HomeDie Horen1796 - Stück 1V. Über Poesie, Sylbenmaaß und Sprache. [Wilhelm Schlegel]

V. Über Poesie, Sylbenmaaß und Sprache. [Wilhelm Schlegel]

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Dritter Brief.

(Siehe das Eilfte Stück der Horen. Jahrg. 1795.)

Ein Kayser von Sina, Nahmens Tscho-yong, welcher vor vielen Jahrtausenden lebte, hörte eines Tages auf einem Spaziergange (die Regierungsgeschäfte mochten ihm wohl einige Muße übrig lassen) ein Konzert der Vögel. Es gefiel ihm ungemein, er beschloß auch eins dergleichen anzustellen, und erfand durch diese Veranlassung eine wunderwürdige und unwiderstehliche Musik, welche die Leidenschaften besänftigte, die unregelmäßigen Wallungen im menschlichen Körper hemmte, und dadurch sogar das Leben verlängerte. Seitdem sind nun die Sineser, Dank dem klugen und geschmackvollen Tscho-yong, im Besitz einer so vortrefflichen Kunst; und da es unhöflich seyn würde, die Erfindungen eines Kaysers unvollkommen zu finden, so kann man sich leicht denken, daß sie nur weniges werden hinzugesetzt oder verändert haben. Vermuthlich werden sie auch, wenn es dem Himmel gefällt, in alle Ewigkeit auf eben dem Fuß zu musiziren fortfahren.

Verachte mir dieß alberne Mährchen nicht zu sehr, liebe Amalie. Vielleicht ist es recht passend für den Charakter der Sinesischen Musik, deren Langweiligkeit leicht an die Langeweile eines Monarchen erinnern mag. Freylich wird darin nicht erwähnt, ob seine Majestät den Takt aus eignem Belieben ersonnen; oder ob die Vögel in Sina zur Zeit Tscho-yongs, welcher der sechzehnte Fürst der neunten Periode war, taktmäßig gesungen haben; oder ob diese kayserliche Musik ganz ohne Takt bestehen konnte. Allein ich habe in mehreren angeblich philosophischen Schriften, die von der Verwandschaft der Poesie und Musik und von der Verwandschaft der Poesie und Musik und von ihrem gemeinschaftlichen Ursprunge handeln, keinen bessern Aufschluß über die Erfindung des Zeitmaaßes gefunden. Man nimmt darinn den natürlichen Hang des Menschen, seine Gefühle durch Töne und Bewegungen des Körpers auszudrücken, für die einzige und hinreichende Grundlage des Gesanges und Tanzes an. In so fern man hierunter nichts weiter als starke, leidenschaftliche Biegungen der Stimme, und wilde Gebährden und Sprünge versteht, (und nur zu solchen beseelt die bloße Empfindung) gehört die Vorstellung von einem Zeitmaaße gar nicht dazu. Trägt man aber diese gleich mit in die Worte hinein, wie es ihr gewöhnlicher Gebrauch erfodert, so verwechselt man willkührlich die Bedeutungen, und überspringt die eigentliche Schwierigkeit der Frage, indem man das als schon vorhanden voraussetzt, wovon die Entstehung erst erklärt werden soll.

Allerdings läßt sich eine Musik von Instrumenten ohne Takt gar nicht denken; auch die von Instrumenten begleitete Stimme ist durchaus an die Beobachtung desselben gebunden; aber wenn sie sich ganz allein hören läßt, so darf sie in diesem Stücke ihre natürliche Freyheit wieder geltend machen, und darin auch neben dem künstlichsten Reichthum musikalischer Zusammensetzung gefallen wollen. Du siehst, ich rede vom Rezitatif, das besonders in der Italiänischen Oper eine so schöne Stelle einnimmt, und dem man doch den Nahmen eines Gesanges nicht versagen kann. Die Kennzeichen, woran das Ohr die singende Stimme von der redenden unterscheidet, (auf welchem verschiednen Spiel der Organe die Eigenthümlichkeit beyder auch beruhen möge) sind ein gewisses Schweben, das den Tönen Dauer verleiht; ihre Bestimmbarkeit in Ansehung der Höhe und Tiefe; und der Übergang von einem zum andern nach bestimmbaren Zwischenräumen oder Stufen. Im Gesange der Nachtigall, bey welchem dieß alles eintrifft, und der so sehr Gesang ist, daß man versuchen konnte, ihn musikalisch aufzuzeichnen, bemerkt man nichts, was einem Zeitmaaße gliche.

