Charakterisierung des Wilhelm Tell, Zeichnung von Friedrich Pecht

Wilhelm Tell, Charakter aus dem Schiller-Drama Wilhelm Tell, Zeichnung von Friedrich Pecht, 1859

Wilhelm Tell, Charakter aus dem Schiller-Drama Wilhelm Tell, Zeichnung von Friedrich Pecht, 1859

Charakterisierung des Wilhelm Tell

aus der „Schiller-Galerie“, 1859



Wohl nie hat das Recht des einzelnen freien Mannes wie eines ganzen Volkes sich gegen tyrannische Unterdrückung nicht nur in jedem Falle zu wehren, sondern sie auch bis zur Vernichtung zu bekämpfen, eine so glänzende Verteidigung gefunden, als im „Tell“. So wenig Spuren der Einwirkung der Zeitverhältnisse in den übrigen spätern Stücken Schillers zu finden sind, hier ist sie wohl unverkennbar; oder sollte der damals schwer auf Deutschland lastende Druck der Fremdherrschaft, mit ihrem Übermut und ihrer Willkür, wirklich ohne Einfluss auf den Gedanken wie die Ausführung des „Tell“ geblieben sein? Ist im „Wallenstein“ schon die Verwandtschaft in der Erscheinung des Helden und seiner Soldatenherrschaft mit dem aufgehenden Gestirn Napoleons unverkennbar, so hat diese Beziehung zu den Verhältnissen der Gegenwart beim „Tell“ doch wohl in noch viel stärkeren Masse stattgefunden. Jene herrlichen Worte:

Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht.
Wenn der Gedruckte nirgends Recht kann finden,
Wenn unerträglich wird die Last — greift er
Hinauf getrosten Muthes in den Himmel
Und holt herunter seine ew’gen Rechte. …
Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr
Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben —

sind seitdem die Losung aller derer geblieben, die noch Mannessinn genug haben, um sich und ihr Recht nicht mutlos unter die Füße treten zu lassen, sie enthalten die vollständige Apologie der Anschauung, nach der die rohe Gewalt zuletzt, wenn alle friedlichen Mittel erschöpft sind, wieder mit Gewalt zu vertreiben nicht nur erlaubt, sondern auch von der eigenen Menschenwürde entschieden geboten ist.

Tell, in dem der unsterbliche Freiheitskampf jener Landschaften eine hochberühmte Personifikation durch die Mvthe gefunden hatte, wird vom Dichter zum Mittelpunkt seines Dramas gemacht, um uns den ganzen Weg, auf dem ein braves und frommes Volk Schritt für Schritt im Widerstand gegen wahnsinnige Willkür weiter getrieben wird bis zum Äußersten, psychologisch am einzelnen nachzuweisen.

Tell ist ein Held, aber ein bäuerischer, er ist durchaus ein Mann der Tat, nicht des Nachdenkens, er handelt wie alle Helden nicht aus Reflexion, sondern aus seinem Naturell heraus: er ist. aus Einem Stück. Es ist der physische Muth, die Herkulesnatur, die stählernen Nerven, verbunden mit der männlichen Freude an der Aufopferung und dem Wagnis, die ihn zum Heroen in seinem Kreise Stempeln. So wird er uns gleich vorgeführt, jeder kennt ihn als solchen und vertraut seiner Tatkraft unbedingt.

Wohl bessre Männer thun’s dem Tell nicht nach:
Es gibt nicht zwei, wie der ist, im Gebirge —

sagt Ruodi von ihm, als er Baumgarten rettet. Dieses Gefühl der Kraft, das ihn überall trägt, macht ihn auch aller Beratung und Verbindung abgeneigt; „der Starke ist am mächtigsten allein“, sagt er ganz richtig, „ein rechter Schütze hilft sich selbst“, und weiter, seinem Instinkte vertrauend:

Ich kann nicht lange prüfen oder wählen;
Bedürft ihr meiner zur bestimmten That,
Dann ruft den Tell! Es soll an ihm nicht. fehlen! —

denn wer gar zu viel bedenkt, wird wenig leisten.

Solch Kraftbewusstsein, verbunden mit wenig Neigung zu prüfender Überlegung, ist aber nicht wohl denkbar, ohne Lust und Freude an dem Kampfe, wie sie Tell ebenfalls ausspricht:

Dann erst geniess’ ich meines Lebens recht,
Wenn ich mir’s jeden Tag aufs neu’ erbeute.

