Charakterisierung des Arnold vom Melchthal, Zeichnung von Friedrich Pecht

Arnold vom Melchthal, Charakter aus dem Schiller-Drama Wilhelm Tell, Zeichnung von Friedrich Pecht

Arnold vom Melchthal, Charakter aus dem Schiller-Drama Wilhelm Tell, Zeichnung von Friedrich Pecht, 1859

aus der „Schiller-Galerie“, 1859



Hat im Tell das ganze damalige schweizerische Volkstum seinen Vertreter, wie es schlicht und mannhaft, mehr durch die Not des Augenblicks zu seinen letzten Zielen hingedrängt wird, als ihnen mit voller Erkenntnis nachstrebt, so ist dagegen Arnold der Vertreter der neuanbrechenden Zeit und ihrer Anschauungen; was sich in den andern allen von republikanischer Gesinnung, von freiem Bürgerstolz nur im Keime unbewusst vorfindet, tritt bei ihm bereits als fertiger Anspruch mit vollem Bewusstsein auf. Er ist der entschiedenste Repräsentant der Zukunft, jener großen demokratischen Bewegung, die, ziemlich gleichzeitig auch durch alle deutschen Gemeinwesen ging und in den meisten Reichsstädten mit dem Sturz des patrizischen Regiments endigte.

Der heißblütige Jüngling ist am schnellsten von allen fertig mit Entschluss und Tat, er, ist recht eigentlich die Seele des Angriffs, ein Achilles im Bauerkittel; das Schlagfertige in der Natur bricht überall hervor, ob er nun zeige, wie er gereizt worden, und uns dabei den trostlosen Zustand des ganzen Volks unter dem Druck der Willkürherrschaft wie seine eigene kochende Erbitterung plastisch male, wenn er die Veranlassung seiner Flucht erzählt:

Ertragen sollt‘ ich die leichtfert‘ge Rede
Des Unverschämten: «Wenn der Bauer Brot
Wollt’ essen, mög’ er selbst am Pfluge ziehn!
Da übernahm mich der gerechte Zorn
Und, meiner selbst nicht Herr, schlug ich den Boten —

und dann weiter des Vaters erwähnt:

Mich jammert nur der Vater. — Er bedarf
So sehr der Pflege, und ein Sohn ist fern.
Der Vogt ist ihm gehässig, weil er stets
Für Recht und Freiheit redlich hat gestritten,
Drum ‚werden sie den alten Mann bedrängen —

oder ob er auf des altern Freundes Warnung, der ihm sagt, dass die Tyrannen sich die Hände reichen, gleich erwidert:

Sie lehren uns, was wir thun sollten.

Sofort, nachdem er des Vaters Unglück erfahren, bricht er aus:

— Sind wir denn wehrlos? Wozu lernten wir
Die Armbrust spannen und die schwere Wucht
Der Streitaxt schwingen? Jedem Wesen ward
Ein Nothgewehr in der Verzweiflung Angst.

Ebenso fährt er zuerst auf, als Tell gefangen wird:

Nein, das ist schreiende Gewalt! Ertragen wir’s?

Kurz, überall ist er mit der raschen Tat bei der Hand.

Dass er aber eine edle und bedeutende Natur nicht nur, sondern auch ein geborener Parteiführer ist, zeigt sich schon dadurch, dass ihn sein besonderes Unglück gleich zum allgemeinen hinüberleitet, dass er die Befriedigung nicht in einer persönlichen Genugtuung, wie sie durch den Mord des Gegners zu erlangen wäre, dem Mittel, welches Tell ergreift, sondern nur im Sturz des ganzen Systems sucht, — wenn er die Hand zum Himmel hebt und schwört:

Blinder, alter Vater,
Du kannst den Tag der Freiheit nicht mehr schauen;
Du sollst ihn hören!

