HomeDie Horen1796 - Stück 1VII. Beschluß der Abhandlung über naive und sentimentalische Dichter. [Friedrich Schiller]

VII. Beschluß der Abhandlung über naive und sentimentalische Dichter. [Friedrich Schiller]

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nebst einigen Bemerkungen einen charakteristischen Unterschied unter den Menschen betreffend.
Über das Verhältniß beyder Dichtungsarten zu einander und zu dem poetischen Ideale ist in den vorhergehenden Untersuchungen folgendes festgesetzt worden.

Dem naiven Dichter hat die Natur die Gunst erzeigt, immer als eine ungetheilte Einheit zu wirken, in jedem Moment ein selbstständiges und vollendetes Ganze zu seyn und die Menschheit, ihrem vollen Gehalt nach, in der Wirklichkeit darzustellen. Dem sentimentalischen hat sie die Macht verliehen oder vielmehr einen lebendigen Trieb eingeprägt, jene Einheit, die durch Abstraktion in ihm aufgehoben worden, aus sich selbst wieder herzustellen, die Menschheit in sich vollständig zu machen, und aus einem beschränkten Zustand zu einem unendlichen überzugehen. Der menschlichen Natur ihren völligen Ausdruck zu geben ist aber die gemeinschaftliche Aufgabe beyder, und ohne das würden sie gar nicht Dichter heißen können; aber der naive Dichter hat vor dem sentimentalischen immer die sinnliche Realität voraus, indem er dasjenige als eine wirkliche Thatsache ausführt, was der andere nur zu erreichen strebt. Und das ist es auch, was jeder bey sich erfährt, wenn er sich beym Genusse naiver Dichtungen beobachtet. Er fühlt alle Kräfte seiner Menschheit in einem solchen Augenblick thätig, er bedarf nichts, er ist ein Ganzes in sich selbst; ohne etwas in seinem Gefühl zu unterscheiden, freut er sich zugleich seiner geistigen Thätigkeit und seines sinnlichen Lebens. Eine ganz andr Stimmung ist es, in die ihn der sentimentalische Dichter versetzt. Hier fühlt er bloß einen lebendigen Trieb, die Harmonie in sich zu erzeugen, welche er dort wirklich empfand, ein Ganzes aus sich zu machen, die Menschheit in sich zu einem vollendeten Ausdruck zu bringen. Daher ist hier das Gemüth in Bewegung, es ist angespannt, es schwankt zwischen streitenden Gefühlen; da es dort ruhig, aufgelößt, einig mit sich selbst und vollkommen befriedigt ist.

Aber wenn es der naive Dichter dem sentimentalischen auf der einen Seite an Realität abgewinnt, und dasjenige zur wirklichen Existenz bringt, wornach dieser nur einen lebendigen Trieb erwecken kann, so hat letzterer wieder den großen Vortheil über den erstern, daß er dem Trieb einen größeren Gegenstand zu geben im Stand ist, als jener geleistet hat und leisten konnte. Alle Wirklichkeit, wissen wir, bleibt hinter dem Ideale zurück; alles existierende hat seine Schranken, aber der Gedanke ist grenzenlos. Durch diese Einschränkung, der alles sinnliche unterworfen ist, leidet also auch der naive Dichter, da hingegen die unbedingte Freyheit des Ideenvermögens dem sentimentalischen zu statten kommt. Jener erfüllt zwar also seine Aufgabe, aber die Aufgabe selbst ist etwas begrenztes; dieser erfüllt zwar die seinige nicht ganz, aber die Aufgabe ist ein unendliches. Auch hierüber kann einen jeden seine eigene Erfahrung belehren. Von dem naiven Dichter wendet man sich mit Leichtigkeit und Lust zu der lebendigen Gegenwart; der sentimentalische wird immer, auf einige Augenblicke, für das wirkliche Leben verstimmen. Das macht, unser Gemüth ist hier durch das Unendliche der Idee gleichsam über seinen natürlichen Durchmesser ausgedehnt worden, daß nichts vorhandenes es mehr ausfüllen kann. Wir versinken lieber betrachtend in uns selbst, wo wir für den aufgeregten Trieb in der Ideenwelt Nahrung finden; anstatt daß wir dort aus uns heraus nach sinnlichen Gegenständen streben. Die sentimentalische Dichtung ist die Geburt der Abgezogenheit und Stille, und dazu ladet sie auch ein: Die naive ist das Kind des Lebens, und in das Leben führt sie auch zurück.

Ich habe die naive Dichtung eine Gunst der Natur genannt, um zu erinnern, daß die Reflexion keinen Antheil daran habe. Ein glücklicher Wurf ist sie, keiner Verbeßerung bedürftig, wenn er gelingt, aber auch keiner fähig, wenn er verfehlt wird. In der Empfindung ist das ganze Werk des naiven Genies absolviert; hier ligt seine Stärke und seine Grenze. Hat es also nicht gleich dichterisch d. h. nicht gleich vollkommen menschlich empfunden, so kann dieser Mangel durch keine Kunst mehr nachgeholt werden. Die Critik kann ihm nur zu einer Einsicht des Fehlers verhelfen, aber sie kann keine Schönheit an dessen Stelle setzen. Durch seine Natur muß das naive Genie alles thun, durch seine Freyheit vermag es wenig; und es wird seinen Begriff erfüllen, sobald nur die Natur in ihm nach einer innern Nothwendigkeit wirkt. Nun ist zwar alles nothwendig, was durch Natur geschieht, und das ist auch jedes noch so verunglückte Produckt des naiven Genies, von welchem nichts mehr entfernt ist als Willkührlichkeit; aber ein andres ist die Nöthigung des Augenblicks, ein andres die innere Nothwendigkeit des Ganzen. Als ein Ganzes betrachtet, ist die Natur selbstständig und unendlich; in jeder einzelnen Wirkung hingegen ist sie bedürftig und beschränkt. Dieses gilt daher auch von der Natur des Dichters. Auch der glücklichste Moment, in welchem sich derselbe befinden mag, ist von einem vorhergehenden abhängig; es kann ihm daher auch nur eine bedingte Nothwendigkeit beygelegt werden. Nun ergeht aber die Aufgabe an den Dichter, einen einzelnen Zustand dem menschlichen Ganzen gleich zu machen, folglich ihn absolut und nothwendig auf sich selbst zu gründen. Aus dem Moment der Begeisterung muß also jede Spur eines zeitlichen Bedürfnisses entfernt bleiben, und der Gegenstand selbst, so beschränkt er auch sey, darf den Dichter nicht beschränken. Man begreift wohl, daß dieses nur in soferne möglich ist, als der Dichter schon eine absolute Freyheit und Fülle des Vermögens zu dem Gegenstande mitbringt, und als er geübt ist, alles mit seiner ganzen Menschheit zu umfaßen. Diese Übung kann er aber nur durch die Welt erhalten, in der er lebt, und von der er unmittelbar berührt wird. Das naive Genie steht also in einer Abhängigkeit von der Erfahrung, welche das sentimentalische nicht kennet. Dieses wissen wir, fängt seine Operation erst da an, wo jenes die seinige beschließt; seine Stärke besteht darinn, einen mangelhaften Gegenstand aus sich selbst heraus zu ergänzen, und sich durch eigene Macht aus einem begrenzten Zustand in einen Zustand der Freyheit zu versetzen. Das naive Dichtergenie bedarf also eines Beystandes von aussen, da das sentimentalische sich aus sich selbst nährt und reinigt; es muß eine formreiche Natur, eine dichterische Welt, eine naive Menschheit um sich her erblicken, da es schon in der Sinnenempfindung sein Werk zu vollenden hat. Fehlt ihm nun dieser Beystand von aussen, sieht es sich von einem geistlosen Stoff umgeben, so kann nur zweyerley geschehen. Es tritt entweder, wenn die Gattung bei ihm überwiegend ist, aus seiner Art, und wird sentimentalistisch, um nur dichterisch zu seyn, oder, wenn der Artcharakter die Obermacht behält, es tritt aus seiner Gattung, und wird gemeine Natur, um nur Natur zu bleiben. Das erste dürfte der Fall mit den vornehmsten sentimentalischen Dichtern in der alten römischen Welt und in neueren Zeiten seyn. In einem andern Weltalter gebohren, unter einen andern Himmel verpflanzt, würden sie, die uns jetzt durch Ideen rühren, durch individuelle Wahrheit und naive Schönheit bezaubert haben. Vor dem zweyten möchte sich schwerlich ein Dichter vollkommen schützen können, der in einer gemeinen Welt die Natur nicht verlassen kann.

