HomeDie Horen1796 - Stück 4II. Etwas über William Shakespeare bey Gelegenheit Wilhelm Meisters. [Wilhelm Schlegel]

II. Etwas über William Shakespeare bey Gelegenheit Wilhelm Meisters. [Wilhelm Schlegel]

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Unter tausend verstrickenden Anlockungen für den Geist, das Herz und die Neugierde, unter manchem hingeworfnen Räthsel, und mancher mit schalkhaftem Ernst vorgetragnen Sittenlehre, bieten Wilhelm Meisters Lehrjahre jedem Freunde des Theaters, der dramatischen Dichtkunst und des Schönen überhaupt, eine in ihrer Art einzige Gabe dar. Die Einführung Shakespeare’s, die Prüfung und Vorstellung seines Hamlet ist ein eben so lebendiges Gemählde für die Phantasie, als sie den Verstand lehrreich beschäftigt, und ihm Gegenstände des tiefen Nachdenkens mit den flüchtigsten Wendungen zuspielt. Sie kann keinesweges als Episode in diesem Roman angesehen werden. Nichts wird von dem Erzähler in seinem eignen Nahmen abgehandelt: die Gespräche, die er seine Personen darüber halten läßt, werden auf das natürlichste durch ihre Lagen und Character herbeygeführt; alles greift in die Handlung ein, und endlich wird durch die geheimnißvolle Erscheinung eines bekannten Unbekannten, eines, wie man denken sollte, nichts weniger als entkörperten Geistes in eben der Rolle, welche der wackre Meister William Shakespeare selbst zu spielen pflegte, ein neuer Knote geschürzt. Mit Einem Wort, das Lob und die Auslegung des größten dramatischen Dichters ist auf die gefälligste Weise dramatisirt. Es wird keine Standrede an seinem Grabe gehalten, noch weniger ergeht ein ägyptisches Todtengericht über ihn. Er ist auferstanden und wandelt unter den Lebenden, nicht durch irgend eine peinliche Beschwörung gezwungen, sondern willig und froh stellt er sich auf das Wort eines Freundes und Vertrauten in verjüngter Kraft und Schönheit dar.

Armer Shakespeare! durch welches Fegefeuer kunstrichterlicher Beurtheilungen hast du gehen müssen!

I could a tale unfold, whose lightest word –

Nie wurde ein Sterblicher mehr vergöttert als du, aber auch nie einer alberner bewundert und lästerlicher geschmäht. Dieß mag nun vielleicht daher kommen, weil du, wie der sinnreiche Pope zierlich bemerkt, wie besser, so auch schlechter als jeder andre Dichter geschrieben. Allein durch welche Versündigungen an der Natur hattest du Warburtons Erläuterungen und Voltairens Nachahmungen verdient? Von dem Briefe des letzten an die Französische Akademie schweige ich: er hätte dir vielleicht keinen zu verwerfenden Dienst geleistet, wenn er die Übersetzung ins Französische dadurch hätte hintertreiben können. Noch viel mehr zweifle ich, du werdest es selbst übel empfunden haben, daß gewisse deutsche Rezensenten in gewissen schönen Bibliotheken so eifrig gegen die Übersetzung deiner Werke in unsre Sprache protestirten, als der selige Gottsched aus billiger Besorgniß für seine tragischen Reimereyen nur immer hätte thun können, wenn er dieß Herzeleid noch erlebt hätte. Hättest du aber gewisse Kommentatoren, Nachahmer und Rezensenten erlebt, welch einen Stoff zu lustigen Szenen würden sie dir geliefert haben!

Man muß gestehen, auch die ächtere Kritik, wie nützlich und nothwendig sie seyn möge, gehört, für sich betrachtet, keinesweges unter die ergötzlichsten Dinge auf dieser Erde, wenn sie schon nicht immer ein so fürchterliches Antlitz hat, wie Doktor Samuel Johnson, der alle Welt richtete. Der Genuß edler Geisteswerke ist unabhängig von ihr, denn er muß ihr vorangehen; sie kann ihn eigentlich nicht erhöhen, wohl aber ihm vieles abziehen, aufs höchste ihn zergliedern und erklären. Ihr rühmlichstes Geschäft ist es, den großen Sinn, den ein schöpferischer Genius in seine Werke legt, den er oft im Innersten ihrer Zusammensetzung aufbewahrt, rein, vollständig, mit scharfer Bestimmtheit zu fassen und zu deuten, und dadurch weniger selbstständige, aber empfängliche Betrachter auf die Höhe des richtigen Standpunktes zu heben. Dieß hat sie jedoch nur selten geleistet. Warum? Weil jenes nahe und unmittelbare Anschauen fremder Eigenthümlichkeit, als wäre sie mit im eignen Bewußtseyn begriffen, mit dem göttlichen Vermögen, selbst zu schaffen, innig verwandt ist, und weil dieses sich immer lieber mit den Gegenständen zunächst zu thun macht, als mit den Begriffen davon, den Hülfsmitteln einer unvollkommenen Erkenntniß, wodurch die Klarheit der seinigen nichts gewinnen kann. Nur das, was man selbst auf dem Umwege des Nachdenkens gefunden, was man gelernt hat, kann man Andern durch eben dieses Mittel lehren, und sie durch Beweise davon überzeugen. Was uns hingegen schon vermöge unsrer Anlagen so gegeben ist, daß es nur einer äussern Berührung bedarf, um es ohne unser weiteres Zuthun auf einmahl in uns zur Wirklichkeit zu bringen, das offenbaren wir eigentlich nur; wir sagen: so ist es; und fodern von andern Wesen, bey welchen wir ähnliche Anlagen voraussetzen, Glauben für unsre Aussage. So verhält es sich mit der anschaulichen Erkenntniß vom Daseyn und der Beschaffenheit sinnlicher Gegenstände. Wie sehr auch darin die Menschen wegen der Verschiedenheit ihrer Organe von einander abweichen, so lange sie die Richtigkeit ihrer Empfindungen nicht zu einer Angelegenheit des Verstandes machen, werden sie niemahls mit Gründen darüber streiten, sondern sich durchaus nur auf die Wirklichkeit berufen. Von der wesentlichen Beschaffenheit menschlicher Gemüther, ihrer unsichtbaren Gestalt, wenn ich so sagen darf, fallen nur die äußerlichen Wirkungen, kund gegebne Gesinnungen und Handlungen, in die Sinne. Die Fertigkeit auch die feineren unwillkührlichen Äußerungen des innern Menschen zu bemerken, und die durch Erfahrung und Nachdenken herausgebrachte Bedeutung dieser Zeichen mit Sicherheit anzugeben, macht den Menschenbeobachter; der Scharfsinn, hieraus noch weiter zu schließen und einzelne Angaben nach Gründen der Wahrscheinlichkeit zu einem bündigen Zusammenhange zu ordnen, den Menschenkenner. Die auszeichnende Eigenschaft des großen dramatischen Dichters ist etwas hievon noch ganz Verschiedenes; das aber, wie man es nehmen will, entweder jene Fertigkeit und jenen Scharfsinn in sich faßt, oder ihn (zwar nicht für das wirkliche Leben, aber für die Ausübung seiner Kunst) beyder überhebt. Es ist ein Blick, ein wunderbarer Blick in die Seelen, vor dem sich das Unsichtbare sichtbar enthüllt, verbunden mit der Gabe, die vermöge einer so außerordentlichen Sehkraft gesammelten Bilder wiederum auf die Oberfläche des geistigen Auges zurücksenden, und sie Andern darin wie in einem klaren Spiegel erscheinen lassen zu können. Wenn also ein großer dramatischer Dichter Werke eines ihm verbrüderten Geistes nach ihrem Gehalt und Wesen prüft, so wird er auch hier seine Art nicht verläugnen, und nicht so wohl beweisen, was er denkt, als darstellen, was er sieht. Sehr unsinnlichen Begriffen wird er das Einleuchtende sinnlicher Wahrheit und Gegenwart zu geben wissen, und was er sagt, wird vielmehr der Kunst selbst, als ihrer Theorie anzugehören scheinen.

Die Gedanken, welche Wilhelm Meister über Shakespeare’s Hamlet vorträgt, sind so einzig treffend, sie umfassen das Ganze mit einem solchen Seherauge, daß man vielleicht den Einwurf machen könnte, er gehe dabey zu weit über seinen bisherigen Kreis hinaus, wie vieles auch schon von seinen Talenten vorgekommen seyn mag; und sein Geschichtschreiber habe ihm zu reichlich aus eigner Fülle geliehen, was er nicht wieder im Handel und Wandel anbringen könne, ohne durch Bild und Überschrift der Münze den wahren Eigenthümer zu verrathen. Aber der Held des Romans ist grade in den Jahren der entscheidendsten Entwickelung; diese geht nicht immer gleichförmig vor sich: wie sie zuweilen stillsteht, so thut sie auch wohl plötzlich einen Riesenschritt, wenn ein ungewöhnlicher Anlaß schlummernde Kräfte weckt, und ein solcher Anlaß ist eben für Wilhelmen die mit dem großen Dichter gestiftete Bekanntschaft. Auch ist durch einige Bemerkungen Aureliens über ihren Freund jener Einwendung schon hinlänglich vorgebeugt.

Hamlet ist von jeher vielleicht das bewundertste und gewiß das mißverstandenste unter allen Stücken Shakespeare’s gewesen. Wie verträgt sich dieß beides miteinander? Woher die große Popularität eines Schauspiels, das den Denker in trostlose Labyrinthe der Betrachtung verstrickt, und in dessen Gange die Armuth an Handlung auch einem gemeinen Blick schwerlich entgehen kann. Wenigstens bleibt der Held, für den man sich so sehr interessirt, unter allen auf ihn losdringenden Vorfällen größtentheils leidend. Thaten werden von ihm gefodert, und er giebt nur Gefühle und Gedanken. Allein wenn gleich wenig gethan wird, so geschieht doch viel, und viel wird zu denken aufgegeben. Grausen, Erstaunen und Mitleid ketten den großen Haufen an die Bühne, die von den wundervollen und furchtbaren Schlägen des Schicksals gleichsam in ihren Grundfesten wankt, während den weiseren Hörer die unaufgelößten Räthsel seines Daseyns, welche er in Hamlets Seele ließ, in sein eignes Innre versenken.