Dürfte man in der Geschichte der Entwickelung der menschlichen Fähigkeiten die Erfindung eines Instruments vor den ersten Übungen der Stimme im Gesange vorangehen lassen, so wäre dadurch die Schwierigkeit der Auflösung um vieles verringert, aber keinesweges ganz gehoben. Da musikalische Instrumente erst durch eine künstliche Nachahmung einigermaaßen den Ausdruck der Empfindung errechen können, welcher den Stimmen lebender Geschöpfe ursprünglich eigen ist, so kann ihre erste Anwendung keine andre seyn, als bloß das Ohr zu ergötzen. Dieß vermögen sie durch einzelne Töne in keinem erheblichen Grade, und durch eine Folge derselben, nach unserm Urtheile wenigstens, nicht anders, als wenn darin ein Gesetz des Zeitmaaßes obwaltet. Es ist daher nicht fremde, daß der Mensch, wenn er sich einmahl das Ergötzen zum Geschäft machte, mancherley Versuche anstellte, und gleichsam so lange herumtastete, bis er das Rechte traf. Indessen sind ungeübte, aber nach allem begierige Sinne äusserst leicht zu befriedigen. Das armseligste Geklimper oder Geklingel bezaubert das Ohr eines Kindes oder eines Wilden, und ihr Entzücken über das schon Gefundne entfernt sie von dem Streben nach einer höhern, noch unbekannten Vollkommenheit. Vaillant beschreibt sehr artig ein Konzert seiner Hottentotten: er hatte ihnen Maultrommeln und andre dergleichen Instrumente ausgetheilt; nun spielten sie ohne allen Takt auf das betäubendste durch einander, und fanden dennoch ein unbeschreibliches Vergnügen daran. Doch wir brauchen so weit nicht zu suchen: wie lärmen unsre Knaben nach einem Jahrmarkte mit ihren neuen Trommeln, Pfeifen oder Geigen durch die Gassen! Und scheinen sie bey dieser musikalischen Ergötzlichkeit wohl im geringsten das Bedürfniß des Taktes zu fühlen?

Der Schriftsteller, bey dem ich das obige Mährchen angeführt sah, nimmt es so, als ob demselben zufolge, in Sina die Instrumentalmusik früher erfunden wäre als der Gesang. Mir scheint es nicht ausdrücklich der Vorstellung zu widersprechen, der Kayser habe sein menschliches Vögelkonzert bloß durch Singstimmen zu Stande gebracht. Allein, gesetzt auch, das Gegentheil würde deutlich gemeldet, so muß das Ansehen einer Sage immer durch die innre Wahrscheinlichkeit der Begebenheiten unterstützt werden, und kann gegen sie nichts gelten. Die Vermuthung, daß die Menschen, als Spiel und Gesang schon durch viele Fortschritte zu einer üblichen Unterhaltung geworden, und ihr Ohr für musikalischen Genuß mehr gebildet war, eine beschämende Vergleichung zwischen dem lieblichen Klange einiger Vögelstimmen und der Rauhigkeit ihrer eignen angestellt, und sich bemüht haben, jene nachzuahmen: diese Vermuthung möchte ich nicht ganz verwerfen. Dagegen wissen wir historisch, daß die meisten Völker nie eine eigentliche, das heißt ohne Gesang für sich bestehende, Instrumentalmusik gekannt haben, und daß diese, wo sie etwa eingeführt ward, zu den späten, schwächenden Verfeinerungen der Kunst gehörte. Das Werkzeug des Gesanges bringt der Mensch mit auf die Welt, es begleitet ihn in jedem Augenblicke seines Lebens, und die Antriebe des Gefühls setzen es früh auf mannichfaltige Weise in Bewegung: die ersten unförmlichen Lieder mußten daher ohne Absicht, fast ohne Bewußtseyn entstehn. Aber der Gebrauch eines äußern Werkzeuges, wäre es auch nur ein gespaltnes Bambusrohr, zur Begleitung des Gesanges, erfodert Überlegung, Benutzung der Natur, die nichts ohne Zubereitung dazu taugliches darbietet, ja sogar einige Beobachtungen über die Gesetze des Schalles. So wunderwürdig schienen auch der Vorwelt solche Erfindungen, daß nach der Griechischen sage nur der sinnreichste aller Götter den Einfall haben konnte, einige Schaafsdärme über eine Schildkrötenschale zu spannen.