Die wirkliche Natur nehmlich; aber von dieser kann die wahre Natur, die das Subjekt naiver Dichtung ist, nicht sorgfältig genug unterschieden werden. Wirkliche Natur existiert überall, aber wahre Natur ist desto seltener, denn dazu gehört eine innere Nothwendigkeit des Daseyns. Wirkliche Natur ist jeder noch so gemeine Ausbruch der Leidenschaft, er mag auch wahre Natur seyn, aber eine wahre menschliche ist er nicht; denn diese erfodert einen Antheil des selbstständigen Vermögens an jeder Äusserung, dessen Ausdruck jedesmal Würde ist. Wirkliche menschliche Natur ist jede moralische Niederträchtigkeit, aber wahre menschliche Natur ist sie hoffentlich nicht; denn diese kann nie anders als edel seyn. Es ist nicht zu übersehen, zu welchen Abgeschmaktheiten diese Verwechslung wirklicher Natur mit wahrer menschlicher Natur in der Critik wie in der Ausübung verleitet hat: welche Trivialitäten man in der Poesie gestattet, ja lobpreißt, weil sie, leider! wirkliche Natur sind: wie man sich freuet, Karrikaturen, die einen schon aus der wirklichen Welt herausängstigen, in der dichterischen sorgfältig aufbewahrt, und nach dem Leben konterfeit zu sehen. Freylich darf der Dichter auch die schlechte Natur nachahmen und bey dem satyrischen bringt dieses ja der Begriff schon mit sich: aber in diesem Fall muß seine eigne schöne Natur den Gegenstand übertragen, und der gemeine Stoff den Nachahmer nicht mit sich zu Boden ziehen. Ist nur Er selbst, in dem Moment wenigstens wo er schildert, wahre menschliche Natur, so hat es nichts zu sagen, was er uns schildert: aber auch schlechterdings nur von einem solchen können wir ein treues Gemählde der Wirklichkeit vertragen. Wehe uns Lesern; wenn die Fratze sich in der Fratze spiegelt; wenn die Geißel der Satyre in die Hände desjenigen fällt, dem die Natur eine viel ernstlichere Peitsche zu führen bestimmte; wenn Menschen, die, entblößt von allem, was man poetischen Geist nennt, nur das Affentalent gemeiner Nachahmung besitzen, es auf Kosten unsres Geschmacks gräulich und schrecklich üben!

Aber selbst dem wahrhaft naiven Dichter, sagte ich, kann die gemeine Natur gefährlich werden; denn endlich ist jene schöne Zusammenstimmung zwischen Empfinden und Denken, welche den Charakter desselben ausmacht, doch nur eine Idee, die in der Wirklichkeit nie ganz erreicht wird, und auch bey den glücklichsten Genies aus dieser Klasse wird die Empfänglichkeit die Selbstthätigkeit immer um etwas überwiegen. Die Empfänglichkeit aber ist immer mehr oder weniger von dem äussern Eindruck abhängig, und nur eine anhaltende Regsamkeit des produktiven Vermögens, welche von der menschlichen Natur nicht zu erwarten ist, würde verhindern können, daß der Stoff nicht zuweilen eine blinde Gewalt über die Empfänglichkeit ausübte. So oft aber dieß der Fall ist wird aus einem dichterischen Gefühl ein gemeines.

Kein Genie aus der naiven Klasse, von Homer biß auf Bodmer herab, hat diese Klippe ganz vermieden; aber freylich ist die denen am gefährlichsten, die sich einer gemeinen Natur von außen zu erwehren haben, oder die durch Mangel an Disciplin von innen verwildert sind. Jenes ist Schuld, daß selbst gebildete Schriftsteller nicht immer von Plattheiten frey bleiben, und dieses verhinderte schon manches herrliche Talent, sich des Platzes zu bemächtigen, zu dem die Natur es berufen hatte. Der Komödiendichter, dessen Genie sich am meisten von dem wirklichen Leben nährt, ist eben daher auch am meisten der Plattheit ausgesetzt, wie auch das Beyspiel des Aristophanes und Plautus und fast alles der späteren Dichter lehret, die in die Fußtapfen derselben getreten sind. Wie tief läßt uns nicht der erhabene Shakespeare zuweilen sinken, mit welchen Trivialitäten quälen uns nicht Lope de Vega, Moliere, Regnard, Goldoni, in welchen Schlamm zieht uns nicht Holberg hinab. Schlegel, einer der geistreichsten Dichter unsers Vaterlandes, an dessen Genie es nicht lag, daß er nicht unter den ersten in dieser Gattung glänzt, Gellert, ein wahrhaft naiver Dichter, so wie auch Rabener, Lessing selbst, wenn ich ihn anders hier nennen darf, Lessing der gebildete Zögling der Critik, und ein so wachsamer Richter seiner selbst – wie büßen sie nicht alle, mehr oder weniger, den geistlosen Charakter der Natur, die sie zum Stoff ihrer Satyre erwählten. Von den neuesten Schriftstellern in dieser Gattung nenne ich keinen, da ich keinen ausnehmen kann.

Und nicht genug, daß der naive Dichtergeist in Gefahr ist, sich einer gemeinen Wirklichkeit allzusehr zu nähern – durch die Leichtigkeit, mit der er sich äusert, und durch eben diese größere Annäherung an das wirkliche Leben macht er noch dem gemeinen Nachahmer Muth, sich im poetischen Felde zu versuchen. Die sentimentalische Poesie, wiewohl von einer andern Seite gefährlich genug, wie ich hernach zeigen werde, hält wenigstens dieses Volk in Entfernung, weil es nicht jedermanns Sache ist, sich zu Ideen zu erheben; die naive Poesie aber bringt es auf den Glauben, als wenn schon die bloße Empfindung, der bloße Humor, die bloße Nachahmung wirklicher Natur den Dichter ausmache. Nichts aber ist widerwärtiger, als wenn der platte Charakter sich einfallen läßt, liebenswürdig und naiv seyn zu wollen; er, der sich in alle Hüllen der Kunst stecken sollte, um seine ekelhafte Natur zu verbergen. Daher denn auch die unsäglichen Platituden, welche sich die Deutschen unter dem Titel von naiven und scherzhaften Liedern vorsingen lassen, und an denen sie sich bey einer wohlbesetzten Tafel ganz unendlich zu belustigen pflegen. Unter dem Freybrief der Laune, der Empfindung dultet man diese Armseligkeiten – aber einer Laune, einer Empfindung, die man nicht sorgfältig genug verbannen kann. Die Musen an der Pleisse bilden hier besonders einen eigenen kläglichen Chor, und ihnen wird von den Camönen an der Leine und Elbe in nicht bessern Akkorden geantwortet. So insipid diese Scherze sind, so kläglich läßt sich der Affekt auf unsern tragischen Bühnen hören, welcher, anstatt die wahre Natur nachzuahmen, nur den geistlosen und unedlen Ausdruck der wirklichen erreicht; so daß es uns nach einem solchen Thränenmahle gerade zu Muth ist, als wenn wir einen Besuch in Spitälern abgelegt oder Salzmanns menschliches Elend gelesen hätten. Noch viel schlimmer steht es um die satyrische Dichtkunst, und um den komischen Roman insbesondre, die schon ihrer Natur nach dem gemeinen Leben so nahe liegen, und daher billig, wie jeder Grenzposten, gerade in den beßten Händen seyn sollten. Derjenige hat wahrlich den wenigsten Beruf der Mahler seiner Zeit zu werden, der das Geschöpf und die Karikatur derselben ist; aber da es etwas so leichtes ist, irgend einen lustigen Charakter, wär es auch nur einen dicken Mann unter seiner Bekanntschaft aufzujagen, und die Fratze mit einer groben Feder auf dem Papier abzureissen, so fühlen zuweilen auch die geschworenen Feinde alles poetischen Geistes den Kitzel, in diesem Fache zu stümpern, und einen Zirkel von würdigen Freunden mit der schönen Geburt zu ergötzen. Ein rein gestimmtes Gefühl freylich wird nie in Gefahr seyn, diese Erzeugniße einer gemeinen Natur mit den geistreichen Früchten des naiven Genies zu verwechseln; aber an dieser reinen Stimmung des Gefühls fehlt es eben, und in den meisten Fällen will man bloß ein Bedürfniß befriedigt haben, ohne daß der Geist eine Foderung machte. Der so falsch verstandene, wiewohl an sich wahre Begriff, daß man sich bey Werken des schönen Geistes erhohle, trägt das seinige redlich zu dieser Nachsicht bey; wenn man es anders Nachsicht nennen kann, wo nichts höheres geahnet wird, und der Leser wie der Schriftsteller auf gleiche Art ihre Rechnung finden. Die gemeine Natur nehmlich, wenn sie angespannt worden, kann sich nur in der Leerheit erhohlen, und selbst ein hoher Grad von Verstand, wenn er nicht von einer gleichmäßigen Kultur der Empfindungen unterstützt ist, ruht von seinem Geschäfte nur in einem geistlosen Sinnengenuß aus.

