HomeDie Horen1795 - Stück 9V. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. [Johann Wolfgang von Goethe]

V. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. [Johann Wolfgang von Goethe]

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Fortsetzung.

Diese Geschichte gefällt mir, sagte Luise, als der Alte geendigt hatte, und ob sie gleich aus dem gemeinen Leben genommen ist; so kommt sie mir doch nicht alltäglich vor. Denn wenn wir uns selbst fragen und andere beobachten; so finden wir, daß wir selten durch uns selbst bewogen werden, diesem oder jenem Wunsche zu entsagen; meist sind es die äußern Umstände, die uns dazu nöthigen.

Ich wünschte, sagte Karl, daß wir gar nicht nöthig hätten uns etwas zu versagen, sondern daß wir dasjenige gar nicht kennten was wir nicht besitzen sollen. Leider ist in unsern Zuständen alles zusammen gedrängt, alles ist bepflanzt, alle Bäume hängen voller Früchte und wir sollen nur immer drunter weggehen, uns an dem Schatten begnügen und auf die schönsten Genüsse Verzicht thun.

Lassen Sie uns, sagte Luise zum Alten, nun Ihre Geschichte weiter hören.

Der Alte. Sie ist wirklich schon aus.

Luise. Die Entwicklung haben wir freylich gehört; nun möchten wir aber auch gerne das Ende vernehmen.

Der Alte. Sie unterscheiden richtig, und da Sie sich für das Schicksal meines Freundes interessiren, so will ich Ihnen wie es ihm ergangen noch kürzlich erzählen.

Befreyt von der drückenden Last eines so häßlichen Vergehens, nicht ohne bescheidne Zufriedenheit mit sich selbst, dachte er nun an sein künftiges Glück und erwartete sehnsuchtsvoll die Rückkunft Ottiliens, um sich gegen sie zu erklären und sein gegebenes Wort im ganzen Umfange zu erfüllen. Sie kam in Gesellschaft ihrer Eltern; er eilte zu ihr, er fand sie schöner und heiterer als jemals. Mit Ungedult erwartete er den Augenblick in welchem er sie allein sprechen und ihr seine Aussichten vorlegen konnte. Die Stunde kam und mit aller Freude und Zärtlichkeit der Liebe erzählte er ihr seine Hofnungen, die Nähe seines Glücks und den Wunsch, es mit ihr zu theilen. Allein wie verwundert war er, ja wie bestürzt, als sie die ganze Sache, sehr leichtsinnig, ja man dürfte beinahe sagen, höhnisch aufnahm. Sie scherzte nicht ganz fein über die Einsiedeley, die er sich ausgesucht habe, über die Figur, die sie beyde spielen würden, wenn sie sich als Schäfer und Schäferin unter ein Strohdach flüchteten und was dergleichen mehr war.

Betroffen und erbittert kehrte er in sich zurück; ihr Betragen hatte ihn verdrossen und er ward einen Augenblick kalt. Sie war ungerecht gegen ihn gewesen, und nun bemerkte er Fehler an ihr, die ihm sonst verborgen geblieben waren. Auch brauchte es kein sehr helles Auge, um zu sehen, daß ein so genannter Vetter, der mit angekommen war, ihre Aufmerksamkeit auf sich zog und einen großen Theil ihrer Neigung gewonnen hatte.

Bey dem unleidlichen Schmerz, den Ferdinand empfand, nahm er sich doch bald zusammen, und die Überwindung, die ihm schon einmal gelungen war, schien ihm zum zweytenmale möglich. Er sah Ottilien oft und gewann über sich, sie zu beobachten; er that freundlich ja zärtlich gegen sie, und sie nicht weniger gegen ihn; allein ihre Reize hatten ihre größte Macht verlohren und er fühlte bald, daß selten bei ihr etwas aus dem Herzen kam, daß sie vielmehr nach Belieben zärtlich und kalt, reizend und abstoßend, angenehm und launisch seyn konnte. Sein Gemüth machte sich nach und nach von ihr los, und er entschloß sich auch noch die letzten Fäden entzwey zu reissen.

