HomeText: Die Jungfrau von Orleans5. AktDie Jungfrau von Orleans – 5. Aufzug, 14. Auftritt

Die Jungfrau von Orleans – 5. Aufzug, 14. Auftritt

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Soldaten mit fliegenden Fahnen erfüllen den Hintergrund. Vor ihnen der König und der Herzog von Burgund, in den Armen beider Fürsten liegt Johanna tödlich verwundet, ohne Zeichen des Lebens. Sie treten langsam vorwärts. Agnes Sorel stürzt herein.

Sorel (wirft sich an des Königs Brust).
Ihr seid befreit – Ihr lebt – Ich hab Euch wieder!

König.
Ich bin befreit – Ich bins um diesen Preis!
(Zeigt auf Johanna)

Sorel.
Johanna! Gott! Sie stirbt!

Burgund.
Sie hat geendet!
Seht einen Engel scheiden! Seht, wie sie daliegt,
Schmerzlos und ruhig wie ein schlafend Kind!
Des Himmels Friede spielt um ihre Züge,
Kein Atem hebt den Busen mehr, doch Leben
Ist noch zu spüren in der warmen Hand.

König.
Sie ist dahin – Sie wird nicht mehr erwachen,
Ihr Auge wird das Irdsche nicht mehr schauen.
Schon schwebt sie droben ein verklärter Geist,
Sieht unsern Schmerz nicht mehr und unsre Reue.

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Sorel.
Sie schlägt die Augen auf, sie lebt!

Burgund (erstaunt).
Kehrt sie
Uns aus dem Grab zurück? Zwingt sie den Tod,
Sie richtet sich empor! Sie steht!

Johanna (steht ganz aufgerichtet und schaut umher).
Wo bin ich?

Burgund.
Bei deinem Volk, Johanna! Bei den Deinen!

König.
In deiner Freunde, deines Königs Armen!

Johanna (nachdem sie ihn lange starr angesehen).
Nein, ich bin keine Zauberin! Gewiß ich bins nicht.

König.
Du bist heilig wie die Engel,
Doch unser Auge war mit Nacht bedeckt.

Johanna (sieht heiter lächelnd umher).
Und ich bin wirklich unter meinem Volk.
Und bin nicht mehr verachtet und verstoßen?
Man flucht mir nicht, man sieht mich gütig an?
– Ja, jetzt erkenn ich deutlich alles wieder!
Das ist mein König! Das sind Frankreichs Fahnen!
Doch meine Fahne seh ich nicht – Wo ist sie?
Nicht ohne meine Fahne darf ich kommen,
Von meinem Meister ward sie mir vertraut,
Vor seinem Thron muß ich sie niederlegen,
Ich darf sie zeigen, denn ich trug sie treu.

König (mit abgewandtem Gesicht).
Gebt ihr die Fahne!

(Man reicht sie ihr. Sie steht ganz frei aufgerichtet, die Fahne in der Hand – Der Himmel ist von einem rosigten Schein beleuchtet)

Johanna.
Seht ihr den Regenbogen in der Luft,
Der Himmel öffnet seine goldnen Tore,
Im Chor der Engel steht sie glänzend da,
Sie hält den ewgen Sohn an ihrer Brust,
Die Arme streckt sie lächelnd mir entgegen.
Wie wird mir – Leichte Wolken heben mich –
der schwere Panzer wird zum Flügelkleide.
Hinauf – hinauf – Die Erde flieht zurück –
Kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude!

(Die Fahne entfällt ihr, sie sinkt tot darauf nieder – Alle stehen lange in loser Rührung. Auf einen leisen Wink des Königs werden alle Fahnen sanft auf sie niedergelassen, daß sie ganz davon bedeckt wird)