Wenn sich das dichtende Genie über alle zufälligen Schranken, welche von jedem bestimmten Zustande unzertrennlich sind, mit freyer Selbstthätigkeit muß erheben können, um die menschliche Natur in ihrem absoluten Vermögen zu erreichen, so darf es sich doch auf der andern Seite nicht über die nothwendigen Schranken hinwegsetzen, welche der Begriff einer menschlichen Natur mit sich bringt; denn das Absolute aber nur innerhalb der Menschheit ist seine Aufgabe und seine Sphäre. Wir haben gesehen, daß das naive Genie zwar nicht in Gefahr ist, diese Sphäre zu überschreiten, wohl aber, sie nicht ganz zu erfüllen, wenn es einer äußern Nothwendigkeit oder dem zufälligen Bedürfniß des Augenblicks zu sehr auf Unkosten der innern Nothwendigkeit Raum giebt. Das sentimentalische Genie hingegen ist der Gefahr ausgesetzt, über dem Bestreben, alle Schranken von ihr zu entfernen, die menschliche Natur ganz und gar aufzuheben, und sich nicht bloß, was es darf und soll, über jede bestimmte und begrenzte Wirklichkeit hinweg zu der absoluten Möglichkeit zu erheben oder zu idealisieren, sondern über die Möglichkeit selbst noch hinauszugehen oder zu schwärmen. Dieser Fehler der Überspannung ist eben so in der specifischen Eigenthümlichkeit seines Verfahrens wie der entgegen gesetzte der Schlaffheit, in der eigenthümlichen Handlungsweise des naiven gegründet. Das naive Genie nehmlich läßt die Natur in sich unumschränkt walten, und da die Natur, in ihren einzelnen zeitlichen Äusserungen immer abhängig und bedürftig ist, so wird das naive Gefühl nicht immer exaltiert genug bleiben, um den zufälligen Bestimmungen des Augenblicks widerstehen zu können. Das sentimentalische Genie hingegen verläßt die Wirklichkeit, um zu Ideen aufzusteigen und mit freyer Selbstthätigkeit seinen Stoff zu beherrschen; da aber die Vernunft ihrem Gesetze nach immer zum Unbedingten strebt, so wird das sentimentalische Genie nicht immer nüchtern genug bleiben, um sich ununterbrochen und gleichförmig innerhalb der Bedingungen zu halten, welche der Begriff einer menschlichen Natur mit sich führt, und an welche die Vernunft auch in ihrem freyesten Wirken hier immer gebunden bleiben muß. Dieses könnte nur durch einen verhältnißmäßigen Grad von Empfänglichkeit geschehen, welche aber in dem sentimentalischen Dichtergeist von der Selbstthätigkeit eben so sehr überwogen wird, als sie in dem Naiven die Selbstthätigkeit überwiegt. Wenn man daher an den Schöpfungen des naiven Genies zuweilen den Geist vermisst, so wird man bey den Geburten des sentimentalischen oft vergebens nach dem Gegenstande fragen. Beyde werden also, wiewohl auf ganz entgegen gesetzte Weise, in den Fehler der Leerheit verfallen; denn ein Gegenstand ohne Geist und ein Geistesspiel ohne Gegenstand sind beyde ein Nichts in dem ästhetischen Urtheil.

Alle Dichter, welche ihren Stoff zu einseitig aus der Gedankenwelt schöpfen, und mehr durch eine innre Ideenfülle als durch den Drang der Empfindung zum poetischen Bilden getrieben werden, sind mehr oder weniger in Gefahr, auf diesen Abweg zu gerathen. Die Vernunft zieht bey ihren Schöpfungen die Grenze der Sinnenwelt viel zu wenig zu Rath und der Gedanke wird immer weiter getrieben, als die Erfahrung ihm folgen kann. Wird er aber so weit getrieben, als ihm nicht nur keine bestimmte Erfahrung mehr entsprechen kann, (denn bis dahin darf und muß das Idealschöne gehen) sondern daß er den Bedingungen aller möglichen Erfahrung überhaupt widerstreitet, und daß folglich um ihn wirklich zu machen, die menschlichen Natur ganz und gar verlassen werden müßte, dann ist es nicht mehr ein poetischer, sondern ein überspannter Gedanke: vorausgesetzt nehmlich, daß er sich als darstellbar und dichterisch angekündigt habe; denn hat er dieses nicht, so ist es schon genug, wenn er sich nur nicht selbst widerspricht. Widerspricht er sich selbst, so ist er nicht mehr Überspannung, sondern Unsinn; denn was überhaupt nicht ist, das kann auch sein Maaß nicht überschreiten. Kündigt er sich aber gar nicht als ein Objekt für die Einbildungskraft an, so ist er eben so wenig Überspannung; denn das bloße Denken ist grenzenlos und was keine Grenze hat, kann auch keine überschreiten. Überspannt kann also nur dasjenige genannt werden, was zwar nicht die logische, aber die sinnliche Wahrheit verletzt und auf diese doch Anspruch macht. Wenn daher ein Dichter den unglücklichen Einfall hat, Naturen, die schlechthin übermenschlich sind, und auch nicht anders vorgestellt werden dürfen, zum Stoff seiner Schilderung zu erwählen, so kann er sich vor dem Überspannten nur dadurch sicher stellen, daß er das Poetische aufgiebt und es gar nicht einmal unternimmt, seinen Gegenstand durch die Einbildungskraft ausführen zu lassen. Denn thäte er dieses, so würde entweder diese ihre Grenzen auf den Gegenstand übertragen und aus einem absoluten Objekt ein beschränktes menschliches machen (was z. B. alle griechischen Gottheiten sind und auch sein sollen); oder der Gegenstand würde der Einbildungskraft ihre Grenzen nehmen, d. h. er würde sie aufheben, worinn eben das Überspannte besteht.

Man muß die überspannte Empfindung von dem Überspannten in der Darstellung unterscheiden; nur von der ersten ist hier die Rede. Das Objekt der Empfindung kann unnatürlich seyn, aber sie selbst ist Natur, und muß daher auch die Sprache derselben führen. Wenn also das Überspannte in der Empfindung aus Wärme des Herzens und einer wahrhaft dichterischen Anlage fließen kann, so zeugt das Überspannte in der Darstellung jederzeit von einem kalten Herzen und sehr oft von einem poetischen Unvermögen. Es ist also kein Fehler, vor welchem das sentimentalische Dichtergenie gewarnt werden müßte, sondern der bloß dem unberufenen Nachahmer desselben drohet, daher er auch die Begleitung des Platten, Geistlosen, ja des Niedrigen keineswegs verschmäht. Die überspannte Empfindung ist gar nicht ohne Wahrheit, und als wirkliche Empfindung muß sie auch notwendig einen realen Gegenstand haben. Sie läßt daher auch, weil sie Natur ist, einen einfachen Ausdruck zu, und wird vom Herzen kommend auch das Herz nicht verfehlen. Aber da ihr Gegenstand nicht aus der Natur schöpft, sondern durch den Verstand einseitig und künstlich hervorgebracht ist, so hat er auch bloß logische Realität, und die Empfindung ist also nicht rein menschlich. Es ist keine Täuschung, was Heloise für Abelard, was Petrarch für seine Laura, was S. Preux für seine Julie, was Werther für seine Lotte fühlt, und was Agathon, Phanias, Peregrinus Proteus (den Wielandschen meyne ich) für ihre Ideale empfinden; die Empfindung ist wahr, nur der Gegenstand ist ein gemachter und liegt ausserhalb der menschlichen Natur. Hätte sich ihr Gefühl bloß an die sinnliche Wahrheit der Gegenstände gehalten, so würde es jenen Schwung nicht haben nehmen können; hingegen würde ein bloß willkührliches Spiel der Phantasie ohne allen innern Gehalt auch nicht im Stande gewesen seyn, das Herz zu bewegen, denn das Herz wird nur durch Vernunft bewegt. Diese Überspannung verdient also Zurechtweisung, nicht Verachtung, und wer darüber spottet, mag sich wohl prüfen, ob er nicht vielleicht aus Herzlosigkeit so klug, aus Vernunftmangel so verständig ist. So ist auch die überspannte Zärtlichkeit im Punkt der Galanterie und der Ehre, welche die Ritterromane, besonders die spanischen charakterisiert, so ist die skrupulose, bis zur Kostbarkeit getriebene Delikatesse in den französischen und englischen sentimentalischen Romanen (von der besten Gattung) nicht nur subjektiv wahr, sondern auch in objektiver Rücksicht nicht gehaltlos; es sind ächte Empfindungen, die wirklich eine moralische Quelle haben, und die nur darum verwerflich sind, weil sie die Grenzen menschlicher Wahrheit überschreiten. Ohne jene moralische Realität – wie wäre es möglich, daß sie mit solcher Stärke und Innigkeit könnten mitgetheilt werden, wie doch die Erfahrung lehrt. Dasselbe gilt auch von der moralischen und religiösen Schwärmerey, und von der exaltierten Freyheits- und Vaterlandsliebe. Da die Gegenstände dieser Empfindungen immer Ideen sind und in der äussern Erfahrung nicht erscheinen, (denn was z. B. den politischen Enthusiasten bewegt, ist nicht was er sieht, sondern was er denkt) so hat die selbstthätige Einbildungskraft eine gefährliche Freyheit und kann nicht, wie in andern Fällen, durch die sinnliche Gegenwart ihres Objekts in ihre Grenzen zurückgewiesen werden. Aber weder der Mensch überhaupt noch der Dichter insbesondre darf sich der Gesetzgebung der Natur anders entziehen, als um sich unter die entgegengesetzte der Vernunft zu begeben; nur für das Ideal darf er die Wirklichkeit verlassen, denn an einem von diesen beyden Ankern muß die Freyheit bevestigt seyn. Aber der Weg von der Erfahrung zum Ideale ist so weit, und dazwischen liegt die Phantasie mit ihrer zügellosen Willkühr. Es ist daher unvermeidlich, daß der Mensch überhaupt wie der Dichter insbesondere, wenn er sich durch die Freyheit seines Verstandes aus der Herrschaft der Gefühle begiebt, ohne durch Gesetze der Vernunft dazu getrieben zu werden, d. h. wenn er die Natur aus bloßer Freyheit verläßt, solang ohne Gesetz ist, mithin der Phantasterey zum Raube dahingegeben wird.