Aber wie? so hast du mir vielleicht schon vorhin eingewandt: schreibt nicht die Beschaffenheit der Empfindung selbst den Bewegungen einen gewissen Takt vor? Hüpft nicht die Freude mit raschem, schleicht nicht die Traurigkeit mit gedehntem Tritt? Und verhält es sich nicht eben so mit schnellen und langsamen Tonfolgen? Um diesen Zweifel aufzuklären, denke dir eine Reihe von gleich lange daurenden, oder in gleichen Zeiträumen auf einander folgenden Schällen; zum Beyspiel den Schlag des Pulses, das Picken einer Uhr, das Läuten einer Glocke. Du siehst, alles dieß kann uns durchaus keine andre Vorstellung als die von schnelle und Langsamkeit geben, und hat nicht die entfernteste Beziehung auf den Charakter verschiedner Empfindungen. Sobald hingegen Rhythmus entsteht, das heißt, sobald Abwechselung in die Dauer der einzelnen Eindrücke gebracht, und Längen mit Kürzen gemischt werden, so kann eine solche Tonfolge auch ohne Hülfe der Modulazion schon einigen Einfluß auf unser Gemüth haben, es erwecken oder beruhigen. Bemerke ferner, daß wir aus dem langsameren oder schnelleren Zeitmaaße der Schritte eines Menschen an sich nichts weiter erfahren, als den Grad seiner Eile nach einem gewissen Ziele zu gelangen; seine Gemüthslage verräth sich erst durch andre hinzukommende Bewegungen, die zwar mit dem Gange übereinstimmen, aber doch nicht bloß durch die Art der Folge, sondern jede für sich betrachtet, bedeutend sind. Überhaupt muß eine Leidenschaft schon bis zur Stimmung, zum fortwährenden Zustande der Seele, gemildert seyn, wenn ein gewisses Ebenmaaß in ihrem Ausdrucke Statt finden soll. Denn was uns am stärksten erschüttert, hat am wenigsten Bestand, und deswegen äussern sich in der Natur die lebhaftesten Gefühle, in stürmischen, völlig unregelmäßigen Folgen von Bewegungen und Tönen. Führt dieß nicht auf die Folgerung, daß also in beyden nicht das Abgemessene, das gleichförmig Wiederkehrende, sondern das Abwechselnde, die Übergänge von einem zum andern, der Empfindung entsprechen und sie wieder erregen?

Und doch, wirst du sagen, ist es so fühlbar, daß der jeder Melodie angemessene Takt die Seele derselben ist. Das ist er allerdings: allein erinnre dich, wir sind hier schon im Gebiete der Kunst, die nicht bey unmittelbarer Nachahmung der Natur stehen bleibt, sondern durch eine Art von Erdichtung sich ihr wieder nähert. Ein zusammengesetztes Gefühl, welches die Seele aber doch auf einmahl fassen kann, entfaltet der Musiker nach der feinsten Eigenthümlichkeit desselben in einer melodischen Folge von Tönen, und legt durch das bestimmte Verhältniß ihres Fortschrittes dem fliehenden Augenblicke gleichsam Fesseln an; oder man kann auch sagen, er bildet aus Empfindungen ein geordnetes Ganze, was sie eigentlich in der Wirklichkeit niemahls sind. Das Sylbenmaaß kann in der Poesie etwas ähnliches leisten: aber welche geübte, besonnene Emfänglichkeit gehört dazu, solch eine Wirkung nur wahrzunehmen, geschweige dann, sie selbst hervorbringen zu wollen! Wir müssen uns wohl hüten, den schönen Gebrauch einer Erfindung mit dem, was sie zuerst veranlasste, zu verwechseln.