In diesem Augenblick hat ihn der Künstler aufgefasst, und glaubte in ihm nicht nur den jungen Helden, sondern auch den Bauern charakterisieren zu müssen, da der eine wie der andere hier im Melchthal gleich wichtig sind, der eben der Vertreter des plebejischen Elements im Gegensatz zu Rudenz ist, den Bruch mit der alten Zeit zuerst anfängt. Dies erweist er am deutlichsten, da Walther Fürst die, welche bis jetzt immer vorangeschritten, die adeligen Geschlechter des Landes, beraten will, vor dem zu schließenden Bunde, der ihnen die Freiheit wiedergewinnen soll:

Wir wollen hören, was die edeln Herrn
Von Sillinen‚ von Attinghausen rathen.

Er entgegnet sofort und setzt es durch:

— Was braucht’s
Des Edelmanns? Lasst’s uns allein vollenden!
Wären wir doch allein im Land! Ich meine,
Wir wollten uns schon selbst zu schirmen wissen.

Rudenz, der, ebenfalls jung, die Jugend am besten versteht, sagt, die demokratische Tendenz herausfühlend, ganz richtig von ihr:

Wohl thut es ihnen, auf der Herrenbank
Zu sitzen mit dem Edelmann — den Kaiser
Will man zum Herrn, um keinen Herrn zu haben.

Das Ziel wenigstens, zu dem ihre Anschauungen mit Sicherheit hinfahren müssen, ist kein anderes als das der vollständigen Unabhängigkeit, während die ältere Partei höchstens so weit in ihrem Räsonnement geht als Attinghausen‚ der die reichsunmittelbare Stellung der Lande verteidigt und nichts weiter als das Ideal einer Kommunal- oder Provinzialfreiheit im Auge hat.
Melchthal befindet sich diesen Konservativen gegenüber in vollständigstem Gegensatz der Ansichten über die Zukunft, wenn sie auch für das Nächste Eines Sinnes sind. Wenn daher Stauffacher lehrt:

Denn dieses ist der Freien einige Pflicht,
Das Reich zu Schirmen, das sie selbst beschirmt —

so erwidert Melchthal:

Was drüber ist, ist Merkmal eines Knechts.

Der politisch gebildete Attinghausen begreift die Richtung am ersten, deren jugendlichen Vertreter wir im Melchthal sehen, wenn er ahnend prophezeit:

Hat sich der Landmann solcher That verwogen,
Aus eignem Mittel ohne Hülf’ der Edeln,
Hat er der eignen Kraft so viel vertraut —
Ja, dann bedarf es unserer nicht mehr:
Getröstet können wir zu Grabe steigen,
Es lebt nach uns — durch andre Kräfte will
Das Herrliche der Menschheit sich erhalten. …
Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit,
Und neues Leben blüht aus den Ruinen.

Am deutlichsten spricht Arnold die Eifersucht, mit welcher er allein von den Häuptern des Bundes auf den Adel blickt, aus, da er zum Rudenz spricht:

Des Bauern Handschlag, edler Herr, ist auch
Ein Manneswort! Was ist der Ritter ohne uns?
Und unser Stand ist alter, als der eure —

und wenn er den Hergang bei Einnahme des Schlosses Samen erzählt:

— War’ er nur unser Edelmann gewesen,
Wir hatten unser Leben wohl geliebt;
Doch er war unser Eidgenoss‚ und Bertha
Ehrte das Volk.

So ist es auch echt republikanisch, wenn er am Ende triumphierend ausruft:

So stehen wir nun fröhlich auf den Trümmern
Der Tyrannei, und herrlich ist’s erfüllt,
Was wir im Rütli schworen, Eidgenossen!

Walther Fürst.
Das Werk ist angefangen, nicht vollendet. ,
Jetzt ist uns Muth und feste Eintracht noth:
Denn, seid gewiss, nicht säumen wird der König,
Den Tod zu rächen seines Vogts und den
Vertriebnen mit Gewalt zurückzuführen!

Melchthal.
Er zieh’ heran, mit seiner Heeresmacht!
Ist aus dem Innern doch der Feind verjagt;
Dem Feind von aussen wollen wir begegnen —

und damit den Gedanken der unbedingten Freiheit schon fertig ausspricht.