Daß sowohl ganze Völker als einzelne Menschen, welche der sichern Führung der Natur sich entzogen haben, sich wirklich in diesem Falle befinden, lehrt die Erfahrung, und eben diese stellt auch Beyspiele genug von einer ängstlichen Verirrung in der Dichtkunst auf. Weil der ächte sentimentalische Dichtungstrieb, um sich zum idealen zu erheben, über die Grenzen wirklicher Natur hinausgehen muß, so geht der unächte über jede Grenze überhaupt hinaus, und überredet sich, als wenn schon das wilde Spiel der Imagination die poetische Begeisterung ausmache. Dem wahrhaften Dichtergenie, welches die Wirklichkeit nur um der Idee willen verlässet, kann dieses nie oder doch nur in Momenten begegnen, wo es sich selbst verloren hat; da es hingegen durch seine Natur selbst zu einer überspannten Empfindungsweise verführt werden kann. Es kann aber durch sein Beyspiel andere zur Phantasterey verführen, weil Leser von reger Phantasie und schwachem Verstand ihm nur die Freyheiten absehen, die es sich gegen die wirkliche Natur herausnimmt, ohne ihm bis zu seiner hohen innern Nothwendigkeit folgen zu können. Es geht dem sentimentalischen Genie hier, wie wir bey dem naiven gesehen haben. Weil dieses durch seine Natur alles ausführte, was es thut, so will der gemeine Nachahmer an seiner eigenen Natur keine schlechtere Führerinn haben. Meisterstücke aus der naiven Gattung werden daher gewöhnlich die plattesten und schmutzigsten Abdrücke gemeiner Natur, und Hauptwerke aus der sentimentalischen ein zahlreiches Heer phantastischer Produktionen zu ihrem Gefolge haben, wie dieses in der Litteratur eines jeden Volkes leicht nachzuweisen ist.

Es sind in Rücksicht auf Poesie zwey Grundsätze im Gebrauch, die an sich völlig richtig sind, aber in der Bedeutung, worinn man sie gewöhnlich nimmt, einander gerade aufheben. Von dem ersten, „daß die Dichtkunst zum Vergnügen und zur Erholung diene“ ist schon oben gesagt worden, daß er der Leerheit und Platitüde in poetischen Darstellungen nicht wenig günstig sey; durch den andern Grundsatz „daß sie zur moralischen Veredlung des Menschen diene“ wird das Überspannte in Schutz genommen. Es ist nicht überflüßig beyde Principien, welchen man so häufig im Mund führt, oft so ganz unrichtig auslegt und so ungeschickt anwendet, etwas näher zu beleuchten.

Wir nennen Erholung den Übergang von einem gewaltsamen Zustand zu demjenigen, der uns natürlich ist. Es kommt mithin hier alles darauf an, worin wir unsern natürlichen Zustand setzen, und was wir unter einem gewaltsamen verstehen. Setzen wir jenen lediglich in ein ungebundenes Spiel unsrer physischen Kräfte und in eine Befreyung von jedem Zwang, so ist jede Vernunftthätigkeit, weil jede einen Widerstand gegen die Sinnlichkeit ausübt, eine Gewalt, die uns geschieht, und Geistesruhe mit sinnlicher Bewegung verbunden, ist das eigentliche Ideal der Erholung. Setzen wir hingegen unsern natürlichen Zustand in ein unbegrenztes Vermögen zu jeder menschlichen Äußerung und in die Fähigkeit über alle unsre Kräfte mit gleicher Freyheit disponieren zu können, so ist jede Trennung und Vereinzelung dieser Kräfte ein gewaltsamer Zustand, und das Ideal der Erhohlung ist die Wiederherstellung unsers Naturganzen nach einseitigen Spannungen. Das erste Ideal wird also lediglich durch das Bedürfniß der sinnlichen Natur, das zweite wird durch die Selbstständigkeit der menschlichen aufgegeben. Welche von diesen beyden Arten der Erholung die Dichtkunst gewähren dürfe und müsse, möchte in der Theorie wohl keine Frage seyn; denn niemand wird gerne das Ansehen haben wollen, als ob er das Ideal der Menschheit dem Ideal der Thierheit nachzusetzen versucht sein könne. Nichts destoweniger sind die Foderungen, welche man im wirklichen Leben an poetische Werke zu machen pflegt, vorzugsweise von dem sinnlichen Ideal hergenommen, und in den meisten Fällen wird nach diesem – zwar nicht die Achtung bestimmt, die man diesen Werken erweist, aber doch die Neigung entschieden und der Liebling gewählt. Der Geisteszustand der mehresten Menschen ist auf Einer Seite anspannende und erschöpfende Arbeit, auf der andern erschlaffender Genuß. Jene aber, wissen wir, macht das sinnliche Bedürfniß nach GeistesRuhe und nach einem Stillstand des Wirkens ungleich dringender als das moralische Bedürfniß nach Harmonie und nach einer absoluten Freyheit des Wirkens, weil vor allen Dingen erst die Natur befriediget seyn muß, ehe der Geist eine Foderung machen kann; dieser bindet und lähmt die moralischen Triebe selbst, welche jene Foderung aufwerfen mußten. Nichts ist daher der Empfänglichkeit für das wahre Schöne nachtheiliger als diese beyden nur allzugewöhnlichen Gemüthsstimmungen unter den Menschen, und es erklärt sich daraus, warum so gar wenige, selbst von den Bessern ja den Beßten, in ästhetischen Dingen ein richtiges Urtheil haben. Die Schönheit ist das Produkt der Zusammenstimmung zwischen dem Geist und den Sinnen, es spricht zu allen Vermögen des Menschen zugleich und kann daher nur unter der Voraussetzung eines vollständigen und freyen Gebrauchs aller seiner Kräfte empfunden und gewürdiget werden. Einen offenen Sinn, ein erweitertes Herz, einen frischen und ungeschwächten Geist muß man dazu mitbringen, seine ganze Natur muß man beysammen haben; welches keineswegs der Fall derjenigen ist, die durch abstraktes Denken in sich selbst getheilt, durch kleinliche Geschäftsformeln eingeengt, durch anstrengendes Aufmerken ermattet sind. Diese verlangen zwar nach einem sinnlichen Stoff, aber nicht um das Spiel der Denkkräfte daran fortzusetzen, sondern um es einzustellen. Sie wollen frey seyn, aber nur von einer Last, die ihre Trägheit ermüdete, nicht von einer Schranke, die ihre Tätigkeit hemmte.

Darf man sich also noch über das Glük der Mittelmäßigkeit und Leerheit in ästhetischen Dingen, und über die Rache der schwachen Geister an dem wahren und energischen Schönen verwundern? Auf Erholung rechneten sie bey diesem, aber auf eine Erholung nach ihrem Bedürfniß und nach ihrem armen Begriff, und mit Verdruß entdecken sie, daß ihnen jetzt erst eine Kraftäußerung zugemuthet wird, zu der ihnen auch in ihrem beßten Moment das Vermögen fehlen möchte. Dort hingegen sind sie willkommen, wie sie sind; denn so wenig Kraft sie auch mitbringen, so brauchen sie doch noch viel weniger, um den Geist ihres Schriftstellers auszuschöpfen. Der Last des Denkens sind sie hier auf einmal entledigt, und die losgespannte Natur darf sich im seligen Genuß des Nichts, auf dem weichen Poster der Platitüde pflegen. In dem Tempel Thaliens und Melpomenens, so wie er bey uns bestellt ist, thront die geliebte Göttinn, empfängt in ihrem weiten Schooß den stumpfsinnigen Gelehrten und den erschöpften Geschäftsmann, und wiegt den Geist in einen magnetischen Schlaf, indem sie die erstarrten Sinne erwärmt, und die Einbildungskraft in einer süßen Bewegung schaukelt.

Und warum wollte man den gemeinen Köpfen nicht nachsehen, was selbst den Besten oft genug zu begegnen pflegt. Der Nachlaß, welchen die Natur nach jeder anhaltenden Spannung fodert und sich auch ungefodert nimmt, (und nur für solche Momente pflegt man den Genuß schöner Werke aufzusparen) ist der ästhetischen Urtheilskraft so wenig günstig, daß unter den eigentlich beschäftigten Klassen nur äußerst wenige seyn werden, die in Sachen des Geschmacks mit Sicherheit und, worauf hier so viel ankommt, mit Gleichförmigkeit urtheilen können. Nichts ist gewöhnlicher als daß sich die Gelehrten, den gebildeten Weltleuten gegenüber, in Urtheilen über die Schönheit die lächerlichsten Blößen geben, und daß besonders die Kunstrichter von Handwerk der Spott aller Kenner sind. Ihr verwahrloßtes, bald überspanntes bald rohes Gefühl leitet sie in den mehresten Fällen falsch, und wenn sie auch zu Vertheidigung desselben in der Theorie etwas aufgegriffen haben, so können sie daraus nur technische (die Zweckmäßigkeit eines Werks betreffende) nicht aber ästhetische Urtheile bilden, welche immer das Ganze umfassen müssen, und bey denen also die Empfindung entscheiden muß. Wenn sie endlich nur gutwillig auf die letztern Verzicht leisten und es bey den ersten bewenden lassen wollten, so möchten sie immer noch Nutzen genug stiften, da der Dichter in seiner Begeisterung und der empfindende Leser im Moment des Genusses das Einzelne gar leicht vernachlässigen. Ein desto lächerlicheres Schauspiel ist es aber, wenn diese rohen Naturen, die es mit aller peinlichen Arbeit an sich selbst höchstens zu Ausbildung einer einzelnen Fertigkeit bringen, ihr dürftiges Individuum zum Repräsentanten des allgemeinen Gefühls aufstellen, und im Schweiß ihres Angesichts – über das Schöne richten.

