussicht, seinen Sohn ohne Kosten ausstatten zu können, war ihm sehr angenehm.

(Die Fortsetzung folgt.)

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