Es könnte befremden, daß es möglich war, über Hamlets Charakter, nachdem er sich so unzählig vielen Lesern und Zuschauern dargestellt, und so viele gute Köpfe beschäftigt, nachdem ihn schätzbare Philosophen zergliedert, und die größten Schauspieler, die es in neuern Zeiten, die es vielleicht jemals gab, mit dem höchsten Aufwande ihrer Kunst vollendet und ausgemahlt, noch etwas Neues und Wahreres wie bisher zu sagen. Freylich sollte der Sittenlehrer den Menschen kennen; der große Schauspieler weiß ihn zuverläßig auf das feinste zu beobachten: aber es ist nicht nöthig, daß beyden auch nur ein Funke von dramatischem Genius, vielleicht dem seltensten aller Vorzüge des menschlichen Geistes, inwohne. Je mehr der Philosoph sich gewöhn that, vorsichtig zu schließen, desto weniger ist es seine Sache, glücklich kühn zu errathen, und Verhältnisse, die sich vielfach durchkreuzen und unübersehlich auseinander laufen, durch einen raschen Griff bey dem einzigen gemeinschaftlichen Berührungspunkte aller zu fassen. Die Bestrebungen des Schauspielers sind immer am meisten auf die Außenseite des Menschen gerichtet. Er kann daher sehr gut im Stande seyn, sich treu in die vorgezeichneten Umrisse zu fügen, und sie durch das kräftigste und schönste Kolorit seiner Person, seiner Stimme, seiner Gebährden zu beleben, ja er kann eine vollkommene Harmonie in die Äußerungen eines Charakters bringen, ohne doch die geheimsten und ersten Gründe, warum jedes so oder so ist, zu durchschauen. Also könnte wohl gar ein Schauspieler den Hamlet übereinstimmend mit Wilhelm Meisters Erklärung vorstellen, ohne von dieser zu wissen, und ohne im Stande zu seyn, sie selbst zu geben? Nicht anders. Genug, wenn es ihm nur gelungen ist, alles Einzelne (nicht die einzelnen Stellen, denn das reicht nicht hin, wie Wilhelm sehr richtig bemerkt; sondern die verschiednen Seiten des Charakters) vollkommen zu fassen und auszudrücken. Der Dichter überhebt ihn der Sorge für einen großen, innigen Zusammenhang in allem diesem. Wenn er denselben nur nicht zerstört, so werden ihn die Zuschauer nach Maaßgabe ihrer Fähigkeiten mehr oder weniger dunkel fühlen, bis ihnen einmahl ein überlegener Geist hilft, die Ahnung bis zur Erkenntniß aufzuhellen. Unternehmen sie ohne das, ihn nach Begriffen zu erklären, so können sie sich freylich leicht verirren.

Doch wie? möchte man fragen: ist es nicht ein wesentlicher Fehler an einer Dichtung, die ja nicht bloß für wenige Menschen von ausgezeichneten Fähigkeiten, sondern für Menschen überhaupt bestimmt ist, wenn sie so sehr Gefahr läuft, misverstanden oder wenigstens nicht vollständig begriffen zu werden? Die Antwort ist nicht schwer. Es giebt Künstler, die gute Gedanken haben, aber wegen einer gewissen Ohnmacht der Darstellung nicht umhin können, immer die beste Hälfte davon zurückzubehalten ; fruchtbare Phantasien giebt es, die dabey mit einer Art von Verworrenheit behaftet sind, welche sie hindert, ihre Geburten jemahls recht aufs reine zu bringen. Aus diesen beyden Gebrechen entstehen zwey Arten der Dunkelheit; beyde verwerflich und dem Vergnügen, das ein schönes Geisteswerk gewähren soll, mehrentheils tödlich. Hingegen ist Klarheit eben so sehr wie Fülle und Kraft ein unterscheidendes Merkmahl des Genius, und folglich kann in seinen Schöpfungen nicht wohl eine andre Art von Dunkelheit Statt finden, als die Unergründlichkeit der schaffenden Natur, deren Ebenbild er im Kleinen ist. An den wirklichen Dingen, wie sie aus der Hand der Natur hervorgehen, ist das Gepräge einer höheren selbstständigen Macht auch für das beschränkteste Erkenntnißvermögen im geringsten nicht zweydeutig oder unbestimmt; es fühlt sehr wohl, so wenig es von ihrer Beschaffenheit einsieht, daß sie, unabhängig von seinen Vorstellungen oder Irrthümern, sind, was sie sind. Jeder mehr umfassende, auch der höchste endliche Verstand steht in demselben Verhältnisse zur Natur. Er treibe seine Forschungen noch so weit, endlich wird er doch bey der Betrachtung der Wesen auf einen Punkt gelangen, wo er mit seinem Gefühle stillstehen, und sich unerkannten Gesetzen des Daseyns gläubig unterwerfen muß. Ob sich gleich die menschliche Wissenschaft nicht rühmen darf, das Wesen eines einzigen Atoms erschöpft zu haben, so kann sie doch die todten Erzeugnisse der Körperwelt in ihre einfacheren Bestandtheile zerlegen; sie kann an organisirten Geschöpfen alle Werkzeuge des Lebens nach ihrem Bau und ihren Bestandtheilen sehr genau untersuchen: allein hat sie jemahls die lebendigen Kräfte selbst erhascht, die wir überall um uns her wirkend sehen, deren eine wir in uns fühlen? Leben ist das große Geheimniß der Natur; es ist der Nilstrom, der Länder befruchtet und sich mit vielen Armen in das Meer stürzt, aber dessen Quelle kein Sterblicher erblickt hat. Um nun die Anwendung zu machen und Großes mit Kleinem zu vergleichen: der dramatische Künstler im höchsten Sinne des Wortes, sey er Mahler oder Dichter, bildet Menschen; er beseelt sie durch einen göttlichen Funken des Lebens, den er rauben muß, denn auf einem rechtmäßigen Wege ist nicht daran zu kommen. Die andern Menschen, welche die Natur selbst erschaffen hat, können sich nicht erwehren, jene anziehenden Geschöpfe für ihres Gleichen anzuerkennen, und sich des Umgangs mit ihnen zu freuen, wenn schon in ihrer Art zu seyn und zu handeln machens ihnen nicht ganz verständlich ist. Wissen wir doch von unsern vertrautesten Bekannten, wenn sie einige Tiefe und Umfang des Charakters haben, nicht immer mit deutlichen Gründen darzuthun, warum sie sich jedes Mahl unter besondern Umständen so oder so benehmen, ohne daß wir darum an dem Bestande ihrer Persönlichkeit irre würden. Jene entweder in der Ausführung verfehlten, oder schon in der Anlage verworrenen Darstellungen, wovon ich oben sprach, könnte man mit trüben Strömen vergleichen, worin das schärftste Gesicht so wenig etwas unterschieden kann, als das blödeste; die Werke des ächten Genius hingegen mit einem reinen und stillen Wasser von unermesslicher Tiefe. Sollte auch kein Auge ganz bis auf den Boden dringen, so findet doch jedes für seine Sehkraft Befriedigung: denn so weit diese reicht, erblickt es die in dem flüssigen Elemente enthaltnen Gegenstände vollkommen deutlich und unentstellt. Nur der ist durch eigne Schuld irrigen Vorstellungen ausgesetzt, der sich einbildet oder anmaaßt, tiefer zu sehen, als er wirklich sieht.

Ob der Dichter beym Hamlet alles so gedacht hat, wie Wilhelm Meister ihn auslegt, das ist ein Zweifel, den Shakespeare allein, wenn er könnte, zu bekräftigen das Recht hätte. Es muß aber dabey die anschauliche Wahrnehmung von dem entwickelten Begriffe unterschieden werden. Man kann sich recht gut denken, daß Shakespeare mehr von seinem Hamlet wußte als ihm selbst bewußt war; ja er läßt ihn vielleicht ausführlicher über sich und seine sittlichen Verhältnisse philosophiren, als er bey Anlegung dieses Charakters in eigner Person that. In einem solchen Dichtergeiste müssen alle Kräfte in so inniger Gemeinschaft wirken, daß es gar nicht zu verwundern ist, wenn der Verstand erst hinterdrein seine Verdienste geltend zu machen, und seinen Antheil an der vollendeten Schöpfung zurückzufodern weiß. Am Hamlet ist er in der That so hervorstechend, daß man das Ganze wie Göthens Faust, ein Gedankenschauspiel nennen könnte. Nämlich nicht ein Schauspiel, durch welches eine Reihe von Gedanken neben der Handlung hinläuft, und zwar so, daß diese sich in ihren Fortschritten nach der Folge jener richten muß, um damit immer in gleich naher Beziehung zu bleiben; wo also die dramatische Verknüpfung gewissermaaßen ein Bild des logischen Zusammenhanges wird (wie etwa in Lessings Nathan) sondern ein solches, aus dessen Verwickelung Aufgaben hervorgehen, welche aufzulösen dem Nachdenken des Lesers oder Zuschauers überlassen wird. Hiezu wird der Charakter eines Helden am brauchbarsten seyn, dem die Widersprüche seiner sittlichen Natur zum Hauptgegenstande der Betrachtung werden müssen, weil seine Erkenntniß seiner Willenskraft weit überlegen ist; und darauf beruht eben die Ähnlichkeit zwischen den beyden genannten Schauspielen.

Doch nichts weiter über Hamlets Charakter, nach dem was Wilhelm Meister gesagt: keine Ilias nach dem Homer! Aus demselben Grunde schweige ich auch von den Bemerkungen über Ophelia, und den wenigen aber köstlichen Worten über Polonius und das doppelte Exemplar von Höflingen, Rosenkranz und Güldenstern. Was die Aufführung betrifft, so ist sehr zu wünschen, daß jeder Schauspieler, der sie künftig anordnen oder nur daran Theil nehmen soll, die darüber gegebnen Winke auf das sorgfältigste erwäge und beherzige. Nur hüte sich der, welcher den Geist spielen soll, nicht, wie der Unbekannte hier thut, sein Visier herunter zu lassen. Dort in dem Schauspiel mußte Hamlet die Gesichtszüge seines Vaters sehen, um vollkommen überzeugt zu werden, daß ihm wirklich sein Geist erschienen; hier im Roman war es wesentlich, daß Wilhelm den Schalk im Harnisch nicht erkennte, um allerliebste Abentheuer vorzubereiten; und nur einem Dichter ziemt es, sich mit den offenbaren Absichten eines andern poetische Lizenzen herauszunehmen. Hingegen läßt sich schwerlich mit Gewißheit ausmachen, wie Shakespeare in der Szene zwischen Hamlet und seiner Mutter es mit den Bildnissen hat gehalten wissen wollen, da die ältesten Ausgaben seiner Schauspiele ganz ohne theatralische Anweisungen sind, und in den Zeiten des barbarischen Geschmacks in England, wo Shakespeare’s Stücke entweder gar nicht oder sehr selten gespielt wurden, die ursprüngliche Überlieferung der Bühne sich nicht erhalten haben kann. Wilhelm erklärt sich, gegen den allgemein eingeführten Gebrauch, nach welchem Hamlet zwey Miniaturbilder hervorzieht, oft auch das eine zu Boden wirft, für zwey Gemählde in Lebensgröße, an der Dekorazion angebracht. Der Gedanke, durch die Ähnlichkeit zwischen der Abbildung des verstorbnen Königs und seinem Geiste die Täuschung zu erhöhen, ist neu und groß, und überwiegt leicht den Einwurf: es sey nicht wahrscheinlich, daß die Königin das Bildniß ihres ersten Gemahls, gleichsam einen beständigen Zeugen ihrer Schande, in ihrem Kabinet habe dulden können. Für die Miniaturbilder ließe sich eine Stelle des Hamlet anführen, woraus man sieht, daß dem Dichter die Vorstellung geläufig war, sich dergleichen von geschätzten Personen machen zu lassen. Ja, Shakespeare ist zuweilen so seltsam in seinen Ausdrücken, daß sich selbst die Meynung derer nicht ganz verwerfen läßt, welche annehmen, es sey nur von Bildnissen im metaphorischen Sinne die Rede, und Hamlet sehe die Gestalten der beyden Brüder bloß in seiner erhitzten Einbildungskraft vor sich.