Dem Begriff der Erhohlung, welche die Poesie zu gewähren habe, werden, wie wir gesehen, gewöhnlich viel zu enge Grenzen gesetzt, weil man ihn zu einseitig auf das bloße Bedürfniß der Sinnlichkeit zu beziehen pflegt. Gerade umgekehrt wird dem Begriff der Veredlung, welche der Dichter beabsichtigen soll, gewöhnlich ein viel zu weiter Umfang gegeben, weil man ihn zu einseitig nach der bloßen Idee bestimmt.

Der Idee nach geht nehmlich die Veredlung immer ins Unendliche, weil die Vernunft in ihren Foderungen sich an die notwendigen Schranken der Sinnenwelt nicht bindet, und nicht eher als bey dem absolut Vollkommenen stille steht. Nichts, worüber sich noch etwas höheres denken läßt, kann ihr Genüge leisten; vor ihren strengen Gerichte entschuldigt kein Bedürfniß der endlichen Natur: sie erkennt keine andern Grenzen an, als des Gedankens, und von diesem wissen wir, daß er sich über alle Grenzen der Zeit und des Raumes schwingt. Ein solches Ideal der Veredlung, welches die Vernunft in ihrer reinen Gesetzgebung vorzeichnet darf sich also der Dichter eben so wenig als jenes niedrige Ideal der Erholung, welches die Sinnlichkeit aufstellt, zum Zwecke setzen, da er die Menschheit zwar von allen zufälligen Schranken befreyen soll, aber ohne ihren Begriff aufzuheben und ihre nothwendigen Grenzen zu verrücken. Was er über diese Linien hinaus sich erlaubt, ist Überspannung, und zu dieser eben wird er nur allzuleicht durch einen falsch verstandenen Begriff von Veredlung verleitet. Aber das schlimme ist, daß er sich selbst zu dem wahren Ideal menschlicher Veredlung nicht wohl erheben kann, ohne noch einige Schritte über dasselbe hinaus zu gerathen. Um nehmlich dahin zu gelangen, muß er die Wirklichkeit verlassen, denn er kann es, wie jedes Ideal, nur aus innern und moralischen Quellen schöpfen. Nicht in der Welt, die ihn umgibt und im Geräusch des handelnden Lebens, in seinem Herzen nur trift er es an, und nur in der Stille einsamer Betrachtung findet er sein Herz. Aber diese Abgezogenheit vom Leben wird nicht immer bloß die zufälligen – sie wird öfters auch die nothwendigen und unüberwindlichen Schranken der Menschheit aus seinen Augen rücken, und indem er die reine Form sucht, wird er in Gefahr seyn, allen Gehalt zu verlieren. Die Vernunft wird ihr Geschäft viel zu abgesondert von der Erfahrung treiben, und was der contemplative Geist auf dem ruhigen Wege des Denkens aufgefunden, wird der handelnde Mensch auf dem drangvollen Weg des Lebens nicht in Erfüllung bringen können. So bringt gewöhnlich eben das den Schwärmer hervor, was allein im Stande war, den Weisen zu bilden, und der Vorzug des letztern möchte wohl weniger darinn bestehen, daß er das erste nicht geworden, als darinn, daß er es nicht geblieben ist.

Da es also weder dem arbeitenden Theile der Menschen überlassen werden darf, den Begriff der Erholung nach seinem Bedürfniß, noch dem contemplativen Theile, den Begriff der Veredlung nach seinen Speculationen zu bestimmen, wenn jener Begriff nicht zu physisch und der Poesie zu unwürdig, dieser nicht zu hyperphysisch und der Poesie zu überschwenglich ausfallen soll – diese beyden Begriffe aber, wie die Erfahrung lehrt, das allgemeine Urtheil über Poesie und poetische Werke regieren, so müssen wir uns, um sie auslegen zu lassen, nach einer Klasse von Menschen umsehen, welche ohne zu arbeiten thätig ist, und idealisiren kann, ohne zu schwärmen; welche alle Realitäten des Lebens mit den wenigstmöglichen Schranken desselben in sich vereinigt, und vom Strom der Begebenheiten getragen wird, ohne der Raub desselben zu werden. Nur eine solche Klasse kann das schöne Ganze menschlicher Natur, welches durch jede Arbeit augenblicklich, und durch ein arbeitendes Leben anhaltend zerstört wird, aufbewahren und in allem, was rein menschlich ist durch ihre Gefühle dem allgemeinen Urtheil Gesetze geben. Ob eine solche Klasse wirklich existiere, oder vielmehr ob diejenige, welche unter ähnlichen äusern Verhältnissen wirklich existiert, diesem Begriffe auch im innern entspreche, ist eine andre Frage, mit der ich hier nichts zu schaffen habe. Entspricht sie demselben nicht, so hat sie bloß sich selbst anzuklagen, da die entgegengesetzte arbeitende Klasse wenigstens die Genugthuung hat, sich als ein Opfer ihres Berufs zu betrachten. In einer solchen Volksklasse (die ich aber hier bloß als Idee aufstelle, und keineswegs als ein Faktum bezeichnet haben will) würde sich der naive Charakter mit dem sentimentalischen also vereinigen, daß jeder den andern vor seinem Extreme bewahrte, und indem der erste das Gemüth vor Überspannung schützte, der andere es vor Erschlaffung sicher stellte. Denn endlich müssen wir es doch gestehen, daß weder der naive noch der sentimentalische Charakter für sich allein betrachtet, das Ideal schöner Menschlichkeit ganz erschöpfen, das nur aus der innigen Verbindung beyder hervorgehen kann.

Zwar solange man beyde Charaktere biß zum dichterischen exaltiert, wie wir sie auch bißher betrachtet haben, verliert sich vieles von den ihnen adhärierenden Schranken, und auch ihr Gegensatz wird immer weniger merklich, in einem je höheren Grad sie poetisch werden; denn die poetische Stimmung ist ein selbstständiges Ganze, in welchem alle Unterschiede und alle Mängel verschwinden. Aber eben darum, weil es nur der Begriff des poetischen ist, in welchem beide Empfindungsarten zusammentreffen können, so wird ihre gegenseitige Verschiedenheit und Bedürftigkeit in demselben Grade merklicher, als sie den poetischen Charakter ablegen; und dieß ist der Fall im gemeinen Leben. Je tiefer sie zu diesem herabsteigen, desto mehr verlieren sie von ihrem generischen Charakter der sie einander näher bringt, biß zuletzt in ihren Karrikaturen nur der Artcharakter übrig bleibt, der sie einander entgegen setzt.

Dieses führt mich auf einen sehr merkwürdigen psychologischen Antagonism unter den Menschen in einem sich kultivierenden Jahrhundert: Einen Antagonism, der, weil er radikal und in der innern Gemüthsform gegründet ist, eine schlimmere Trennung unter den Menschen anrichtet, als der zufällige Streit der Interessen je hervorbringen könnte; der dem Künstler und Dichter alle Hofnung benimmt, allgemein zu gefallen und zu rühren, was doch seine Aufgabe ist; der es dem Philosophen, auch wenn er alles gethan hat, unmöglich macht, allgemein zu überzeugen, was doch der Begriff einer Philosophie mit sich bringt; der es endlich dem Menschen im praktischen Leben niemals vergönnen wird, seine Handlungsweise allgemein gebilliget zu sehen: kurz, einen Gegensatz, welcher Schuld ist, daß kein Werk des Geistes und keine Handlung des Herzens bey Einer Klasse ein entscheidendes Glück machen kann, ohne eben dadurch bey der andern sich einen Verdammungsspruch zuzuziehen. Dieser Gegensatz ist ohne Zweifel so alt, als der Anfang der Kultur und dürfte vor dem Ende derselben schwerlich anders als in einzelnen seltenen Subjekten, deren es hoffentlich immer gab und immer geben wird, beygelegt werden; aber obgleich zu seinen Wirkungen auch diese gehört, daß er jeden Versuch zu seiner Beylegung vereitelt, weil kein Theil dahin zu bringen ist, einen Mangel auf seiner Seite und eine Realität auf der andern einzugestehen, so ist es doch immer Gewinn genug, eine so wichtige Trennung bis zu ihrer letzten Quelle zu verfolgen, und dadurch den eigentlichen Punkt des Streits wenigstens auf eine einfachere Formel zu bringen.