Ein Schriftsteller, der glücklicher darin war, Geheimnisse in die Gegenstände seiner Nachforschung hineinzulegen, als die darin liegenden zu lösen, oder der dieß wenigstens gern auf eine geheimnißvolle Art that; dem es eine allzu reizbare Organisation schwer machen mußte, das wirklich Wahrgenommene vom Eingebildeten zu scheiden; findet den Ursprung des Zeitmaaßes im Tanze und Gesange darin, daß den körperlichen Bewegungen, und den ausgesprochnen oder gesungnen Worten, wozu bloß Leidenschaft den Menschen dringt, ein äußrer Zweck mangelt. Der gewöhnliche Gang, sagt er, hat zur Absicht irgend wohin zu führen; die gewöhnliche Rede, uns Andern verständlich zu machen. Da beym Tanze und Gesange solch ein äußres Bedürfniß ganz wegfällt, und folglich diese Handlungen um ihrer selbst willen vorgenommen werden, etwas an sich ganz weckloses aber uns kein Vergnügen gewähren kann, so strebt die Seele unwillkührlich darnach, sich einen Grund angeben zu können, warum sie jedesmahl die Bewegungen und Töne so oder so auf einander folgen lasse. Dieß erlangt sie nun durch ein innres Gesetz, ein Maaß ihrer Folge. Indessen strebte sie vielleicht lange vergeblich, bis etwa zufälliger Weise dieselbe Abwechselung langsamerer und schnellerer Bewegungen mehrere Mahle auf einander folgte. Dieß immer in gleicher Ordnung Wiederkehrende fesselte die Aufmerksamkeit, prägte sich dem Gedächtnisse ein, ward bewundert, nachgeahmt und allmählich zum künstlichen, regelmäßigen Tanze, oder in Ansehung der Poesie zum künstlichen regelmäßigen Versbau gebildet.

Ich habe dir diese Erklärung umständlich angeführt, weil sie in einem sonst schätzbaren Buche, nämlich der Deutschen Prosodie von Moriz, steht; denn freylich ist sie zu lustig, als daß sie uns lange aufhalten dürfte. Die Redensart „zufälliger Weise“ gebraucht der Verfasser mehrmahls, und das ist schon ein übles Zeichen. Erlaubt man es sich einmahl, bey einer, wenn ich so sagen darf, dem ganzen Menschengeschlechte gemeinschaftlichen Erfindung, den Zufall zu Hülfe zu rufen, so kann man sich die Mühe dieser und aller ähnlichen Untersuchungen ersparen, und jenem blinden Gotte die Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten überhaupt anvertrauen. Wäre der Satz wahr, daß nichts Zweckloses uns Vergnügen gewähren könne, so müßte man entweder behaupten, kein bloß sinnlicher Genuß reiche über die Befriedigung des Bedürfnisses hinaus, oder man müßte dem Worte „Zweck“ eine höchst seltsame Ausdehnung geben. In dem gebräuchlichen Sinne sind Zwecke bloß Sache des Verstandes; folglich handelt nur der gebildete Mensch nach ihnen, und auch dieser nicht, sobald Leidenschaften seinen Verstand ganz übermeistern. Dieß ist in der kindischen Seele des unerzognen Natursohns unaufhörlich der Fall: er ist daher der Gewalt jedes dunkeln Antriebes hingegeben. Eine lebhafte Regung nöthigt ihn, ohne allen weitern Zweck, sie in Gebährden und Tönen auszudrücken: aber wird wohl jemand noch nach einem Zwecke fragen, wo ein dringendes Bedürfniß befriedigt wird? Nähme man indessen auch an, die Erfindung des Taktes gehöre erst in die Zeiten, wo durch Gesang und Tanz nicht mehr eigne und gegenwärtige Leidenschaft ausgedrückt, sondern fremde oder vormahlige zur Ergötzung nachgeahmt wurde, so ist ja doch Genuß des Daseyns der Mittelpunkt aller Zwecke, und was unmittelbar dazu dient, steht in ihrer Rangordnung oben an. Wenn also die wahrste Nachahmung, die gewiss als solche kein Zeitmaaß beobachtete, wie aus der Natur der Leidenschaften erhellt, schon an sich ergötzen mußte, so war ja nichts Zweckloses darin.

Ferner begreife ich nicht, wie Moriz den Zweck der Rede darauf einschränken kann, daß man sich verständlich machen will. Soll sie nicht noch in Zeiten der Verfeinerung, sollte sie nicht um so viel mehr, je näher die Sprache ihrem Ursprunge war, Theilnahme an den Empfindungen des Redenden erregen? Und sollten dieß nicht gleichfalls die ältesten Lieder, wofern man nicht etwa annimmt, ihre Urheber haben sie nur sich selbst vorgesungen? Endlich ist das Fortschreiten von einem Orte zum andern, worauf hier die Vergleichung des Tanzes mit dem Gange sich gründet, ein durchaus unwesentlicher Umstand. Es giebt sehr belebte Tänze, bey denen man seine Stelle gar nicht verläßt; ja auf den freundschaftlichen Inseln im Südmeer sah man dergleichen, wobey nicht einmahl die Füße wechselweise gehoben wurden. Der Tanz hat freylich ein bestimmtes Ziel der Bewegungen wie der Gang; aber die ausdrucksvollen Gebährden, aus denen er mit Hinzufügung des Taktes entstanden ist, haben es eben so wenig.