Manche Bewunderer Shakespeare’s werden Wilhelm Meister dafür lieb haben, daß er sich so ernstlich gegen eine Verstümmelung des Stückes sträubt, daß er am Ende nur der gebieterischen Konvenienz nachgiebt, und die Umarbeitung selbst übernimmt, um grösseren Übeln vorzubeugen. Bey dem Gleichniß mit einem Baume, das er gebraucht, möchte man immer noch zugeben, daß Zweige weggeschnitten, andre eingeimpft werden könnten, ohne den freyen königlichen Wuchs zu entstellen, und die Spur der Scheere sichtbar werden zu lassen. Wie aber? wenn ein dramatisches Gedicht dieser Art noch mehr Ähnlichkeit mit höhern Organisazionen hätte, an denen zuweilen die angebohrne Misgestalt eines einzigen Gliedes nicht geheilt werden kann, ohne dem Ganzen ans Leben zu kommen? Indessen die Bühne hat ihre Rechte: um einige zu werden, müssen sich Dichter und Schauspieler auf halbem Wege entgegenkommen. Shakespeare hat sich gewiss in vielen Äußerlichkeiten nach den Bedürfnissen seines Theaters gerichtet; würde er weniger für das unsrige thun, wenn er jetzt lebte? Da er so reich an tief liegenden und feinen Schönheiten ist, die bey dem schnellen Fortgange und unter den unvermeidlichen Zerstreuungen einer öffentlichen Vorstellung leicht verlohren gehen, und, um ganz gefühlt zu werden die ruhigste Sammlung des einsamen Lesers erfordern, so mögen die eigensinnigen Leute, (worunter ich bekennen muß mit zu gehören) die ihren Dichter durchaus so verlangen, wie er ist, wie sich Verliebte die Sommersprossen ihrer Schönen nicht wollen nehmen lassen, sich damit zufrieden stellen, daß ihnen der Original-Kodex nicht genommen werden soll noch kann.

Die hier vorgeschlagne Veränderung des Hamlet bloß nach der Übersicht des Plans, wie ihn Wilhelm Meister angiebt, beurtheilen zu wollen, wäre unstreitig zu voreilig. Was für schöne Stellen dem zu Folge übergangen werden müssen, fällt sogleich in Augen; aber um den Gewinn, der aus der Vereinfachung der äußerlichen Verhältnisse für den Gang des Stückes zu hoffen ist, recht einzusehn, müßte man die ausgeführte Bearbeitung im Zusammenhange vor sich haben. Und um einzelne neue Schönheiten vorherzusehen, wodurch seine Einbuße etwa vergütet werden möchte, müßte man selbst eine Dichtungskraft besitzen, die fähig wäre, Shakespeare zu bereichern. Die Reisemoral, welche Polonius seinem Sohn mitgiebt, erließe man ihm noch wohl. Desto mehr ist es Schade um die unvergleichliche Szene zwischen Polonius und Reynaldo, und doch muß sie ohne Gnade fort; denn wenn Laertes nicht seiner Ausbildung wegen auf Reisen geht, sondern in königlichen Angelegenheiten abgesandt wird, so möchte sichs nicht sonderlich passen, daß ihm der Vater einen Bedienten nachschickt, um auf eine pfiffige Weise hinter seine wahre Lebensart zu kommen. Auch verliert durch denselben Umstand der Zweykampf einen Beweggrund, der ihn beym Shakespeare wahrscheinlicher macht, ob er gleich immer noch sonderbar genug bleibt. In Frankreich, welches Laertes als den Hauptsitz ritterlicher Vorzüge besucht, konnte er die Fechtkunst als einen derselben auf eine in Dänemark seltne Höhe getrieben haben, und dadurch Hamlets Wetteifer rege machen: aber auch in Norwegen, einer eroberten Provinz? Daß der an sich vortreffliche Monolog Hamlets im vierten Aufzuge, wie er die Armee des Fortinbras auf ihrem Zuge nach Pohlen gesehn hat, wegfällt, ist vielleicht weniger zu beklagen, da er im Wesentlichen mit dem, welchen der rauhe Pyrrhus veranlaßt, übereinkömmt. Verlohren geht er dennoch nicht, wenn die Aufschlüsse über Hamlets Charakter, an denen er fast noch reichhaltiger ist als jener, anderweitig benutzt werden. Den Fortinbras, diesen wackern jungen Krieger, pflegt man überhaupt bey allen Abänderungen immer am ersten aufzuopfern, und doch wüßt’ ich im ganzen Stücke nichts, was, wenigstens beym Lesen, inniger erschütterte, als seine feyerlich wundervolle Erscheinung auf der Wahlstatt, wo das Schicksal eben seine furchtbaren Entscheidungen vollendet hat. Bleibt sie weg, so werden Gute und Böse einander auch im Tode gleich gemacht, alle sterben ohne Feyerklage, und der einzige Überlebende Horatio kann sich als Zeuge jener Begebenheiten nur an unbedeutende Hörer wenden. Wie groß tritt Fortinbras auf, um dem unglücklichen Edlen in Nahmen der Nachwelt, deren Ausspruch seine letzte Bekümmerniß war, zum ersten Mahle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Eine so ausserordentliche Verwüstung verlangt einen erhabenen Zuschauer, und nur ein Held ist würdig einer zertrümmerten Welt (denn mit diesem Eindrucke endigt das Trauerspiel) die letzte Ehre zu erweisen.

Soll indessen Hamlet unter uns verändert aufgeführt werden, wie es bisher immer geschehen, und wie er sichs ja auch in England muß gefallen lassen, so ist nichts mehr zu wünschen, als daß die von Wilhelm Meisters Geschichtschreiber erregte Hoffnung bald erfüllt werden mag. Eine solche neue Bearbeitung würde durch ihren Werth alle künftigen überflüßig und durch ihr Ansehen verdächtig machen. Daß niemand mehr Beruf haben kann, in Shakespeare’s Sinne zu dichten, als der Schöpfer des Götz von Berlichingen, des Faust, des Egmont, leuchtet von selbst ein. Schwerlich wird sich einer der Schriftgelehrten unterstehn, ihn zu fragen: aus waser Macht thust du das?

Aus ein paar kleinen Bruchstücken sieht man, daß Wilhelm Meisters Übersetzung des Hamlet prosaisch war. Es begreift sich, daß er vor der Aufführung keine Muße zu einer poetischen hatte; und wozu auch, bey einer zunächst für das Theater bestimmten Arbeit, da doch unsre meisten Schauspieler nicht gern mit Versen zu thun haben, weil sie wohl fühlen, daß sie selbige entweder radebrechen oder skandiren? Allein bey weitem die meisten Stücke Shakespear’s werden bey uns nicht auf die Bühne gebracht, und man hat auch keine Hoffnung sie darauf zu sehen. Es bleibt dem Leser überlassen, sich mit ihren Schönheiten vertraut zu machen, und diesem würde vermuthlich eine poetische Übersetzung nicht unwillkommner seyn, als die prosaische gewesen ist.

Vor mehr als dreyßig Jahren wagte sich zuerst ein Schriftsteller, der wegen der eignen Fruchtbarkeit seines Geistes am wenigsten zum Übersetzer bestimmt schien, der aber nachher auch in diesem Fache für uns klassisch geworden, an die herkulische Arbeit, den grössern Theil der Werke Shakespear’s zu verdeutschen. Sie war es damahls noch weit mehr, da man weniger Hülfsmittel zur Kenntniß der Englischen Sprache hatte, und selbst in England noch wenig für die Erläuterung des oft so schweren, hier und da ganz unverständlichen Dichters geschehen war. Indessen wurde dieses Verdienst nicht gleich gehörig anerkannt, und das war nicht zu verwundern, da auf unsrer Bühne schaale Nachahmungen der Franzosen noch allgemein herrschten, und auch unsre besten dramatischen Werke ganz nach ihrem Muster gearbeitet waren. Wer hätte sich’s damahls einbilden dürfen, daß so heidnisch regellose, barbarische Stücke, wie man aus einem dunkeln Gerüchte wußte, daß ein gewisser Engländer, Shakespeare, geschrieben habe, uns jemahls würden vor die Augen gebracht werden dürfen? Lessing, dieser rüstige Feind der Vorurtheile, zeigte zuerst die tragische Kunst der Franzosen in ihrer Blöße, erhob eine nachdrückliche Stimme über Shakespeare’s Verdienste, und erinnerte die Deutschen, weil sie es so bald vergessen zu haben schienen, sie besitzen eine Übersetzung des großen Dichters, woran sie, ungeachtet ihrer Mängel, noch lange genug würden zu lernen haben, ehe sie nothwendig eine bessere haben müßten.

Freylich konnte er nicht vorhersehen, was wenige Jahre nachher geschah, und wofür er selbst durch den Styl seiner dramatischen Werke, besonders der Emilia Galotti, die Empfänglichkeit seiner Landsleute hatte wecken helfen. Die Erscheinung des Götz von Berlichingen stiftete, in Verbindung mit einigen andern Umständen, eine ganz neue Epoche unsrer Bühne im Guten und Bösen. Nicht lange vorher war der einzige Britte mit glühender Beredtsamkeit, die seine Gegner, wo nicht überzeugen, doch hinreißen mußte, gepriesen, und besonders die Wahrheit eingeschärft worden, daß sich der Regelnkram modiger Verfeinerung schlechterdings nicht als Maaßstab für seine Schöpfungen gebrauchen lasse. Schon neun Jahre nach Erscheinung der Wielandischen Übersetzung stellte sich das Bedürfniß, nicht eines neuen Abdrucks derselben, sondern einer verbesserten Verdeutschung der sämmtlichen Werke Shakespeare’s ein. Da Wieland selbst diese Arbeit nicht übernehmen konnte, fiel sie glücklicher Weise einem unsrer gelehrtesten und geschmackvollsten Litteratoren in die Hände, der mit gründlicher Sprachkunde, seltnem Scharfsinn im Auslegen, und beharrlicher Sorgfalt, der Übersetzung ertheilte, was ihr bisher noch gefehlt, nämlich Vollständigkeit im Ganzen und Genauigkeit im Einzelnen. Jetzt wurde auch mehreren Schauspielen Shakespeare’s eine öffentlichere Huldigung geleistet; von der Bühne herab bemächtigten sie sich der Gemüther, und liessen unauslöschliche Eindrücke zurück. Unsre größten Schauspieler fanden hier freyen Spielraum für Talente, die sie sonst nicht so glänzend hätten entwickeln können. Er wurde immer mehr einheimisch unter uns. Auch Layen in der ausländischen Litteratur lernten seinen Nahmen mit Ehrerbietung aussprechen, und man darf kühnlich behaupten, daß er nächst den Engländern keinem Volke so eigenthümlich angehört, wie den Deutschen, weil er von keinem im Original und in der Kopie so viel gelesen, so tief studirt, so warm geliebt, und so einsichtsvoll bewundert wird. Und dieß ist nicht etwa eine vorübergehende Mode; es ist nicht, daß wir uns auch einmahl zu dieser Form dramatischer Poesie bequemt hätten, wie wir immer vor andern Nazionen geneigt und fertig sind, uns in fremde Denkarten und Sitten zu fügen. Nein, er ist uns nicht fremd: wir brauchen keine Schritt aus unserm Charakter herauszugehn, um ihn ganz unser nennen zu dürfen. Die Sonne kann zuweilen durch Nebel, der Genius durch Vorurtheile verdunkelt werden; aber bis etwa aller Sinn für Einfalt und Wahrheit unter uns ausstirbt, werden wir immer mit Liebe zu ihm zurückkehren. Was er sich hie und da erlaubt, findet bey uns am leichtesten Nachsicht, weil uns eine gewisse gezierte Ängstlichkeit doch nicht natürlich ist, wenn wir sie uns auch anschwatzen lassen; die Ausschweifungen seiner Phantasie und seines Gefühls (giebt es anders dergleichen) sind gerade die, denen wir selbst am meisten ausgesetzt sind, und seine eigenthümlichen Tugenden gelten einem edlen Deutschen unter allen am höchsten. Ich meyne damit sowohl die Tugenden des Dichters als des Menschen, in so fern sich dieser in jenem offenbaren kann; in Shakespeare ist beydes auf das innigste verbunden: er dichtete wie er war. In Allem, was aus seiner Seele geflossen, lebt und spricht altväterliche Treuherzigkeit, männliche Gediegenheit, bescheidne Grösse, unverlierbare heilige Unschuld, göttliche Milde.