Man gelangt am beßten zu dem wahren Begriff dieses Gegensatzes, wenn man, wie ich eben bemerkte, sowohl von dem naiven als von dem sentimentalischen Charakter absondert, was beyde poetisches haben. Es bleibt alsdann von dem ersteren nichts übrig, als, in Rücksicht auf das theoretische, ein nüchterner Beobachtungsgeist und eine feste Anhänglichkeit an das gleichförmige Zeugniß der Sinne; in Rücksicht auf das praktische eine resignierte Unterwerfung unter die Nothwendigkeit (nicht aber unter die blinde Nöthigung) der Natur: eine Ergebung also in das, was ist und was seyn muß. Es bleibt von dem sentimentalischen Charakter nichts übrig, als (im theoretischen) ein unruhiger Speculationsgeist, der auf das Unbedingte in allen Erkenntnissen dringt, im praktischen ein moralischer Rigorism, der auf dem Unbedingten in Willenshandlungen besteht. Wer sich zu der ersten Klasse zählt, kann ein Realist, und wer zur andern, ein Idealist genannt werden; bey welchen Namen man sich aber weder an den guten noch schlimmen Sinn, den man in der Metaphysik damit verbindet, erinnern darf.

Da der Realist durch die Notwendigkeit der Natur sich bestimmen läßt, der Idealist durch die Nothwendigkeit der Vernunft sich bestimmt, so muß zwischen beyden dasselbe Verhältniß Statt finden, welches zwischen den Wirkungen der Natur und den Handlungen der Vernunft angetroffen wird. Die Natur, wissen wir, obgleich eine unendliche Größe im Ganzen, zeigt sich in jeder einzelnen Wirkung abhängig und bedürftig; nur in dem All ihrer Erscheinungen drückt sie einen selbstständigen großen Charakter aus. Alles Individuelle in ihr ist nur deßwegen, weil etwas anderes ist; nichts springt aus sich selbst, alles nur aus dem vorhergehenden Moment hervor, um zu einem folgenden zu führen. Aber eben diese gegenseitige Beziehung der Erscheinungen auf einander sichert einer jeden das Daseyn durch das Daseyn der andern, und von der Abhängigkeit ihrer Wirkungen ist die Stätigkeit und Nothwendigkeit derselben unzertrennlich. Nichts ist frey in der Natur, aber auch nichts ist willkührlich in derselben.

Und gerade so zeigt sich der Realist, sowohl in seinem Wissen als in seinem Thun. Auf alles, was bedingungsweise existiert, erstreckt sich der Kreis seines Wissens und Wirkens, aber nie bringt er es auch weiter als zu bedingten Erkenntnissen, und die Regeln, die er sich aus einzelnen Erfahrungen bildet, gelten, in ihrer ganzen Strenge genommen, auch nur Einmal; erhebt er die Regel des Augenblicks zu einem allgemeinen Gesetz, so wird er sich unausbleiblich in Irrthum stürzen. Will daher der Realist in seinem Wissen zu etwas Unbedingtem gelangen, so muß er es auf dem nehmlichen Wege versuchen, auf dem die Natur ein unendliches wird, nehmlich auf dem Wege des Ganzen und in dem All der Erfahrung. Da aber die Summe der Erfahrung nie völlig abgeschlossen wird, so ist eine comparative Allgemeinheit das höchste, was der Realist in seinem Wissen erreicht. Auf die Wiederkehr ähnlicher Fälle baut er seine Einsicht, und wird daher richtig urtheilen in allem, was in der Ordnung ist; in allem hingegen, was zum erstenmal sich darstellt, kehrt seine Weißheit zu ihrem Anfang zurück.

Was von dem Wissen des Realisten gilt, das gilt auch von seinem (moralischen) Handeln. Sein Charakter hat Moralität, aber diese liegt, ihrem reinen Begriffe nach, in keiner einzelnen That, nur in der ganzen Summe seines Lebens. In jedem besondern Fall wird er durch äusre Ursachen und durch äusre Zwecke bestimmt werden; nur daß jene Ursachen nicht zufällig, jene Zwecke nicht augenblicklich sind, sondern aus dem Naturganzen subjektiv fließen, und auf dasselbe sich objektiv beziehen. Die Antriebe seines Willens sind also zwar in rigoristischem Sinn weder frey genug, noch moralisch lauter genug, weil sie etwas anders als den blossen Willen zu ihrer Ursache und etwas anders als das blosse Gesetz zu ihrem Gegenstand haben; aber es sind eben so wenig blinde und materialistische Antriebe, weil dieses andre das absolute Ganze der Natur, folglich etwas selbstständiges und nothwendiges ist. So zeigt sich der gemeine Menschenverstand, der vorzügliche Antheil des Realisten, durchgängig im Denken und im Betragen. Aus dem einzelnen Fall schöpft er die Regel seines Urtheils, aus einer inneren Empfindung die Regel seines Thuns; aber mit glücklichem Instinkt weiß er von beyden alles Momentane und Zufällige zu scheiden. Bey dieser Methode fährt er im Ganzen vortreflich und wird schwerlich einen bedeutenden Fehler sich vorzuwerfen haben; nur auf Größe und Würde möchte er in keinem besondern Fall Anspruch machen können. Diese ist nur der Preiß der Selbstständigkeit und Freyheit, und davon sehen wir in seinen einzelnen Handlungen zu wenig Spuren.

Ganz anders verhält es sich mit dem Idealisten, der aus sich selbst und aus der blossen Vernunft seine Erkenntnisse und Motive nimmt. Wenn die Natur in ihren einzelnen Wirkungen immer abhängig und beschränkt erscheint, so legt die Vernunft den Charakter der Selbstständigkeit und Vollendung gleich in jede einzelne Handlung. Aus sich selbst schöpft sie alles, und auf sich selbst bezieht sie alles. Was durch sie geschieht, geschieht nur um ihrentwillen; eine absolute Größe ist jeder Begriff den sie aufstellt, und jeder Entschluß den sie bestimmt. Und eben so zeigt sich auch der Idealist, soweit er diesen Nahmen mit Recht führt, in seinem Wissen, wie in seinem Thun. Nicht mit Erkenntnissen zufrieden, die bloß unter bestimmten Voraussetzungen gültig sind, sucht er biß zu Wahrheiten zu dringen, die nichts mehr voraussetzen und die Voraussetzungen zu allem andern sind. Ihn befriedigt nur die philosophische Einsicht, welche alles bedingte Wissen auf ein unbedingtes zurückführt, und an dem Nothwendigen in dem menschlichen Geist alle Erfahrung befestiget; die Dinge, denen der Realist sein Denken unterwirft, muß Er Sich, seinem Denkvermögen unterwerfen. Und er verfährt hierinn mit völliger Befugniß, denn wenn die Gesetze des menschlichen Geistes nicht auch zugleich die Weltgesetze wären, wenn die Vernunft endlich selbst unter der Erfahrung stünde, so würde auch keine Erfahrung möglich seyn.

Aber er kann es bis zu absoluten Wahrheiten gebracht haben, und dennoch in seinen Kenntnissen dadurch nicht viel gefördert seyn. Denn alles freylich steht zuletzt unter nothwendigen und allgemeinen Gesetzen, aber nach zufälligen und besondern Regeln wird jedes einzelne regiert; und in der Natur ist alles einzeln. Er kann also mit seinem philosophischen Wissen das Ganze beherrschen, und für das Besondre, für die Ausübung, dadurch nichts gewonnen haben: ja, indem er überal auf die obersten Gründe dringt, durch die alles möglich wird, kann er die nächsten Gründe, durch die alles wirklich wird, leicht versäumen; indem er überal auf das Allgemeine sein Augenmerk richtet, welches die verschiedensten Fälle einander gleich macht, kann er leicht das besondre vernachläßigen, wodurch sie sich von einander unterscheiden. Er wird also sehr viel mit seinem Wissen umfassen können, und vielleicht eben deßwegen wenig fassen, und oft an Einsicht verlieren, was er an Übersicht gewinnt. Daher kommt es daß, wenn der speculative Verstand den gemeinen um seiner Beschränktheit willen verachtet, der gemeine Verstand den speculativen seiner Leerheit wegen verlacht; denn die Erkenntnisse verlieren immer an bestimmtem Gehalt, was sie an Umfang gewinnen.