Es fehlt so viel, daß die Rede, sobald sie sich in die Form eines Gesanges fügt, dem Dienste eines äußern Zweckes entzogen würde, daß Poesie vielmehr in den frühesten Zeiten nicht nur als Angelegenheit betrieben wurde; sondern auch an allen Angelegenheiten des Lebens den wichtigsten Antheil hatte; und daß sich bey einigen, zum Beyspiel beym Gottesdienste, die uralte Sitte sogar bis auf uns fortgepflanzt hat. In Liedern wurden von jeher die Götter angefleht und gepriesen; in Liedern die Todten betrauert; Lieder bereiteten die Krieger zum Kampfe vor. Bey Völkern, die schon längst in vielen Hinsichten gesittet heißen konnten, wurden die Gesetze noch als Lieder abgefasst und gesungen. Die Araber haben im Tempel zu Mekka zwey Liedern einen unsterblichen Platz angewiesen, wodurch die Abgesandten zweyer Stämme im Namen derselben ein Bündniß feyerlich besiegelten. Der eine von ihnen, Hareth Ben Helsa, ließ, auf seinen Bogen gelehnt, die Eingebungen des Augenblicks im höchsten Feuer der Begeisterung hinströmen. Sowohl auf den Inseln des Südmeers als in andern Gegenden wurden die Europäischen Weltumsegler von den Eingebohrnen mit abgemessenem Gesange bewillkommt. Durch stolze Lieder bietet der Amerikanische Wilde mitten in der Todesqual seinen Feinden Trotz. Es ist daher auch nichts unglaubliches in der Sage, daß die Nordischen Helden oft mit Liedern, in denen sie ihre eignen Thaten verherrlichten, vom Leben Abschied nahmen. Du kennst vielleicht den Gesang, womit Regner Zodbrog, der Dänische König, lächelnd im Kerker starb. Ein andrer Held, Hallmund genannt, dichtete, tödtlich verwundet, ein Lied von ähnlichem Inhalt, und hieß seine Tochter es aufbewahren. Solche Gedichte waren kein Gedicht: die Poesie, welche diese Männer im Leben und Tode begleitete, war ihr heiligster Ernst, ihre lebendigste Wahrheit.

Wüßte man nicht historisch das Gegentheil, so könnte man leicht auf den Gedanken gerathen, das Zeitmaaß gehöre unter die spätern Erfindungen; der Gesang habe, so lange nur wirkliche Leidenschaft ihn eingab, in dithyrambischer Freyheit geschwärmt, und erst als er zum ergötzenden Spiele geworden, habe man den Mangel jenes ursprünglichen Nachdrucks durch einen kunstmäßigen Reiz zu ersetzen gesucht. Aber die Beobachter wilder Völker rühmen einstimmig die wunderwürdige Genauigkeit im Takt, womit sie ihre Gesänge und Tänze aufführen. Selbst die kannibalischen Schlachtlieder der Neuseeländer, wobey die furchtbarste Wuth ihre Augen verdreht und alle ihre Gesichtszüge verzerrt, werden vollkommen taktmäßig gesungen.