His life was gentle, and the elements
So mix’d in him, that nature might stand up
And say to all the world: this is a man!

Doch zu so herrlichen Schätzen ist die Englische Sprache der einzige Schlüssel; zwar nicht ein goldner, wie Gibbon mit Recht die Griechische Sprach ernennt, doch wenn schon aus mehr gemischten, gewiß aus eben so edlem Metall als die unsrige. Wie sehr sich auch die Kenntniß derselben in Deutschland verbreitet hat, so ist sie doch selten genug in dem Grade, der erfodert wird, um von der Menge der Schwierigkeiten nicht beständig im Genusse unterbrochen, oder gar von der Lesung des Dichters abgeschreckt zu werden. Wie Wenige giebt es wohl wieder unter denen, welche ihn im Ganzen (d. h. die Stellen ausgenommen, wo die Engländer selbst eines Kommentars bedürfen, weil die Wörter veraltet, die Anspielungen unbekannt, oder die Lesarten verderbt sind) ohne Anstoß lesen können, denen alle die feineren Schönheiten, die zarten Abschattungen des Ausdrucks, worauf die Harmonie eines poetischen Gemähldes beruht, so fühlbar und geläufig wären, wie in ihrer Muttersprache! Wie Wenige, die es in der Englischen Aussprache zu der Fertigkeit gebracht hätten, die dazu gehört, sich den Dichter mit dem gehörigen Nachdruck und Wohlklang vorzulesen! Und dennoch erhöht dieß immer die Wirkung beträchtlich, denn die Poesie ist einmahl keine stumme Kunst. Solche Leser Shakespeare’s, bey denen alles obige zutrifft, möchten sichs denn doch wohl der Abwechselung wegen gefallen lassen, zuweilen auf vaterländischem Boden im Schatten seiner Dichtungen auszuruhen, wenn sie sich nur ohne zu beträchtlichen Verlust an ihrem schönen Blätterschmuck dahin verpflanzen liessen. Wäre also eine Übersetzung derselben nicht eine sehr wünschenswerthe Sache? „Wir haben ja schon eine, und zwar eine vollständige, richtige, gute.“ Ganz recht! so viel mußten wir auch haben, um noch mehr begehren zu können. Nach der Befriedigung des Bedürfnisses thut sich der Hang zum Wohlleben hervor; jetzt ist das Beste in diesem Fache nicht mehr zu gut für uns. Soll und kann Shakespeare nur in Prosa übersetzt werden, so müßte es allerdings bey den bisherigen Bemühungen so ziemlich sein Bewenden haben. Allein er ist ein Dichter, auch in der Bedeutung, da man diesen Nahmen an den Gebrauch des Sylbenmaaßes knüpft. Wenn es nun möglich wäre, ihn treu und zugleich poetisch nachzubilden? Schritt vor Schritt dem Buchstaben des Sinnes zu folgen, und doch einen Theil der unzähligen, unbeschreiblichen Schönheiten, die nicht im Buchstaben liegen, die wie ein geistiger Hauch über ihm schweben, zu erhaschen? Es gilt einen Versuch. Bildsamkeit ist der ausgezeichnetste Vorzug unsrer Sprache, und sie hat in dieser Art schon vieles geleistet, was andern Sprachen misglückt, oder weniger gelungen ist: man muß an nichts verzweifeln.

Wir sind jedoch an prosaischen Dramen aller Art, von der Posse bis zum heroischen Trauerspiel, so sehr gewöhnt, daß Mancher hiebey denken möchte: Shakespeare sey ja ein dramatischer Dichter; an seinen Versen, als solchen, könne daher nicht viel gelegen seyn. Es komme auf die Handlung, die Charactere, die Reden der Personen an, und der Übersetzer, der ihn in Prosa überträgt, nehme ihm höchstens einen entbehrlichen, zufälligen Zierrath, befreye ihn wohl gar von einem wahren Fehler. Wie sehr würde er sich irren! Doch um dieß einleuchtend zu beweisen, muß ich tiefer in Shakespeare’s eigenthümliche Form der Darstellung eingehn.

„Die Nataks oder Indischen Schauspiele,“ sagt der berühmte Sir Williams Jones in seiner Vorrede zur Sakontala, „sind durchgehends in Versen, wo der Dialog einen höheren Schwung nimmt, und in Prosa, wo er sich zur gewöhnlichen Unterredung herablässt. Den Vornehmen und Gelehrten wird das reine Sanskrit in den Mund gelegt, die Weiber hingegen sprechen Prakrit, welches nicht viel anders ist, als die Bramensprache durch eine weichere Aussprache bis zur Zartheit des Italiänischen verschmelzt, und die geringen Leute den Dialekt der Provinz, den sie jedesmahl nach der Voraussetzung bewohnen.“ Dieß ist schon an sich merkwürdig genug: es liesse sich eine Abhandlung von Schlussfolgen darüber schreiben, welchen Grad der Bildung es bey den Hindus in dem Zeitpunkte voraussetzt, da jene Schauspiele geschrieben wurden. Aber ungemein merkwürdig wird es, wenn man einen Blick der Vergleichung auf unsern Dichter wirft. Eine so auffallende, genaue Übereinstimmung in einem ganz besondern Punkte zwischen zwey Dichtern, die durch ein paar Jahrtausende, durch ganze Welttheile, durch den größten möglichen Abstand des Klima, des Nazionalgeistes, der Sitten und Sprachen, von einander geschieden werden! Man wird wohl annehmen müssen, daß sie nicht durch ein blindes Spiel der Willkühr zusammentreffen, sondern daß beyde aus einer gemeinschaftlichen Quelle geschöpft haben, die in allen Zonen und Zeitaltern fließt, wenn menschliche Verkehrtheit sie nicht verstopft. Zu argwöhnen, Sir William Jones habe seinen Landsleuten durch eine vorgegebne Ähnlichkeit mit ihrem Lieblingsdichter zu schmeicheln, oder jenem mehr Eingang zu verschaffen gesucht, wäre ohne weitere Gründe ungerecht gegen den großen verdienten Kenner des Morgenlandes, besonders da er gar keine solche Anwendung davon macht; und wider die Ächtheit der Sakontala möchte es schwer halten, Zweifel aufzutreiben.

Shakespeare’s Schauspiele insgesammt, gleichviel, ob sie Tragödien, Komödien oder Historien heißen, (denn, wie bekannt, gehören sie alle eigentlich zu einer einzigen Hauptgattung) sind aus Poesie und Prosa, aus dem vertraulichen Ton des Umgangs und einem edleren Gange der Rede gemischt. Nur wenige sind fast ganz in Prosa geschrieben, in den mehrsten überwiegt um ein großes der poetische Theil. In diesem ist der fünffüßige reimlose Jambe die herrschende Versart; aber häufig sind am Schlusse der Szenen und Aufzüge einige gereimte Zeilen in demselben Sylbenmaaße angebracht, in verschiednen Stücken sind auch sonst Reime eingestreut, oder ganze Szenen darin gearbeitet. Ausserdem kommen Lieder vor, wo es die Gelegenheit giebt, und zwar gewöhnlich nicht als episodische Ergötzlichkeit, sondern sie sind in das Gespräch, ja in die Handlungen selbst mit eingewebt. Ob es glich in England keine zwey völlig abgesonderten Sprachen der Vornehmen und Geringen, kein Sanskrit und Prakrit giebt, so weicht doch Shakespeare’s poetische Sprache von seiner prosaischen durch die Wahl, Zusammensetzung, Anordnung und Bindung der Worte vielleicht eben so weit ab, als jene Indischen Dialekte von einander. Aber der Gebrauch der einen oder der andern, hängt bey ihm nicht so sehr am Strande, als am Charakter und den Gemüthsstimmungen der redenden Personen. Freylich passt sich das Edle und Auserlesene nur zu einer gewissen Anständigkeit der Sitten, die sowohl Laster als Tugenden überkleidet, und auch unter heftigen Leidenschaften nicht ganz verschwindet. Wie nun diese den höheren Ständen, wenn gleich nicht ausschließend, doch natürlicher Weise mehr eigen ist als den geringen, so ist auch bey Shakespeare Würde und Vertraulichkeit der Rede, Poesie und Prosa, auf eben die Art unter die Personen vertheilt. Daher sprechen seine gemeinen Bürger, Bauren, Soldaten, Matrosen, Bedienten, hauptsächlich aber seine Narren und Possenreisser fast ohne Ausnahme im Tone ihres wirklichen Lebens. Indessen offenbart sich innre Würde der Gesinnungen, wo sie sich immer finden mag, durch einen gewissen äussern Anstand, ohne daß es dazu durch Erziehung und Gewohnheit angekünstelter Zierlichkeiten bedürfe; jene ist ein allgemeines Recht der Menschen, der niedrigsten wie der höchsten: und so gilt bey Shakespeare die Rangordnung der Natur und der Sittlichkeit hierin mehr wie die bürgerliche. Auch läßt er nicht selten dieselben Personen zu verschiednen Zeiten die erhabenste und dann wieder die gemeinste Sprache führen, und diese Ungleichheit ist ebenfalls in der Wahrheit gegründet. Ausserordentliche Lagen, die den Kopf lebhaft beschäftigen und mächtige Leidenschaften ins Spiel setzen, heben und spannen die Seele: sie rafft alle ihre Kräfte zusammen, und zeigt, wie in ihrem ganzen Wirken, so auch in der Mittheilung durch Worte einen ungewöhnlichen Nachdruck. Hingegen giebt es selbst für den größten Menschen Augenblicke des Nachlassens, wo er die Würde seines Charakters bis auf einen gewissen Grad in sorgloser Ungebundenheit vergißt. Um sich an den Scherzen Andrer zu belustigen, oder selbst zu scherzen, was keinen Helden entehrt, ist sogar diese Stimmung nöthig. Man gehe zum Beyspiel die Rolle Hamlets durch. Welche kühne, kräftige Poesie spricht er, wenn er den Geist seines Vaters beschwört, sich selbst zu der blutigen That anspornt, seiner Mutter in die Seele donnert! Und wie steigt er in seinem Tone in das gemeine Leben hinab, wenn er sich wahnsinnig stellt, oder es mit Personen zu thun hat, mit denen er nach ihrer Würdigkeit nicht anders umgehen kann: wenn er den Polonius und die Höflinge zum Besten hat, die Schauspieler unterrichtet und sich auf die Spässe des Todtengräbers einläßt. Unter allen ernsten Hauptcharakteren des Dichters ist keiner so reich wie Hamlet an Witz und Lauen, denen er sich mitten in seiner Schwermuth überlässt; darum bedient er sich auch unter allen am meisten des vertraulichen Styls. Andre verfallen gar nicht darein, entweder weil der Pomp des Ranges sie beständig umgiebt, oder weil ein gleichförmiger Ernst ihnen natürlich ist, oder endlich weil eine Leidenschaft, nicht von der niederdrückenden Art, wie Hamlets Kummer, sondern eine erweckende Leidenschaft sie das ganze Stück hindurch beherrscht. So feine Unterscheidungen findet man in diesem Punkte überall von Shakespeare beobachtet; ja ich möchte behaupten, wo er eine Person in derselben Rede aus Prosa in Poesie, oder umgekehrt, übergehen läßt, würde man dieß nicht ohne Gefahr, ihm zu schaden, ändern können. Nicht als ob er immer dabey mit besonnener Überlegung verfahren wäre; vermuthlich vertrat ein fast untrüglicher Instinkt des Schicklichen auch hier die Stelle der Kunst.