In der moralischen Beurtheilung wird man bey dem Idealisten eine reinere Moralität im einzelnen, aber weit weniger moralische Gleichförmigkeit im Ganzen, finden. Da er nur in so fern Idealist heißt, als er aus reiner Vernunft seine Bestimmungsgründe nimmt, die Vernunft aber in jeder ihrer Äuserungen sich absolut beweißt, so tragen schon seine einzelnen Handlungen, sobald sie überhaupt nur moralisch sind, den ganzen Charakter moralischer Selbstständigkeit und Freyheit, und giebt es überhaupt nur im wirklichen Leben eine wahrhaft sittliche That, die es auch vor einem rigoristischen Urtheil bliebe, so kann sie nur von dem Idealisten ausgeübt werden. Aber je reiner die Sittlichkeit seiner einzelnen Handlungen ist, desto zufälliger ist sie auch; denn Stätigkeit und Nothwendigkeit ist zwar der Charakter der Natur aber nicht der Freyheit. Nicht zwar, als ob der Idealism mit der Sittlichkeit je in Streit gerathen könnte, welches sich widerspricht; sondern weil die menschliche Natur eines consequenten Idealism gar nicht fähig ist. Wenn sich der Realist, auch in seinem moralischen Handeln, einer physischen Nothwendigkeit ruhig und gleichförmig unterordnet, so muß der Idealist einen Schwung nehmen, er muß augenblicklich seine Natur exaltieren, und er vermag nichts, als insofern er begeistert ist. Alsdann freylich vermag er auch desto mehr, und sein Betragen wird einen Charakter von Hoheit und Größe zeigen, den man in den Handlungen des Realisten vergeblich sucht. Aber das wirkliche Leben ist keineswegs geschickt, jene Begeisterung in ihm zu wecken und noch viel weniger sie gleichförmig zu nähren. Gegen das Absolutgroße, von dem er jedesmal ausgeht, macht das Absolutkleine des einzelnen Falles, auf den er es anzuwenden hat, einen gar zu starken Absatz. Weil sein Wille der Form nach immer auf das Ganze gerichtet ist, so will er ihn, der Materie nach, nicht auf Bruchstücke richten, und doch sind es mehrentheils nur geringfügige Leistungen, wodurch er seine moralische Gesinnung beweisen kann. So geschieht es denn nicht selten, daß er über dem unbegrenzten Ideale den begrenzten Fall der Anwendung übersiehet, und von einem Maximum erfüllt, das Minimum verabsäumt, aus dem allein doch alles Große in der Wirklichkeit erwächst.

Will man also dem Realisten Gerechtigkeit widerfahren lassen, so muß man ihn nach dem ganzen Zusammenhang seines Lebens richten; will man sie dem Idealisten erweisen, so muß man sich an einzelne Äusserungen desselben halten, aber man muß diese erst herauswählen. Das gemeine Urtheil, welches so gern nach dem einzelnen entscheidet, wird daher über den Realisten gleichgültig schweigen, weil seine einzelnen Lebensakte gleich wenig Stoff zum Lob und zum Tadel geben; über den Idealisten hingegen wird es immer Parthey ergreifen, und zwischen Verwerfung und Bewunderung sich theilen, weil in dem einzelnen sein Mangel und seine Stärke liegt.

Es ist nicht zu vermeiden, daß bey einer so großen Abweichung in den Principien beyde Partheyen in ihren Urtheilen einander nicht oft gerade entgegengesetzt seyn, und, wenn sie selbst in den Objekten und Resultaten übereinträfen, nicht in den Gründen auseinander seyn sollten. Der Realist wird fragen, wozu eine Sache gut sey? und die Dinge nach dem, was sie werth sind, zu taxiren wissen: der Idealist wird fragen, ob sie gut sey? und die Dinge nach dem taxiren, was sie würdig sind. Von dem, was seinen Werth und Zweck in sich selbst hat (das Ganze jedoch immer ausgenommen) weiß und hält der Realist nicht viel; in Sachen des Geschmacks wird er dem Vergnügen, in Sachen der Moral wird er der Glückseligkeit das Wort reden, wenn er diese gleich nicht zur Bedingung des sittlichen Handelns macht; auch in seiner Religion vergißt er seinen Vortheil nicht gern, nur daß er denselben in dem Ideale des höchsten Guts veredelt und heiligt. Was er liebt wird er zu beglücken, der Idealist wird es zu veredeln suchen. Wenn daher der Realist in seinen politischen Tendenzen den Wohlstand bezweckt, gesetzt daß es auch von der moralischen Selbstständigkeit des Volks etwas kosten sollte, so wird der Idealist, selbst auf Gefahr des Wohlstands, die Freyheit zu seinem Augenmerk machen. Unabhängigkeit des Zustandes ist jenem, Unabhängigkeit von dem Zustand ist diesem das höchste Ziel, und dieser charakteristische Unterschied läßt sich durch ihr beyderseitiges Denken und Handeln verfolgen. Daher wird der Realist seine Zuneigung immer dadurch beweisen, daß er giebt, der Idealist dadurch, daß er empfängt; durch das, was er in seiner Großmuth aufopfert, verräth jeder, was er am höchsten schätzt. Der Idealist wird die Mängel seines Systems mit seinem Individuum und seinem zeitlichen Zustand bezahlen, aber er achtet dieses Opfer nicht; der Realist büßt die Mängel des seinigen mit seiner persönlichen Würde, aber er erfährt nichts von diesem Opfer. Sein System bewährt sich an allem, wovon er Kundschaft hat, und wornach er ein Bedürfniß empfindet – was bekümmern ihn Güter, von denen er keine Ahnung und an die er keinen Glauben hat? Genug für ihn, er ist im Besitze, die Erde ist sein, und es ist Licht in seinem Verstande, und Zufriedenheit wohnt in seiner Brust. Der Idealist hat lange kein so gutes Schicksal. Nicht genug, daß er oft mit dem Glücke zerfällt, weil er versäumte, den Moment zu seinem Freunde zu machen, er zerfällt auch mit sich selbst; weder sein Wissen, noch sein Handeln kann ihm Genüge thun. Was er von sich fodert, ist ein Unendliches, aber beschränkt ist alles, was er leistet. Diese Strenge, die er gegen sich selbst beweißt, verläugnet er auch nicht in seinem Betragen gegen andre. Er ist zwar großmüthig, weil er sich Andern gegenüber, seines Individuums weniger erinnert, aber er ist öfters unbillig, weil er das Individuum eben so leicht in andern übersieht. Der Realist hingegen ist weniger großmüthig, aber er ist billiger, da er alle Dinge mehr in ihrer Begrenzung beurtheilt. Das Gemeine, ja selbst das Niedrige im Denken und Handeln kann er verzeyhen, nur das Willkührliche, das Eccentrische nicht; der Idealist hingegen ist ein geschworner Feind alles Kleinlichen und Platten, und wird sich selbst mit dem Extravaganten und Ungeheuren versöhnen, wenn es nur von einem großen Vermögen zeugt. Jener beweißt sich als Menschenfreund, ohne eben einen sehr hohen Begriff von den Menschen und der Menschheit zu haben; dieser denkt von der Menschheit so groß, daß er darüber in Gefahr kommt, die Menschen zu verachten.

Der Realist für sich allein würde den Kreis der Menschheit nie über die Grenzen der Sinnenwelt hinaus erweitert, nie den menschlichen Geist mit seiner selbständigen Größe und Freyheit bekannt gemacht haben; alles Absolute in der Menschheit ist ihm nur eine schöne Schimäre und der Glaube daran nicht viel besser als Schwärmerey, weil er den Menschen niemals in seinem reinen Vermögen, immer nur in einem bestimmten und eben darum begrenzten Wirken erblickt. Aber der Idealist für sich allein würde eben so wenig die sinnlichen Kräfte cultiviert und den Menschen als Naturwesen ausgebildet haben, welches doch ein gleich wesentlicher Theil seiner Bestimmung, und die Bedingung aller moralischen Veredlung ist. Das Streben des Idealisten geht viel zu sehr über das sinnliche Leben und über die Gegenwart hinaus; für das Ganze nur, für die Ewigkeit will er säen und pflanzen, und vergißt darüber, daß das Ganze nur der vollendete Kreis des Individuellen, daß die Ewigkeit nur eine Summe von Augenblicken ist. Die Welt wie der Realist sie um sich herum bilden möchte, und wirklich bildet, ist ein wohlangelegter Garten, worinn alles nützt, alles seine Stelle verdient und, was nicht Früchte trägt verbannt ist; die Welt unter den Händen des Idealisten ist eine weniger benutzte aber in einem größeren Charakter ausgeführte Natur. Jenem fällt es nicht ein, daß der Mensch noch zu etwas anderem da seyn könne, als wohl und zufrieden zu leben; und daß er nur deßwegen Wurzeln schlagen soll, um seinen Stamm in die Höhe zu treiben. Dieser denkt nicht daran, daß er vor allen Dingen wohl leben muß, um gleichförmig zu gut und edel zu denken, und daß es auch um den Stamm gethan ist, wenn die Wurzeln fehlen.