Wenn man also nicht annehmen kann, der ordnende Geist sey es, der sich durch Regelmäßigkeit in den Ausbrüchen der ungestümsten Leidenschaften herrschend beweise; wenn ferner die, besonders in kindischen Seelen, so unstäten und rasch wechselnden Gefühle nichts abgemessenes an sich haben: so müssen wir uns nach einem andern Grunde dieser Erscheinung umsehn, und diejenige Art sie zu erklären, wobey man der besonnenen Absicht am wenigsten einräumt, wird die wahrscheinlichste seyn. Indessen scheint alles Messen, weil es auf einer Vergleichung beruht, ein Geschäft der denkenden Kraft in uns zu seyn. Körperliche Gegenstände, die man nach ihrer Ausdehnung gegen einander messen will, hat man oft zugleich vor Augen: aber in einer Zeitfolge ist kein Theil mit dem andern zugleich vorhanden; die Vorstellung von dem Zeitraume, welcher den übrigen zum Maaßstabe dienen soll, muß folglich im Gedächtnisse festgehalten werden. Überdieß ist die Wahrnehmung von der Dauer der Zeit sehr abhängig von der Beschaffenheit und Menge der sie ausfüllenden Eindrücke. Man sollte also denken, es müsse für die Seele höchst schwierig seyn, den Vergleich nur einigemaaßen genau anzustellen, und dennoch fühlen wir die Leichtigkeit, womit wir Bewegungen nach einem Zeitmaaße vornehmen. Dieß führt natürlich auf den Schluß, daß wir dieselbe nicht sowohl der Seele als dem Körper verdanken, daß sie mit Einem Worte bloß mechanisch ist. Unser Körper ist ein belebte Uhrwerk; ohne unser Zuthun gehen in ihm unaufhörlich mancherley Bewegungen, zum Beyspiele das Herzklopfen, das Athemhohlen, und zwar in gleichen Zeiträumen vor, so daß jede Abweichung von diesem regelmäßigen Gange irgend eine Unordnung in der Maschine anzuzeigen pflegt. Auch bey andern Bewegungen, die von unserm Willen abhängen, gerathen wir leicht, vorzüglich wenn wir sie anhaltend wiederhohlen, von selbst und ohne es zu wissen in ein gewisses Zeitmaaß. Nehmen wir mehrerley solche Handlungen zugleich vor, zum Beyspiel Gehen und Sprechen, so richtet sich die Geschwindigkeit der einen gewöhnlich nach der andern, wenn wir nicht etwa vorsätzlich die Übereinstimmung zwischen ihnen aufheben wollen. Eben so setzen sich mehrere Menschen bey gemeinschaftlichen Arbeiten ohne Absicht oder Verabredung in eine gleichmäßige Bewegung. Freylich kommt alsdann der Umstand hinzu, daß man einander sonst mit den Werkzeugen, zum Beyspiel beym Rudern, Dreschen, Mähen, hinderlich seyn würde; aber auch wer ganz allein angreifende Arbeiten der Art verrichtet, wird, sobald er darin geübt ist, ohne besondre Aufmerksamkeit einen Takt beobachten. Gleichmäßig wiederhohlte Bewegungen erschöpfen am wenigsten: das Wohltäthige davon für den Körper muß sich leicht fühlen.

Daß die Seele sich mehr leidend als durch Vergleichen und Urtheilen thätig beweise, indem eine Folge von Zeiten sich, wenn ich so sagen darf, von selbst an der Organisazion abmißt, wird dadurch noch wahrscheinlicher, daß auch mehrere Arten von Thieren an Beobachtung des Taktes in ihren Bewegungen, einige Vögel sogar in ihrem Gesange, gewöhnt werden können. Auch das scheint diese Vermuthung zu bestätigen, daß wir nur innerhalb eines gewissen Kreises Zeitmaaße genau und sicher wahrnehmen, und daß wir dabey eben auf solche Grade der Geschwindigkeit oder Langsamkeit eingeschränkt sind, die mit dem fühlbaren Zeitmaaß der Bewegungen im Körper in einem nahen Verhältnisse stehn. Bey einer sehr schnellen Folge ist dieß weniger zu verwundern: die Eindrücke vermischen sich unter einander, so daß eine große Menge derselben in die Vorstellung von einem einzigen zusammengedrängt wird, wie wir zum Beyspiel nach der verschiednen Anzahl der Bebungen einer Saite in einer gegebnen Zeit nur einen einzigen höheren oder tieferen Ton vernehmen. Wir brauchen nur an die Schnelligkeit zu denken, womit sich Schall und Licht durch unermeßliche Räume fortpflanzen, um überzeugt zu seyn, daß dasjenige, was uns wie ein einziger untheilbarer Augenblick vorkommt, eine sehr zusammengesetzte Masse von Zeiten ist. Aber wie käme es, daß bey einer sehr langsamen Folge, wo wir doch um so mehr Musse haben, die einzelnen Zeiträume zu unterscheiden, die Wahrnehmung von ihrer Gleichheit oder Ungleichheit sich ebenfalls verliert, wenn sie nicht auf Verhältnissen zu unsrer Organisazion beruhte? Man lasse eine Glocke alle Minuten einmahl schlagen: niemand wird auch mit dem geübtesten Ohre entscheiden können, ob die Zwischenräume sich immer gleich sind, er müßte sie dann etwa durch ein körperliches Hülfsmittel eintheilen und die Anzahl der Theile in jedem mit einander vergleichen.