Die Rücksichten oder Leitungen des Gefühls, wornach er sich beym Gebrauch des Reimes richtete, lassen sich nicht ganz so bestimmt angeben. Man sieht wohl, daß er sinnreiche Sprüche gern in Reime kleidet, besonders wo sie symmetrisch neben oder gegen einander gestellt sind: dieß ist nicht selten der Fall am Schlusse der Szenen, der zuweilen eine epigrammatische Wendung nimmt, so daß gleichsam das Resultat des Vorhergegangenen in einige Zeilen zusammengedrängt wird. Fortgehend gereimt findet man andre Stellen, wo Freyerlichkeit und theatralischer Pomp passend ist, wie die sogenannte Maske im Sturm, und das Schauspiel, das im Hamlet aufgeführt wird. Räumte er deswegen vielleicht an einigen Stücken, am Sommernachtstraum, an Romeo und Julia, dem Reime einen bedeutenden Antheil ein, weil ihr Stoff vorzüglich viele Anlässe zu gefälligen Spielen der Phantasie darbot? Es mag immer seyn, daß er mitunter auch aus keinem andern Grunde in Reimen gedichtet, als weil er grade Lust daran fand. Denn, daß er den Reim geliebt, erhellte theils aus seiner Fruchtbarkeit an Sonetten, theils aus mehreren seiner Lieder, worin er mit diesem dichterischen Wiederhall gar künstlich und artig tändelt. Man hat bemerkt, daß in seinen spätern dramatischen Arbeiten wenige gereimte Stellen angetroffen werden und bey der Untersuchung über ihre muthmaßliche Zeitfolge dieß sogar zu einem Merkmale gemacht. Aber würde jene Bemerkung auch durchgängig bestätigt, (und sie leidet ihre Ausnahmen: Was ihr wollt, das letzte Stück Shakespeare’s nach Malone’s eigner Angabe, gewiss eines seiner reifsten, enthält unter den Versen ziemlich viel Reime, ob es gleich grossentheils in Prosa geschrieben ist) so folgt daraus noch nicht, daß er seinen jugendlichen Geschmack in der Folge verworfen. Er konnte ja auch im höheren Alter die Biegsamkeit der Einbildungskraft, und den Reichthum an Wendungen verlohren haben, welcher dazu gehört, um mit Leichtigkeit zu reimen. Dem sey wie ihm wolle, so ist es offenbar, daß die Verschiedenheit der metrischen Bearbeitung sehr wesentlich auf den Innhalt zurückgewirkt. Seine gereimten Jamben sind seinen reimlosen nicht nur im Ton und Gange unähnlich, sie haben auch eine ganz andre Farbe des Ausdrucks, und sind, so zu sagen, in einer andern Gegend der Bilder und poetischen Figuren zu Hause.

Allein macht eine so bunte Vermischung verschiedner Style nicht einen häßlichen Übelstand? Wohl mehr für das Auge, das diese Ungleichheiten neben einander sieht, mit dem wir aber hier nichts zu schaffen haben, als für das Ohr, das sie nach einander vernimmt. Überhaupt möchten sie den mehr beleidigen, der gewohnt ist, die Alexandriner des französisch modernen Trauerspiels alle von gleichem Maaß, und mit gleichem Tritt auf ihre Parade ziehen zu sehn, als den Leser der griechischen Tragödien, wo nicht nur lyrischer Gesang das Gespräch unterbricht, sondern auch zu diesem, ausser den Jamben, Anapästische und Trochäische Versarten gebraucht werden; ja, wo zuweilen eine Person in derselben Rede aus Jamben in lyrischen Gesang übergeht. Indessen bleibt der Styl in allen verschiednen Sylbenmaaßen immer edel und poetisch, und dieß mußte auch so seyn. Auf schöne Einfachheit und harmonisches Ebenmaaß war im griechischen Heldendrama alles gerichtet. Der Charakter der einzelnen Personen mußte sich unter den allgemeinen, erhöhten Charakter einer Darstellung fügen, welche den Zuschauer durchaus in eine vergötterte Vorwelt versetzen sollte: auch der Bote, der Diener, die Magd oder Wärterin, trugen von der Würde des vorgestellten Mythus, wozu sie mit gehörten, ihr bescheidnes Theil davon. Shakespeare’s Theaterwelt ist eben so gränzenlos mannichfaltig als die wirkliche nach seinen Ansichten; er schloß nichts davon aus, was irgend in der menschlichen Natur und in der bürgerlichen Gesellschaft Statt fand. Wie hätte er sich nun dabey auf einen einzigen, gleichförmigen Styl der Darstellung beschränken können? Die Natur der Sache bewahrte ihn vor einer solchen Abgeschmacktheit, denn sobald er es versuchte, mußten seine Dramen aufhören zu seyn, was sie sind; und aus höchst interessanten wären nicht schöne, sondern gleichgültige Gedichte geworden. Jede seiner Personen hatte gleiche Rechte auf die Behauptung ihrer Eigenthümlichkeit: nach wessen Weise hätte sie also reden sollen, wenn ihr verboten worden wäre, es nach ihrer eignen zu thun? Wir haben die Wahl, ob wir uns, was nur eine kleine Angewöhnung erfodert, zu dem äußern, ich darf sagen, nur scheinbaren Misverhältniß des häufigen und schnellen Wechsels der Style bequemen, oder die ganze dramatische Gattung verwerfen wollen, welche ohne jene Vergünstigung nicht bestehen kann, sie aber auch mit unendlichen Vorzügen bezahlt. Ich darf Leser voraussetzen, die sich darüber schon auf eine oder die andre Art entschieden haben: es würde mich daher nur von meinem Zwecke abführen, die so oft unternommenen Rechtfertigungen Shakespeare’s wegen seiner Verknüpfung komischer und tragischer Theile zum Ganzen Einer Handlung von neuem vorzutragen.

„Gut!“ könnte man sagen: „wenn er uns denn schlechterdings in so geringe Gesellschaft führen wollte, so mußte er auch seinen Ton darnach stimmen. Wir verlangen keine tragische Würde. Aber was verhinderte ihn, eine Gleichförmigkeit der entgegengesetzten Art zu beobachten? Warum legt er den höchsten Charaktern nicht Prosa, zwar edlere, aber doch schlichte Prosa in den Mund, so gut wie den gemeinsten? Wir wollen auf der Bühne natürliche, wirkliche Menschen auf das täuschendste nachgeahmt sehen. Man rühmt von Shakespeare’s Menschen, daß sie das sind, und doch wissen wir wohl, niemand spricht in Versen. Ein wohlklingendes Sylbenmaaß, eine gewählte poetische Sprache sind schön: aber darf das Wahre, worrauf doch allein die Theilnahme an einem Schauspiele sich gründet, dem Schönen aufgeopfert werden? Diese Einwendungen, welche dem gesunden Urtheile, wenn es nicht recht in das Wesen der Poesie eingedrungen ist, so nahe liegen, lassen sich nicht wohl ohne weitere Umstände mit einer bloßen Berufung auf das Beyspiel der Alten, und mancher vortrefflichen Neuern abfertigen, da in den neuesten Zeiten einsichtsvolle Kenner sie durch Lehre und Beyspiel unterstützt haben. Das Ansehen der Alten soll nichts mehr gelten als die Gründe, welche sie selbst bey dem oder jenem Verfahren für sich hatten, und man könnte ihm hier mit aller Ehrerbietung ausweichen, wenn man sagte: der Gebrauch des Sylbenmaaßes sey bey ihnen mehr eine Sache der Nothwendigkeit als der Wahl gewesen, wie schon dadurch wahrscheinlich werde, daß sie es in allen Gattungen vom Trauerspiele des Äschylus an bis zur neuern Komödie, ja bis zu den Mimen des Syrus und Laberius herunter, durchgängig angebracht. Wenn die Stimme des Schauspielers auf ihren großen Theatern nicht ungehört verhallen sollte, so mußte sie sich zur musikalischen Rezitazion erheben, und diese setzte einen regelmäßgien Rhythmus voraus. In der That loben auch alte Schriftsteller den Jambus, als den fürs Theater passenden Vers, wegen seiner akustischen Eigenschaft. Um also die obigen Zweifel gründlich zu lösen, müssen wir uns an das Wesen des Dialogs, und den Grundsatz der Nachahmung selbst nach seinem gültigen Sinne und seinen Einschränkungen wenden.