Wenn in einem System etwas ausgelassen ist, wornach doch ein dringendes und nicht zu umgehendes Bedürfniß in der Natur sich vorfindet, so ist die Natur nur durch eine Inconsequenz gegen das System zu befriedigen. Einer solchen Inconsequenz machen auch hier beyde Theile sich schuldig, und sie beweißt, wenn es bis jetzt noch zweifelhaft geblieben seyn könnte, zugleich die Einseitigkeit beyder Systeme und den reichen Gehalt der menschlichen Natur. Von dem Idealisten brauch ich es nicht erst insbesondere darzuthun, daß er nothwendig aus seinem System treten muß, sobald er eine bestimmte Wirkung bezweckt; denn alles bestimmte Daseyn steht unter zeitlichen Bedingungen und erfolgt nach empirischen Gesetzen. In Rücksicht auf den Realisten hingegen könnte es zweifelhafter scheinen, ob er nicht auch schon innerhalb seines Systems allen nothwendigen Foderungen der Menschheit Genüge leisten kann. Wenn man den Realisten fragt: warum thust du was recht ist und leidest was nothwendig ist? so wird er im Geist seines Systems darauf antworten: weil es die Natur so mit sich bringt, weil es so seyn muß. Aber damit ist die Frage noch keineswegs beantwortet, denn es ist nicht davon die Rede, was die Natur mit sich bringt, sondern was der Mensch will; denn er kann ja auch nicht wollen, was seyn muß. Man kann ihn also wieder fragen können: warum willst du denn, was seyn muß? Warum unterwirft sich dein freyer Wille dieser Naturnothwendigkeit, da er sich ihr eben so gut, (wenn gleich ohne Erfolg, von dem hier auch gar nicht die Rede ist) entgegensetzen könnte, und sich in Millionen deiner Brüder derselben wirklich entgegensetzt? Du kannst nicht sagen, weil alle andern Naturwesen sich derselben unterwerfen, denn du allein hast einen Willen, ja du fühlst, daß deine Unterwerfung eine freywillige seyn soll. Du unterwirfst dich also, wenn es freywillig geschieht, nicht der Nathurnotwendigkeit selbst, sondern der Idee derselben; denn jene zwingt dich bloß blind, wie sie den Wurm zwingt; deinem Willen aber kann sie nichts anhaben, da du, selbst von ihr zermalmt, einen andern Willen haben kannst. Woher bringst du aber jene Idee der Naturnothwendigkeit; aus der Erfahrung doch wohl nicht, die dir nur einzelne Naturwirkungen aber keine Natur (als Ganzes), und nur einzelne Wirklichkeiten aber keine Nothwendigkeit liefert. Du gehst also über die Natur hinaus, und bestimmst dich idealistisch, so oft du entweder moralisch handeln oder nur nicht blind leiden willst. Es ist also offenbar, daß der Realist würdiger handelt, als er seiner Theorie nach zugiebt, so wie der Idealist erhabener denkt, als er handelt. Ohne es sich selbst zu gestehen, beweißt jener durch die ganze Haltung seines Lebens die Selbstständigkeit, dieser durch einzelne Handlungen die Bedürftigkeit der menschlichen Natur.

Einem aufmerksamen und partheylosen Leser werde ich nach der hier gegebenen Schilderung (deren Wahrheit auch derjenige eingestehen kann, der das Resultat nicht annimmt) nicht erst zu beweisen brauchen, daß das Ideal menschlicher Natur unter beyde vertheilt, von keinem aber völlig erreicht ist. Erfahrung und Vernunft haben beyde ihre eigene Gerechtsame, und keine kann in das Gebiet der andern einen Eingriff thun, ohne entweder für den innern oder äussern Zustand des Menschen schlimme Folgen anzurichten. Die Erfahrung allein kann uns lehren, was unter gewissen Bedingungen ist, was unter bestimmten Voraussetzungen erfolgt, was zu bestimmten Zwecken geschehen muß. Die Vernunft allein kann uns hingegen lehren, was ohne alle Bedingung gilt, und was nothwendig sein muß. Massen wir uns nun an, mit unserer bloßen Vernunft über das äußre Daseyn der Dinge etwas ausmachen zu wollen, so treiben wir bloß ein leeres Spiel und das Resultat wird auf Nichts hinauslaufen; denn alles Daseyn steht unter Bedingungen und die Vernunft bestimmt unbedingt. Lassen wir aber ein zufälliges Ereigniß über dasjenige entscheiden, was schon der bloße Begriff unsers eigenen Seyns mit sich bringt, so machen wir uns selber zu einem leeren Spiel des Zufalls und unsere Persönlichkeit wird auf nichts hinauslaufen. In dem ersten Fall ist es also um den Werth (den zeitlichen Gehalt) unsers Lebens, in dem zweyten um die Würde (den moralischen Gehalt) unsers Lebens gethan.

Zwar haben wir in den bißherigen Schilderungen dem Realisten einen moralischen Werth und dem Idealisten einen Erfahrungsgehalt zugestanden, aber bloß insofern beyde nicht ganz consequent verfahren und die Natur in ihnen mächtiger wirkt als das System. Obgleich aber beyde gegen das Ideal vollkommener Menschheit verlieren, so ist zwischen beyden doch der wichtige Unterschied, daß der Realist zwar dem Vernunftbegriff der Menschheit in keinem einzelnen Falle Genüge leistet, dafür aber dem Verstandesbegriff derselben auch niemals widerspricht, der Idealist hingegen zwar in einzelnen Fällen dem höchsten Begriff der Menschheit näher kommt, dagegen aber nicht selten sogar unter dem niedrigsten Begriffe derselben bleibt. Nun kommt es aber in der Praxis des Lebens weit mehr darauf an, daß das Ganze gleichförmig menschlich gut als daß das Einzelne zufällig göttlich sey – und wenn also der Idealist ein geschikteres Subjekt ist, uns von dem was der Menschheit möglich ist, einen großen Begriff zu erwecken und Achtung für ihre Bestimmung einzuflößen, so kann nur der Realist sie mit Stätigkeit in der Erfahrung ausführen, und die Gattung in ihren ewigen Grenzen erhalten. Jener ist zwar ein edleres aber ein ungleich weniger vollkommenes Wesen; dieser erscheint zwar durchgängig weniger edel, aber er ist dagegen desto vollkommener; denn das Edle liegt schon in dem Beweis eines großen Vermögens, aber das Vollkommene liegt in der Haltung des Ganzen und in der wirklichen That.

Was von beyden Charakteren in ihrer beßten Bedeutung gilt, das wird noch merklicher in ihren beyderseitigen Karrikaturen. Der wahre Realism ist wohlthätiger in seinen Wirkungen und nur weniger edel in seiner Quelle; der falsche ist in seiner Quelle verächtlich und in seinen Wirkungen nur etwas weniger verderblich. Der wahre Realist nehmlich unterwirft sich zwar der Natur und ihrer Nothwendigkeit; aber der Natur als einem Ganzen, aber ihrer ewigen und absoluten Nothwendigkeit, nicht ihren blinden und augenblicklichen Nöthigungen. Mit Freyheit umfaßt und befolgt er ihr Gesetz, und immer wird er das Individuelle dem allgemeinen unterordnen; daher kann es auch nicht fehlen, daß er mit dem ächten Idealisten in dem endlichen Resultat übereinkommen wird, wie verschieden auch der Weg ist, welchen beyde dazu einschlagen. Der gemeine Empiriker hingegen unterwirft sich der Natur als einer Macht und mit wahlloser, blinder Ergebung. Auf das Einzelne sind seine Urtheile, seine Bestrebungen beschränkt; er glaubt und begreift nur, was er betastet, er schätzt nur, was ihn sinnlich verbessert. Er ist daher auch weiter nichts, als was die äusern Eindrücke zufällig aus ihm machen wollen, seine Selbstheit ist unterdrückt, und als Mensch hat er absolut keinen Werth und keine Würde. Aber als Sache ist er noch immer etwas, er kann noch immer zu etwas gut seyn. Eben die Natur, der er sich blindlings überliefert, läßt ihn nicht ganz sinken; ihre ewigen Grenzen schützen ihn, ihre unerschöpflichen Hülfsmittel retten ihn, sobald er seine Freyheit nur ohne allen Vorbehalt aufgiebt. Obgleich er in diesem Zustand von keinen Gesetzen weiß, so walten diese doch unerkannt über ihm, und wie sehr auch seine einzelnen Bestrebungen mit dem Ganzen im Streit liegen mögen, so wird sich dieses doch unfehlbar dagegen zu behaupten wissen. Es giebt Menschen genug, ja wohl ganze Völker, die in diesem verächtlichen Zustande leben, die bloß durch die Gnade des Naturgesetzes, ohne alle Selbstheit, bestehen, und daher auch nur zu etwas gut sind; aber daß sie auch nur leben und bestehen beweißt, daß dieser Zustand nicht ganz gehaltlos ist.

Wenn dagegen schon der wahre Idealism in seinen Wirkungen unsicher und öfters gefährlich ist, so ist der falsche in den seinigen schrecklich. Der wahre Idealist verläßt nur deswegen die Natur und Erfahrung, weil er hier das unwandelbare und unbedingt nothwendige nicht findet, wornach die Vernunft ihn doch streben heißt; der Phantast verläßt die Natur aus bloßer Willkühr, um dem Eigensinne der Begierden und den Launen der Einbildungskraft desto ungebundener nachgeben zu können. Nicht in die Unabhängigkeit von physischen Nöthigungen, in die Lossprechung von moralischen setzt er seine Freyheit. Der Phantast verläugnet also nicht bloß den menschlichen – er verläugnet allen Charakter, er ist völlig ohne Gesetz, er ist also gar nichts und dient auch zu gar nichts. Aber eben darum, weil die Phantasterey keine Ausschweifung der Natur sondern der Freyheit ist, also aus einer an sich achtungswürdigen Anlage entspringt, die ins unendliche perfektibel ist, so führt sie auch zu einem unendlichen Fall in eine bodenlose Tiefe, und kann nur in einer völligen Zerstörung sich endigen.

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