Und so sagt er denn dem Landvogt mit Recht: „Wär’ ich besonnen, hieß ich nicht der Tell.“ Nicht minder sicher ist auch in solcher Natur der Trieb vorhanden, jede Herausforderung anzunehmen. Gessler beurteilt ihn daher ganz richtig, wenn er, um ihn zu dem Ungeheuersten zu treiben, ihn erst höhnt und ihm sagt:

Das Schwarze treffen in der Scheibe, das
Kann auch ein andrer; der ist mir der Meister,
Der seiner Kunst gewiss ist überall,
Dein‘s Herz nicht in die Hand tritt, noch ins Auge.
Du kannst ja alles, Tell! An nichts verzagst du;
Das Steuerruder führst du wie den Bogen:
Dich schreckt kein Sturm, wenn es zu retten gilt:
Jetzt, Retter, hilf dir selbst —

gerade so, wie ihn sein eigener Knabe richtig errät:

Frisch, Vater, zeig’s, dass du ein Schütze bist!
Er glaubt dir‘s nicht, er denkt uns zu verderben —
Dem Wüthrich zum Verdrusse schiess und triff!

Ebenso beurteilt ihn seine Frau, wenn sie von der Tat äußert:

O rohes Herz der Männer! Wenn ihr Stolz
Beleidigt wird, dann achten sie nichts mehr;
Sie setzen in der blinden Wuth des Spiels
Das Haupt des Kindes und das Herz der Mutter!

Sie fühlt dies scharf heraus, so sehr sie ihn auch liebt. Feigen kommt der Schreck vor dem Wagen, den Beherzten nachher; Tell sinkt daher erst zusammen, als er den Schuss getan. Diese, langen Vorsätzen und weitaussehenden Projekten so abholde Natur hält aber einen Gedanken, zu dem man sie einmal genötigt hat, um so zäher fest, wie es Tell tut, da er den Vorsatz zu Gesslers Mord hier sofort unwiderruflich fasst, von dem ihn selbst die Schiffsszene, wo ein zahmerer Charakter wahrscheinlich auf die Gnade des Gegners gerechnet hätte, nicht abbringt. Die Argumentation, mit der er sich sein Vorhaben während des langen Lauerns in der hohlen Gasse zu rechtfertigen sucht, ist oft angegriffen worden, und doch enthält sie, wenn man sie des rhetorischen Prunks entkleidet, nur Motive, die in der Seele eines kühnen, verwegenen, aufs schwerste gereizten, neues Unheil fürchtenden Mannes, dessen Streit ein ganz persönlicher ist, vollkommen Platz haben. Er fühlt, dass sein Gegner dadurch, dass er ihn das erste Mal in die Möglichkeit eines Mordes durch physischen und moralischen Zwang brachte, ihn mit Gewalt zum zweiten nötigt, denn:

Die armen Kindlein, die unschuldigen,
Das treue Weib muss ich vor deiner Wuth
Beschützen, Landvogt! — Da, als ich den Bogenstrang‘
Anzog — als mir die Hand erzitterte —
Als du mit grausam teufelischer Lust
Mich zwangst, aufs Haupt des Kindes anzulegen ——
Als ich unmächtig flehend rang vor dir:
Damals gelobt’ ich mir in meinem Innern
Mit furchtbarem Eidschwur, den nur Gott gehört,
Dass meines nächsten Schusses erstes Ziel
Dein Herz sein sollte!

Tell ist zu sehr Heldennatur, als dass ihm seine Phantasie den Gedanken an Flucht, an Versteck, an andere Mittel als den Kampf, um sich der Rache zu entziehen, auch nur in den Sinn kommen ließe. Dieser Auffassung als einer Notwehr bleibt er daher ganz konsequent, wenn er dem Parricida entgegenhält:

Darfst du der Ehrsucht blut’ge Schuld vermengen
Mit der gerechten Nothwehr eines Vaters?
Hast du der Kinder liebes Haupt vertheidigt?
Des Herdes Heiligthum beschützt? …
Nichts theil’ ich mit dir. — Gemordet
Hast du, ich hab’ mein Theuerstes vertheidigt.

Wenn man die Tat Tells richtig beurteilen will, so hat man immer die Zeit zu betrachten, in der sie geschah, die des rohen Faustrechts‚ wo jedermann mit dem Gedanken vertraut war, Gewalt mit Gewalt abzutreiben; die persönlichen Motive, so durchaus vorherrschend in seinem Mord, sind doch unter diesen Umständen ausreichend, und er sagt mit gerechtem Stolz:

Diese Hand —
Hat euch vertheidigt und das Land gerettet:
Ich darf’ sie frei hinauf zum Himmel heben.