„Die Vorstellung vom Zeitmaaße,“ sagt Hemsterhuys, „ist vielleicht die erste von allen unsern Vorstellungen, und geht sogar der Geburt voran; denn es scheint, daß wir sie einzig den aufeinander folgenden Wallungen des Blutes in der Nachbarschaft des Ohres verdanken.“

Es ließe sich hiebey fragen: ob die Fähigkeiten Zeiten zu messen unter unsern Organen dem Ohre ausschließend gehöre? ob die Wallungen des Bluts in seiner Nähe, auch bey der größten äußern Stille, wirklich hörbar seyn können? wie früh Vorstellungen ohne Bewußtseyn in uns wirksam zu werden anfangen? und dergleichen mehr. Du siehst, eine gründliche Erörterung jenes Satzes würde uns in Labyrinthe der Physiologie und Psychologie führen. Es ist mir indessen lieb, mich wenigstens in so weit mit Hemsterhuys auf Einem Wege zu finden, daß er die Anlage zum Take auch für körperlich hält, und annimmt, nur die Regelmäßigkeit gewisser Bewegungen in unsrer Organisazion mache sie zum tauglichen Werkzeuge der Zeitmessung.

Zwar ist auf diese Art noch nicht erklärt, wie die Menschen darauf fallen konnten, die fremdartige Vorstellung von Takt auf den Ausdruck durch Gebährden und Töne anzuwenden; doch ist die Auflösung, die ich jetzt deiner Prüfung übergeben will, dadurch vorbereitet.

Je mehr der Mensch noch ganz in den Sinnen lebt, desto mächtiger sind seine Leidenschaften. Zwar eröffnet ihnen die Entwickelung des Verstandes und die Vervollkommnung der geselligen Künste eine Welt von vorher unbekannten Gegenständen: aber eben dadurch, daß der Kreis ihrer Wirksamkeit sich erweitert, muß ihr blinder Ungestüm gemäßigt werden. Hiezu kommt die tausendfache Abhängigkeit von Verhältnissen, die dem verfeinerten Menschen bey ihrer Befriedigung im Wege stehn. Ein Zögling des Anstandes hat er schon früh gelernt, ihre Ausbrüche zu ersticken, und Gleichgewicht in seinem Betragen zu erhalten. Der rohen Einfalt hingegen scheint alles anständig, was die Natur fodert. Noch unbekannt mit den Anreizungen erkünstelter Verderbniß läßt sie sich nur von natürlichen Trieben, aber von diesen auch unumschränkt beherrschen. Wie eine Krankheit in einem gesunden Körper um so heftiger wütet, je größern Überfluß an Lebenskräften sie vorfindet, so ist es auch mit den Leidenschaften: die gewaltsamsten Zustände, worein sie den künstlich erzognen Menschen versetzen, scheinen neben ihrer ausschweifenden Unbändigkeit in der Seele des freyen und kräftigen Wilden nur ein besonnener Rausch zu seyn. Sey es nun Freude oder Betrübniß, was sich seiner bemächtigt, so würden die aufgeregten Lebensgeister ihre Gewalt nach innen zu wenden, und seine ganze Zusammensetzung zerrütten, wenn er ihnen nicht durch den heftigsten Ausdruck in Worten, Ausrufungen und Gebährden Luft machte. Er folgt der Anfoderung eines so dringenden Bedürfnisses; durch jede äußre Verkündigung der Leidenschaft fühlt er sich eines Theils ihrer Bürde entledigt, und hält daher instinktmäßig Stunden, ja Tage lang mit Jauchzen oder Wehklagen an, bis sich der Aufruhr in seinem Innern allmählig gelegt hat. Bey schmerzlichen Gemüthsbewegungen werden sogar körperliche Verletzungen für nichts geachtet, wenn sich die Seele dadurch nur die Linderung verschaffen kann, sie auszulassen. Hierin liegt unstreitig der Grund jener so vielen Völkern gemeinschaftlichen Sitte, beym Trauern über die Todten sich Wangen und Brust mit den Nägeln oder andern scharfen Werkzeugen zu zerfetzen, wenn auch nachher ein bloß äußerlicher Gebrauch oder eine Pflicht daraus wurde.