Menschen will man auf dem Theater sehn und hören, wirkliche Menschen, und sie sollen so genau nachgemacht seyn, daß man sie durch keinen einzigen Zug von den andern außerhalb des Theaters unterscheiden könne. Nichts weiter? Das ließe sich wohlfeiler haben, sollte man denken. Auf Straßen und Märkten begegnen einem ja wirkliche Menschen zu ganzen Haufen, man kann ihnen fast nirgends aus dem Wege gehen: und doch hält man sie für etwas so seltnes und sehenswürdiges, daß man ein eignes Gebäude errichtet, ein Gerüst erleuchtet, viele mühsame Anstalten macht, um ein Dutzend derselben vor einer Versammlung, die aus eben dergleichen besteht, zur Schau zu stellen! Wahrlich, man möchte auf den Verdacht kommen, es widerfahre bloß deswegen einigen wirklichen Menschen eine so unverdiente Auszeichnung um den übrigen einen hohen Begriff von ihrer eignen Wichtigkeit zu geben. „Nein, so ist es nicht gemeynt: man muß merkwürdige oder unterhaltende Eigenschaften haben, wenn man dieser Ehre würdig geachtet werden soll.“ Das wäre denn doch ein Umstand, der die theatralischen Personen stark von den wirklichen, wie sie so gewöhnlich sind unterscheiden würde. Denn jeder gesteht, mit der gehörigen Ausnahme für sich selbst, gern ein, daß er sie im Ganzen genommen, weder sehr merkwürdig, noch sehr unterhaltend findet. Aber auch Menschen, die eins oder das andre in hohem Grade sind, stellen sich doch in ihrem ganzen Lebenslaufe so dar: es giebt Augenblicke, ja beträchtliche Zeiten, wo der merkwürdige Mann in seinem Thun ganz alltäglich scheint, und der unterhaltende Kopf zur Langweiligkeit herabsinkt. Oft entwickeln sich erst nach einem fortgesetzten Umgange die am meisten charakteristischen Eigenschaften eines Menschen vollständig und entschieden. Mit den Personen auf der Bühne muß unsre Bekanntschaft in ein paar kurzen Stunden gestiftet werden, und ihren höchsten Punkt erreichen. Dazu ist es nun erforderlich, daß sie in mancherley, und zwar in solche Lagen versetzt werden, die am geschicktesten sind, das Wesen ihres Charakters in ein helles Licht zu stellen. Wir erlauben dem Dichter daher (und müssen es, wenn wir nicht selbst unsre Absichten, durch die Bedingungen, denen wir ihre Ausführung unterwerfen, vereiteln wollen) eine Verwickelung, eine Anordnung der Eräugnisse zu erfinden, die dergleichen am besten herbeyführt, ob wir schon sehr gut wissen, daß im wirklichen Leben interessante Lagen nie oder fast nie so gedrängt, und von gleichgültigen nicht unterbrochen, auf einander folgen. Aber Lagen sind nur das entferntere Mittel, Menschen kennen zu lernen: zunächst kommt es dabey auf ihr eignes Benehmen an, auf ihre Gebährden, Reden und Handlungen. Die Gebährden sind die Sache des Schauspielers, nicht des Dichters; schon deswegen nicht, weil ihre schriftliche Bezeichnung bey den gröberen Merkmahlen stehen bleiben muß, und von dem feineren Seelenvollen nur dem eine Vorstellung zu geben vermag, der sie schon hat. Der Dichter darf höchstens einige Anweisungen für jenen einstreuen: eine Rolle wäre unvollkommen ausgeführt, wenn ein guter Schauspieler aus den Reden und Handlungen nicht hinlänglich einsehen könnte, wie er sie zu spielen hat. Worte werden häufig den Thaten entgegengesetzt, und in einem gewissen Sinne mit Recht: in so fern sie nämlich Richtungen der Willenskraft ankündigen, die entweder gar nicht vorhanden sind, oder doch ohne weitere Wirkungen bleiben. Aber Worte können auch Thaten seyn; die größten Dinge wurden nicht selten bloß durch Worte verrichtet. So wenig in einem Schauspiel müßige Reden geduldet werden dürfen, die selbst nicht Handlung sind und sie weder fördern noch aufhalten, so wird auf der andern Seite großentheils nur redend gehandelt, und das muß so seyn, weil wir die sittlichen Verhältnisse der Personen zu einander, worauf uns alles ankömmt, allein vermittelst gegenseitiger Mittheilungen ihrer Gedanken, Absichten, Gesinnungen einsehen können. Müssen auch Handlungen vorgestellt werden, die nicht bloß in dergleichen bestehen, so erhalten sie doch erst durch die vorhergegangnen oder begleitenden Reden ihren dramatischen Werth: denn nur diese können uns Aufschlüsse über die Triebfedern geben, woraus sie entsprungen sind. Am Ende muß also die ganze Darstellung der Charakter bloß durch den Dialog bewerkstelligt werden: alles was mittelbar dazu helfen kann, bleibt ohne Anwendung, wenn der Dichter es nicht in Dialog zu verwandeln weiß. Muß ihm also nicht bey Benutzung des einzigen Mittels zu einem so großen und schwierigen Zwecke eine ähnliche Freyheit verstattet werden, wie bey der Anlegung des Plans? Darf er nicht, wenn er nur das Wesen des Dialogs schont, die zufälligen Beschaffenheiten desselben so einrichten, wie es ihm am vortheilhaftesten dünkt? Darf er dabey nicht, nach dem allgemeinen, nie bestrittenen Vorrechte der Dichtkunst, über die Wirklichkeit hinausgehen, wenn seine Erdichtungen nur in den Gränzen der Wahrscheinlichkeit bleiben? Die Verneinung dieser Fragen möchte aller dramatischen Kunst ein Ende machen.

Zum Wesen des Dialogs gehört zweyerley: augenblickliche Entstehung der Reden in den Gemüthern der Sprechenden, und Abhängigkeit derselben von einander, so daß sie eine Reihe von Wirkungen und Gegenwirkungen ausmachen. Das erste ist in dem letzten gewissermaaßen mit enthalten: denn soll meine Rede ganz so beschaffen seyn, wie die Rede des Andern sie in mir veranlassen muß, so kann ich sie nicht bestimmt zuvor ausgesonnen haben, weil ich höchstens nur ungefähr muthmaaße, was er sagen wird. Alles Übrige ist beym Dialog zufällig: die Zahl der Personen, die Länge der Reden, u. s. w. Sogar ein Monolog kann in hohem Grade dialogisch seyn, und er sollte in einem Schauspiele nie etwas anders scheinen, als was man im gemeinen Leben nennt, „sich mit sich selbst besprechen.“ Dabey findet nicht bloß augenblickliche Eingebung Statt, sondern auch eine Art von Wirkung und Gegenwirkung, indem man sich gleichsam in zwey Personen theilt. Man erinnere sich an die berühmte Monologe Hamlets. Was die Länge betrifft, so haben wir Dramen, deren Verfasser zu glauben scheinen, die Lebhaftigkeit des Dialogs bestehe darin, daß ihre Personen immer nur drey Worte hinter einander sagen, und sich gegenseitig fast nicht zu Worten kommen lassen, da doch im wirklichen Leben schwerlich ein bedeutendes Gespräch in solchen Brocken zum Vorschein kömmt, und das letzte unter gesitteten Leuten gar nicht hergebracht ist.

Man kann den Dialog in zwey verschiednen Bedeutungen vollkommen oder unvollkommen nennen: nämlich insbesondere als Dialog; dann in allgemeiner Hinsicht nach seinem Gehalt und Ausdruck. Mit beyden Arten der Unvollkommenheiten ist er im gemeinen Umgange oft reichlich genug ausgesteuert, um Verdruß und Langeweile zu erregen. Billig entfernt daher der Dichter alle solche, die nicht aus den Charaktern und Lagen der Personen entspringen. Zufällig begegnet es wohl jedem Menschen, daß er nur mit halbem Ohre hört, und mit halber Besinnung antwortet; daß er sich wiederhohlen lassen muß, was der Andre gesagt, weil er es nicht begriffen; daß er immer auf dasselbe zurückkömmt, ohne auf die Gründe des andern zu achten; aber nur an dem Zerstreuten, dem langsamen Kopfe, dem Hartnäckigen ist es charakteristisch. Sobald dialogische Unvollkommenheiten dieses sind, kann man sie nicht von der dramatischen Darstellung ausschliessen; sie dürfen sogar Hauptgegenstand derselben werden. Eben das gilt von den Mängeln der Reden, für sich, außer dem Zusammenhange des Gesprächs betrachtet. Dagegen darf der Dichter denselben alle Vorzüge verleihen, welche den Charaktern und Lagen der Personen nicht widersprechen, und er wird dadurch unsre Lust unfehlbar erhöhen. Finden wir wohl jemahls im wirklichen Leben, wenn sich nicht Eigenliebe ins Spiel mischt, daß jemand zu treffend, zu lebhaft, zu witzig, zu darstellend, zu seelenvoll spricht? Nur müssen wir ja keine Spuren von Vorbereitung entdecken, die augenblickliche Eingebung muß immer die Muse des Gesprächs bleiben. Sonst sagen wir, er rede wie ein Buch, und die vortrefflichsten Dinge, so er vorbringt, können uns keine gesellschaftliche Unterhaltung mehr gewähren. Einen solchen Dialog verwerfen wir, nicht als ob er allzu unvollkommen wäre, sondern weil es eigentlich gar kein Dialog ist.