Freude ist zwar die wohlthätigste Leidenschaft für den Körper; allein ihr sinnloser Taumel kann doch bis zu einer erschöpfenden Verschwendung der unaufhaltsam überströmenden Lebensfülle gehen. Selbst Jubeln und Springen, so ausgelassen und anhaltend wie es der wilde Natursohn treibt, wird zu einer Art von Arbeit. Dennoch, wie ermüdet auch der Körper sich fühlen möge, reißt ihn die Seele mit sich fort, und gönnt ihm keine Ruhe. So leitete den Menschen dann der Instinkt, oder, wenn man lieber will, eine dunkle Wahrnehmung auf das Mittel, sich dem berauschendsten Genusse ohne abmattende Anstrengung lange und ununterbrochen hingeben zu können. Unvermerkt gewöhnten sich die Füße nach einem Zeitmaaße zu hüpfen, wie es ihnen etwa der rasche Umlauf des Bluts, die Schläge des hüpfenden Herzens angaben; nach einem natürlichen Gesetze der Oragnisazion mußten sich die übrigen Gebährden, auch die Bewegungen der Stimme in ihrem Gange darnach richten; und durch diese ungesuchte Übereinstimmung kam Takt in den wilden Jubelgesang, der anfangs vielleicht nur aus wenigen oft wiederholten Ausrufungen bestand.

Hatte man erst einmahl das wohlthätige dieses Zügel gefühlt, woran die Natur selbst die ungestüme Seele lenkte, ohne daß sie sich eines Zwanges bewußt worden wäre, so ist es nicht wunderbar, daß auch andre Leidenschaften sich willig ihn anlegen ließen. Wenn gleich die Betrübniß nicht zu so raschen Bewegungen hinreißt wie die Freude, so führt sie dagegen auch gar keinen Ersatz für ihre zerrüttenden Wirkungen mit sich. Tage lang jammern ist noch weit angreifender für den Körper als Tage lang jauchzen; und doch konnte das ganz von seinem Verluste überwältigte Gemüth diese einzige Linderung nicht entbehren; es weidet sich, wie Homer es ausdrückt, an der verzehrenden Wehklage. Indem diese, vom Zeitmaaße gefesselt, in Melodie übergeht, ist sie schon nicht ganz trostlos mehr: der erquickende mildernde Einfluß wird von den Sinnen der Seele mitgetheilt.

Wenn jemand unter uns den Tod eines Angehörigen mit Gesang betrauerte, so würden wir entweder glauben, es sey ihm kein Ernst damit, oder er sey wenigstens schon getröstet und erneuere seinen Schmerz nur in der Erinnerung. Dieselbe Handlung unter einem noch ungebildeten, sinnlichen Volke eben so zu beurtheilen, würde sehr gewagt und wahrscheinlich irrig seyn. Den Trojanischen Frauen war es gewiss Ernst mit dem Wehklagen um Hektors Leiche, denn sie sahen verzweifelnd ihren eignen Untergang vor sich: dennoch waren Sänger bestellt, um ihnen dabey mit der Stimme vorzugehn. Gehörte dieß auch in den Zeiten, welche Homer schildert, schon zu den feyerlichen Gebräuchen der Trauer, so deutet es doch auf einen natürlichen Ursprung hin. Als Cook auf seiner dritten Reise Neuseeland verließ, so befiel zwey daselbst einheimische Knaben, die er mitgenommen hatte, eine tödliche Schwermuth. Sie weinten und klagten unaufhörlich viele Tage lang, und drückten besonders ihren Schmerz durch ein Lied aus, worin sie, so viel man verstand, ihr nun für immer verlohrnes Vaterland priesen. An eine hergebrachte Sitte läßt sich hiebey nicht denken, und da dieß Lied sich auf eine ganz ungewöhnliche Lage bezog, so muß man vermuthen, daß die jungen Wilden es nicht aus dem Gedächtnisse gesungen, sondern daß sie es mitten in ihrer tiefsten Bekümmerniß gedichtet haben. Es würde nicht schwer seyn, ähnliche Beyspiele zu häufen.

Was ich von der Freude und der Betrübniß gesagt, wirst du, wenn meine Vermutung dir anders Genüge leistet, leicht auf die übrigen Leidenschaften anwenden. Die Seele, von der Natur allein erzogen und keine Fesseln gewohnt, foderte Freyheit in ihrer äussern Verkündigung; der Körper bedurfte, um nicht der anhaltenden Heftigkeit derselben zu unterliegen, ein Maaß, worauf seine innre Einrichtung ihn fühlbar leitete. Ein geordneter Rhythmus der Bewegungen und Töne vereinigte beydes, und darin lag ursprünglich seine wohlthätige Zaubermacht. So wäre es denn erklärt, was uns sonst so äußerst fremde dünkt, wie etwas, das uns, die wir so vieles bedürfen, entbehrlicher Überfluß oder höchstens ein angenehmer geselliger Luxus scheint, Tanz und Gesang, für den beschränkten, einfältigen Wilden unter die ersten Nothwendigkeiten des Lebens gehören kann.

(Die Fortsetzung folgt.)

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