Die Anwendung dieser letzten Bemerkung auf die dramatische Kunst macht sich von selbst. Nun fragt sichs nur: kann Poesie des Styls die Vollkommenheit des Dialogs, als solchen, vermehren, oder hebt sich vielmehr sein Wesen unvermeidlich auf? Es ist ein grobes oder gewöhnliches Misverständniß, das Geschmückte und Rednerische mit dem wahrhaft Poetischen für schlechthin einerley zu halten: leider wird es durch so viele angebliche Gedichte bestätigt, worin man statt dichterischer Kunst mit rhetorischen Künsten abgefunden wird. Nur die anschaulichste Bezeichnung der Vorstellungen, der innigste Ausdruck der Empfindungen heißt mit Recht poetisch, und dieß ist unsrer Natur so wenig fremd, daß man es vielmehr in den unvorbereiteten Reden von Menschen ohne Bildung und Unterricht, wenn ihre Einbildungskraft erhitzt oder ihr Herz bewegt ist, oft am auffallendsten wahrnimmt. Ächte Poesie des Styls ist daher nichts anders als die unmittelbarste, natürlichste Sprache, die wir nämlich reden würden, wenn unsre Natur sich immer von zufälligen Einschränkungen befreyt, in ihrer ganzen Kraft und Fülle offenbarte; sie ist mehr die Sprache der Seelen als der Zungen. Hieraus folgt, daß der Gebrauch derselben den Dialog, in so fern er eine Reihe von Wechselwirkungen ist, allerdings vollkommner machen kann. Je geschickter das Werkzeug der Mittheilung ist Gedanken und Gefühle nicht bloß so ungefähr nach ihrem Stoff und ihrer allgemeinen Beschaffenheit anzudeuten, sondern ihre besonderste, eigenthümlichste Bildung darzustellen, desto vollständiger versteht man sich gegenseitig, und desto genauer wird jede Rede der, wodurch sie veranlaßt worden, entsprechen. Eher könnte es Zweifeln ausgesetzt seyn, ob sich der poetische Ausdruck mit dem zweyten wesentlichen Kennzeichen des Dialogs, der augenblicklichen Entstehung vorträgt? Ich bemerke hier zuerst, daß alle Poesie mehr oder weniger nach den Gattungen Ansprüche darauf macht, für eine zwar ungewöhnliche, aber doch schnelle, ungetheilte, ununterbrochne Eingebung, nicht für eine allmählige Hervorbringung gehalten zu werden; daß die letzte und nicht die leichteste Kunst des Dichters darin besteht, alle Kunst zu verbergen, und über das tiefste Studium, die sorgsamste Wahl den Anstand ungezwungener Leichtigkeit zu verbreiten, als hätte er alles nur so eben hingegossen. Zweytens: wie aus dem Wesen jeder Dicht-Art besondre Gesetze des Styls herfließen, so hat auch das Drama die seinigen. Vieles muß darin vermieden werden, was schön und vortrefflich wäre, wenn der Dichter es in seinem eignen Nahmen sagte. Dramatische Schicklichkeit ist hier die erste Rücksicht, der alle andern nachstehen müssen. Aber nicht genug, daß die poetische Behandlung der Wahrheit des Dialogs nicht nothwendig Eintrag thut, ich möchte behaupten, er könne durch sie noch dialogischer gemacht werden. Daß den Redenden das, was sie sagen, in demselben Augenblicke einfällt, erkennen wir an gewissen Merkmahlen, die in der Wirklichkeit nicht immer in gleichem Maaße vorhanden sind; zufällig fehlen oder absichtlich nachgeahmt werden können. Giebt es nicht Menschen, welche das, was sich in der That erst eben in ihnen entwickelt, so feyerlich und abgemessen vorbringen, als hätten sie es zuvor auswendig gelernt, während andre durch Impromtü’s überraschen, worauf sie drey Tage lang gesonnen? Für das Vergnügen der Unterhaltung entscheidet hiebey der Schein mehr als die Wahrheit; im Drama versteht es sich ja so schon, daß das Ansehen des Unvorbereiteten in den Reden bloßer Schein ist. Es beruht aber, außer dem Ton und den Gebähren, die immer sehr viel thun müssen, auf allerley kleinen in der Büchersprache nicht erlaubten Freyheiten und Nachlässigkeiten; auf Verschweigungen und zuweilen sogar einem scheinbaren Mangel an Zusammenhang; auf der Stellung, welche so beschaffen seyn muß, wie die Ideen am natürlichsten nach und durch einander rege werden, nicht wie man sie nachgehends am vortheilhaftesten anordnen könnte; auf einfachen und geraden Wortfügungen. Künstlich verflochtene Perioden (die überhaupt mehr der Beredsamkeit als der Posie angehören) verrathen immer eine Art von Vorbereitung: man kann sie nicht wohl anfangen, ohne zu wissen, wie man sie zum Ende führen will, und dazu muß man schon die ganze Reihe von Sätzen, woraus sie bestehn, im Zusammenhange überschaut haben. Alle jene Merkmahle muß der Schauspieldichter Sorge tragen, auch im prosaischen Dialog anzubringen. Behandelt er ihn aber poetisch, so wird er durch die unumschränktere Gewalt über die Sprache, wodurch die Poesie alles, was im Menschen vorgeht, anschaulicher zu machen geschickt ist, in den Stand gesetzt, die Zeichen der unmittelbaren Entstehung noch entschiedner hervorzuheben. Schon wegen der sonstigen Schönheit und Stärke des Ausdrucks müssen sie die Aufmerksamkeit mehr an sich ziehn, weil man nicht gewohnt ist, sie in solcher Gesellschaft anzutreffen, so wie hinwieder jene Vorzüge dadurch, daß sie freywillige Gaben des Augenblicks scheinen, einen ganz eignen Zauber gewinnen. Das Sylbenmaaß selbst, wenn es nicht an eine steife Regelmäßigkeit gebunden ist, kann durch einen geschickten Gebrauch die Täuschung vermehren helfen: kleine Unebenheiten darin, unerwartete Pausen, dann wieder fortströmende Fülle oder ein sanfter und stetiger Fluß, können den Anstoß, den Stillstand der Gedanken, die rasche Bewegung des Gemüths oder das Gleichgewicht seiner Kräfte einigermaaßen sinnlich bezeichnen.

„Das Sylbenmaaß! Also doch durchaus in Versen?“ Freylich weil Poesie des Styls aus Ursachen, welche zu ergründen hier nicht der Ort ist, ohne geordnete Verhältnisse der Bewegung gar nicht bestehen kann. Der wiederkehrende Rhythmus ist der Pulsschlag ihres Lebens. Nur dadurch, daß die Sprache sich diese sinnlichen Fesseln anlegen läßt und sie gefällig zu tragen weiß, erkauft sie die edelsten Vorrechte, die innre höhere Freyheit von allerley irdischen Obliegenheiten. Soll das Sylbenmaaß im Drama nicht Statt finden, so muß es ja bey der schlichtesten Prosa sein Bewenden haben. Denn sonst wird unvermeidlich eine sogenannte poetische Prosa entstehen, und poetische Prosa ist nicht nur überhaupt sehr unpoetisch, sondern vollends im höchsten Grade undialogisch. Sie hat die natürliche Leichtigkeit der Prosa verloren, ohne die künstliche der Poesie wieder zu gewinnen, und wird durch ihren Schmuck nur belastet, nicht wirklich verschönert. Ohne Flügel, um sich kühn in die Lüfte zu heben, und zu anmaaßend für den gewöhnlichen Gang der Menschenkinder, fährt sie, unbeholfen und schwerfällig wie der Vogel Strauß, zwischen Fliegen und Laufen über dem Erdboden hin.

„Indessen bleibt das Sylbenmaaß im Munde dramatischer Personen immer Erdichtung: und ist es nicht die unwahrscheinlichste, die sich denken läßt? Wie soll man glauben, daß Brutus und Cassius als sie Cäsarn ermordeten, in ihren Reden auf den Wechsel der langen und kurzen Sylben geachtet haben?“ Man muß gestehn, es ist um nichts glaublicher, als daß Cäsar, von dem wir wissen, daß er vor achtzehn Jahrhunderten auf dem Kapitol umgebracht worden, vor unsern Augen zu Paris oder London unter den Dolchen der Verschwornen fällt. Die angeführten Beyspiele sind nicht gleichartig, wird man sagen: hier braucht sich der Zuschauer nur in Gedanken von seinem Ort, seiner Zeit wegzuversetzen; dort wird ihm zugemuthet, etwas für wahr zu halten, das von dem ewigen Lauf der Dinge abweicht, und schlechthin unmöglich ist. Wie die Frage oben gestellt war, würde es sich freylich so verhalten: allein warum sollte man nicht, eben so gut als man jene Römer Englisch oder Deutsch sprechen läßt, ihre Reden in eine Sprache übersetzen dürfen, worin sich alles, was man sagt, nothwendiger Weise und wie von selbst rhythmisch ordnet? Und solche ein allen menschlichen Zungen gemeinschaftliche Mund-Art ist ja doch in gewissem Betracht die Poesie. Bey der theatralischen Täuschung, deren eigentlich Art und Gränzen ich übrigens dahin gestellt seyn lasse, ohne mich auf die Gründe zu berufen, womit Johnson ihr Daseyn scharf bestritten hat: bey der theatralischen Täuschung kömmt es gar nicht auf die Wahrscheinlichkeit an, die man unter mehreren möglichen Erfolgen demjenigen zuschreibt, welcher die meiste Gründe für sich hat, und die sich in vielen Fällen sogar arithmetisch bestimmen läßt, sondern auf den sinnlichen Schein der Wahrheit. Was in jener Bedeutung unwahrscheinlich, völlig falsch, ja unmöglich ist, kann dennoch wahr zu seyn scheinen, wenn nur der Grund der Unmöglichkeit ausser dem Kreise unsrer Erkenntniß liegt, oder uns geschickt verschleyert wird. Mit dem Verstande untersucht, muß das Sylbenmaaß freylich für das, was es ist, nämlich für eine Erdichtung erkannt werden: aber der zergliedernde Verstand und die Täuschung vertragen sich überhaupt nicht zum Besten mit einander; genug, wenn der Eindruck desselben auf das Gehör bey einem lebendigen Vortrage sie nicht zerstört. Der Versbau mag dem Dichter noch so viel Mühe gekostet haben, wofern sie gelungen ist, so wird sie im geringsten nicht mehr hörbar seyn, sondern nur durch Schlüsse vermuthet werden können. Die Verse sind bey ihrer Ausarbeitung nach einer Regel abgemessen worden, aber es wäre höchst fehlerhaft, durch die Art sie herzusagen, die Aufmerksamkeit hauptsächlich auf diese zu lenken. Sie kann fühlbar bleiben, ohne daß man sich ihrer abgesondert bewußt wird. Sie soll dem Wohlklange nur zur Unterlage dienen, und indem sie die endlose Mannichfaltigkeit der Töne bis zum schönen Wechsel begränzt, dem Ohr ihre harmonischen Verhältnisse faßlich machen. Wie sollte nicht der Zuhörer, ist nur der Inhalt so beschaffen, daß er seinen Geist lebhaft beschäftigt, den prosodischen Maaßstab anzulegen vergessen, da ihn der Dichtende selbst im Feuer der Empfindung zugleich beobachten und vergessen kann? Daß dieß möglich sey, wird unwidersprechlich durch das Improvisiren dargethan; ich meyne hier nicht die spätere Kunst der Improvisatoren vom Handwerk, die man eine poetische Seiltänzerey nennen könnte, sondern das natürliche, zum Theil dialogische Dichten aus dem Stegreif, das bey mehreren Völkern eine gewöhnliche gesellschaftliche Ergötzung war oder noch ist. Sehr merkwürdig ist es, und kann gewissermassen für einen historischen Beweis gelten, daß der dramatische Gebrauch des Sylbenmaaßes unsrer Natur nicht sogar fremde sey, daß schon in der frühesten Kindheit der theatralischen Kunst die Reden, welche man noch nicht aufschrieb und auswendig lernte, sondern aus dem Stegreif erfand, doch schon in Versen, so gut oder so schlecht man sie zu machen verstand, hingeschüttet wurden.

Alles obige findet, wie sich versteht, nur bey einer schicklichen Wahl des Sylbenmaaßes Statt: es muß weder die feyerliche Fülle des epischen, noch die melodischen Schwünge der lyrischen haben; es muß den gewöhnlichen Schritt der Rede beflügeln, ohne sich zu auffallend von ihm zu entfernen. Diese Eigenschaften hat der Jambe, der eigentliche dialogische Vers, wofür ihn schon die Alten rühmen. Aristoteles bemerkt, daß man im Gespräch sehr häufig Jamben einmischt, aber selten Hexameter. Der Trimeter der Alten ist zwar noch merklich von dem Englischen blank verse und unsern fünffüßigen Jamben unterschieden; aber für unsre Sprachen leisten diese ungefähr eben das, was jener für die Griechische und Römische. Um über die dramatische Untauglichkeit des Reimes, den das allgemeine Urtheil in England schon vor geraumer Zeit, später bey uns, von der Bühne verbannt hat, gründlich zu entscheiden, müßte man wohl noch tiefer in sein Wesen eindringen, als bisher geschehen. Das ist offenbar, daß er sehr fehlerhaft ist, wenn er der Symmetrie einer eintönigen Versart symmetrisch angehängt wird, wie in der französischen Trauerspielen. Überhaupt geben diese ziemlich vollständige Muster ab, wie man sowohl das Sylbenmaaß als die Poesie des Styls im Drama nicht gebrauchen soll, wenn wir sie anders im Gebiet der Dichtkunst anerkennen und nicht lieber gerades Weges in die Schulen der Rhetoren, als ihre Heimath, verwiesen wollen.

Wie viel anders Shakespeare! Die Darstellung in seinen prosaischen Szenen ist meisterhaft: die kecksten Züge einer komischen Alltagswelt scheint er mit eben so unbekümmertem Muthwillen hinzuzeichnen, als er sie aufgefasst haben mochte. Aber dennoch erreicht er erst vermittelst der dichterischen Behandlung den Gipfel seiner dramatischen Vortrefflichkeit. Hier ist sein Styl einfältig kräftig, groß und edel. Wer wird sich nicht gern zu einigen Härten bequemen, wo ihn so viel einschmeichelnde Zartheit dafür entschädigt? Shakespeare hat alles Hohe und Tiefe in seinem Daseyn verknüpft; seine fremdartigsten Eigenschaften bestehen friedlich neben einander: in seiner kühnsten Erhabenheit ist er noch schlicht und bescheiden, in seiner Seltsamkeit natürlich. So zieht sich selbst die höchste tragische Würde niemahls wie eine Glorie um seine Menschen her; nein, es wird uns immer eine gleich vertraute Nähe gestattet. In den vergleichungsweise wenigen Stellen, wo seine Poesie aus dem wahren Dialog heraustritt, machten ihm eine zu gewaltige Einbildungskraft, ein zu üppiger Witz die völlige dramatische Entäusserung seiner selbst unmöglich. Er giebt alsdann mehr als er sollte, aber oft ist es von der Art, daß man es sich nicht ohne Bedauern würde nehmen lassen.

Die Vorzüge seines Versbaues zu fühlen und zu würdigen, steht fremden Lesern weniger zu, als den Landsleuten des Dichters. Auch haben ihm Englische Beurtheiler in diesem Stück volle Gerechtigkeit widerfahren lassen. Seine reimlosen Jamben sind überaus mannichfaltig, bald mehr bald weniger regelmäßig, hier und da sogar regellos; (wovon doch manches auf die veränderte Aussprache, manches auch darauf zu schieben ist, daß Shakespeare gar nicht für genaue Abschriften seiner Stücke sorgte) immer aber ausdrucksvoll und gedrängt, oft von grosser Schönheit und Lieblichkeit. eR ist darin das älteste, aber in seiner Gattung (denn Miltons Versbau mit seinen athemlosen Perioden würde für das Schauspiel höchst unpassend seyn) immer noch unübertroffene Vorbild der Engländer. Von seinen gereimten Versen läßt sich nicht dasselbe sagen. Sey es nun, daß die Englische Dichtkunst sich von dieser Seite später ausgebildet, oder daß gewisse Reize der Sprache, wie manche Arten der Mahlerey, den Verwüstungen der Zeit mehr ausgesetzt sind als andre: genug, Shakespeare’s Reime sind mehr veraltet, dunkel und fremd geworden, als seine reimlosen Verse. In diesen hat nach ihm nur Milton eigentlich Epoche gemacht; die Kunst harmonisch zu reimen hingegen, worin die Dichter im Zeitalter der Königin Elisabeth nicht ganz unglücklich gewesen waren, ging im nächstfolgenden völlig verloren, wurde dann in der letzten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts wieder erworben, vielfach bearbeitet, von Dryden und endlich von Pope zur höchsten möglichen Vollendung gebracht, aber auch für immer an eine wohlklingende Einförmigkeit gefesselt. Man muß also, um billig zu seyn, in diesem Theil der Verskunst nicht von Shakespeare fodern, was die Englische Sprache erst hundert Jahre nachher liefern konnte, sondern ihn etwa mit seinem Zeitgenossen Spencer vergleichen, was gewiss sehr zu seinem Vortheile ausschlägt. Denn Spencer ist oft gedehnt, Shakespeare, wenn schon gezwungen, doch immer kurz und bündig. Der Reim hat ihn weit häufiger dazu gebracht, etwas nöthiges auszulassen, als etwas unbedeutendes einzuschalten. Doch sind viele seiner gereimten Zeilen noch jetzt untadelich; sinnreich mit anmuthiger Leichtigkeit und blühend ohne falschen Schimmer. Die eingestreuten Lieder (des Dichters eigne nämlich) sind meistens süsse kleine Spiele und ganz Gesang; man hört in Gedanken eine Melodie dazu, während man sie blos lieset.

Eine poetische Übersetzung, welche keinen von den charakteristischen Unterschieden der Form auslöschte, und seine Schönheiten, so viel möglich, bewahrte, ohne die Anmaßung ihm jemahls andre zu leihen; welche auch die misfallenden Eigenheiten seines Styls, was oft nicht weniger Mühe machen dürfte, mit übertrüge, würde zwar gewiss ein Unternehmen von großen, aber in unsrer Sprache nicht unübersteiglichen Schwierigkeiten seyn. Haben doch die Engländer schon eine gelungne poetische Nachbildung von einem dramatischen Meisterwerke: sollte dieß um die Verdienste der Ausländer sonst so unbekümmerte Volk wärmere Freunde unsrer großen Dichter aufzuweisen haben, als wir der seinigen? Denn herzliche Liebe zur Sache ist freylich ein so wesentliches Erfoderniß bey einer solchen Arbeit, daß ohne sie alle übrigen Geschicklichkeiten nichts helfen können. Auch möchten die sechs und dreyßig Stücke Shakespeare’s eine zu lange Bahn für einen Einzigen seyn, um sie auf diese Art zu durchlaufen: vor der Hand wäre es genug, wenn mit einzelnen Stücken der Versuch gemacht würde.

Ich wage zu behaupten, daß eine solche Übersetzung in gewissem Sinne noch treuer als die treueste prosaische seyn könnte. Denn nicht gerechnet, daß diese eine entschiedne Unähnlichkeit mit dem Original hat, welche sich über das Ganze verbreitet, so stellt sich dabey sehr oft die Verlegenheit ein, entweder den Ausdruck schwächen, oder sich in Prosa erlauben zu müssen, was nur der Poesie, und auch ihr kaum ansteht. Ferner würde es erlaubt seyn, sich dem Dichter in seiner Gedrungenheit, seinem Auslassungen, seinen kühnen und nachdrücklichen Wendungen und Stellungen weit näher anzuschmiegen. Hart möchte die Treue des Übersetzers zuweilen seyn, und er müßte sich den freyesten Gebrauch unsrer Sprache in ihrem ganzen Umfange (eine alte Gerechtsame der Dichter, was auch Grammatiker einwenden mögen) nicht vorwerfen lassen; aber nie dürfte sie schwerfällig werden. Er überhüpfte lieber eine widerspenstige Kleinigkeit, als daß er in Umschreibungen verfallen sollte. In der Kürze wetteifre er mit seinem Meister, obgleich die Englische Sprache wegen ihrer Einsylbigkeit, welche sonst der Schönheit des Versbaues nicht sehr günstig ist, hierin vieles voraus hat, und ruhe nicht eher, als bis er sich überzeugt, er habe darin alles im deutschen Thunliche geleistet. Nicht immer wird er Vers um Vers geben können, aber doch meistentheils, und den Raum, den er an Einer Stelle einbüßt, muß er an einer andern wieder zu gewinnen suchen. Dieß ist sehr wichtig, denn geht er in Einem Verse über das Maaß hinaus, so muß er es auch in den folgenden, bis er sich wieder in gleichen Schritt gesetzt hat. Dadurch werden dann Sätze, welche im Englischen Eine Zeile mit schöner Rundung umschließt, in zwey aus einander gerissen, und die bedeutenden Schlüsse der Verse, worauf bey ihrem harmonischen Falle so viel beruht, verändert. Es beweißt die große Übereinstimmung der beyden Sprachen, daß manche Zeilen Shakespeare’s, wenn man sie wörtlich und mit beybehaltner Ordnung überträgt, sich wie von selbst in dasselbe Maaß fügen; hingegen stehe ich dem Übersetzer nicht dafür, daß bey manchen andern auch die vielfältigste Versuche nur ein halbes Gelingen zu Wege bringen möchten. Er hüte sich vor einer zu steifen Regelmäßigkeit in seinen reimlosen Jamben: aber zu schön können sie schwerlich seyn. Es ist in unsrer Sprache nicht so leicht, als man sich gewöhnlich einbildet, diesem Sylbenmaße alle Vollkommenheit, deren es empfänglich ist, zu geben, wie schon daraus erhellet, daß wir so wenig Vortreffliches darin besitzen. In den gereimten Versen wird man sich mit einer weniger wörtlichen Treue begnügen müssen: ihr eigenthümliches Kolorit ist die Hauptsache, und dieses kann nur durch Beybehaltung des Reimes übertragen erden. Vielleicht wird es hier oft unvermeidlich seyn, wenn man nicht zu viel weglassen oder gar Ein Paar Verse in zwey ausdehnen will, statt des fünffüßigen den sechsfüßigen Jamben zu gebrauchen, wodurch Sentenzen und Schilderungen weniger verlieren, als die eigentlich dialogischen Stellen.

Übrigens wäre alles sorgfältig zu entfernen, was daran erinnern könnte, daß man eine Kopie vor sich hat. Die Wortspiele, welche sich nicht übertragen, oder durch ähnliche ersetzen lassen, müßten zwar wegbleiben, aber so, daß keine Lücke sichtbar würde. Eben so hätte es der Übersetzer mit durchaus fremden und ohne Kommentar unverständlichen Anspielungen zu halten. Von bloß zufälligen Dunkelheiten dürfte er den Text befreyen; aber wo der Ausdruck seinem Wesen nach verworren ist, da könnte auch dem Deutschen Leser die Mühe des Nachsinnens nicht erspart werden. Schon Wieland hat treffend dargethan, warum man Shakespeare nirgends und in keinem Stücke muß verschönern wollen. Ein ganz leichter Anstrich des Alten in Wörtern und Redensarten würde keinen Schaden thun. Nicht alles Alte ist veraltet, und Luthers Kernsprache ist noch jetzt deutscher als mache neumodige Zierlichkeit. Obgleich Shakespeare’s Sprache in dem Zeitalter, worin er schrieb, neu und gebrauchlich war, so trägt sie doch das Gepräge der damahligen noch einfältigeren Sitten, und in der Sprache unsrer biedern Vorältern, drücken sich dergleichen ebenfalls aus. Solche Wörter und Redensarten, welche unsre heutige Verfeinerung bloß zu ihrem Behufe ersonnen, wären wenigstens sorgfältig zu vermeiden. Die dramatische Wahrheit müßte überall das erste Augenmerk seyn: im Nothfall wäre es besser, ihr etwas von dem poetischen Werth aufzuopfern als umgekehrt.

Diese Foderungen ließen sich leicht noch mit vielen andern vermehren; allein ich möchte einem Verehrer Shakespeare’s, der, wie ich weiß, es mit einigen Stücken versucht hat, keinen sehr willkommenen Dienst thun, indem ich durch den aufgestellten Begriff einer Vollendung, die vielleicht gar nicht erreicht werden kann, seine Arbeit schon im Voraus unter ihren wahren Werth herabsetze. Er liebt indessen den göttlichen Dichter so sehr, daß er sich freuen wird, wenn mein Eifer ihm Nebenbuhler bey dieser Unternehmung erweckt, die durch ein glücklicheres Gelingen seine Bemühungen verdunkeln.

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