Diese Operation war schmerzhafter als er sich vorgestellt hatte. Er fand sie eines Tages allein und nahm sich ein Herz, sie an ihr gegebenes Wort zu erinnern und jene Augenblicke ihr ins Gedächtniß zurück zu rufen, in denen sie beyde durch das zarteste Gefühl gedrungen, eine Abrede auf ihr künftiges Leben genommen hatten. Sie war freundlich, ja man kann fast sagen zärtlich; er ward weicher und wünschte in diesem Augenblick, daß alles anders seyn möchte als er es sichs vorgestellt hatte. Doch nahm er sich zusammen und trug ihr die Geschichte seines bevorstehenden Etablissements mit Ruhe und Liebe vor. Sie schien sich darüber zu freuen und gewissermaßen nur zu bedauern, daß dadurch ihre Verbindung weiter hinausgeschoben werde. Sie gab zu erkennen, daß sie nicht die mindeste Lust habe die Stadt zu verlassen, sie lies ihre Hoffnung sehen, daß er sich durch einige Jahre Arbeit in jenen Gegenden, in den Stand setzen könnte, auch unter seinen jetzigen Mitbürgern eine große Figur zu spielen. Sie ließ ihn nicht undeutlich merken, daß sie von ihm erwarte, daß er künftig noch weiter als sein Vater gehen und sich in allem noch ansehnlicher und rechtlicher zeigen werde.

Nur zu sehr fühlte Ferdinand, daß er von einer solchen Verbindung kein Glück zu erwarten habe, und doch war es schwer so vielen Reizen zu entsagen. Ja vielleicht wäre er ganz unschlüssig von ihr weggegangen, hätte ihn nicht der Vetter abgelöst, und in seinem Betragen allzuviel Vertraulichkeit gegen Ottilien gezeigt. Ferdinand schrieb ihr darauf einen Brief, worin er ihr nochmals versicherte, daß sie ihn glücklich machen würde, wenn sie ihm zu seiner neuen Bestimmung folgen wollte; daß er aber für beyde nicht räthlich hielt, eine entfernte Hoffnung auf künftige Zeiten zu nähren, und sich auf eine ungewisse Zukunft durch ein Versprechen zu binden.

Noch auf diesen Brief wünschte er eine günstige Antwort; allein sie kam nicht wie sein Herz, sondern wie sie seine Vernunft billigen mußte. Ottilie gab ihm auf eine sehr zierliche Art sein Wort zurück, ohne sein Herz ganz los zu lassen, und so sprach das Billet auch von ihren Empfindungen; dem Sinne nach war sie gebunden und ihren Worten nach frey.

Was soll ich nun weiter umständlich seyn? Ferdinand eilte in jene friedlichen Gegenden zurück, seine Einrichtung war bald gemacht; er war ordentlich und fleißig und ward es nur umso mehr als das gute natürliche Mädchen, die wir schon kennen, ihn als Gattin beglückte, und der alte Oheim alles that seine häusliche Lage zu sichern und bequem zu machen.

Ich habe ihn in spätern Jahren kennen lernen, umgeben von einer zahlreichen wohlgebildeten Familie. Er hat mir seine Geschichte selbst erzählt und wie es Menschen zu gehen pflegt, denen irgend etwas bedeutendes in früherer Zeit begegnet, so hatte sich auch jene Geschichte so tief bei ihm eingedruckt, daß sie einen großen Einfluß auf sein Leben hatte. Selbst als Mann und Hausvater pflegte er sich manchmal etwas das ihm Freude würde gemacht haben, zu versagen, um nur nicht aus der Übung einer so schönen Tugend zu kommen, und seine ganze Erziehung bestand gewissermaßen darin, daß seine Kinder sich gleichsam aus dem Stegreife etwas mußten versagen können.

Auf eine Weise, die ich im Anfang nicht billigen konnte untersagte er, zum Beyspiel, einem Knaben bey Tische von einer beliebten Speise zu essen. Zu meiner Verwunderung blieb der Knabe heiter, und es war als wenn weiter nichts geschehen wäre.

Und so liessen die ältesten aus eigener Bewegung manchmal ein edles Obst oder sonst einen Leckerbissen vor sich vorbeygehen; dagegen erlaubte er ihnen ich möchte wohl sagen alles, und es fehlte nicht an Arten und Unarten in seinem Hause. Er schien über alles gleichgültig zu seyn und ließ ihnen eine fast unbändige Freyheit; nur fiel es ihm die Woche einmal ein, daß alles auf die Minute geschehen mußte, alsdann wurden des Morgens gleich die Uhren regulirt, ein jeder erhielt seine Ordre für den Tag, Geschäfte und Vergnügungen wurden gehäuft und niemand durfte eine Sekunde fehlen. Ich könnte Ihnen stundenlang von seinen Gesprächen und Anmerkungen über diese sonderbare Art der Erziehung unterhalten. Er scherzte mit mir als einem catholischen Geistlichen über meine Gelübde und behauptete, daß eigentlich jeder Mensch sowohl sich selbst Enthaltsamkeit als andern Gehorsam geloben sollte; nicht um sie immer, sondern um sie zur rechten Zeit auszuüben.

Die Baroneß machte eben einige Anmerkungen und gestand, daß dieser Freund im Ganzen wohl recht gehabt habe; denn so komme auch in einem Reiche alles auf die executive Gewalt an; die Gesetzgebende möge so vernünftig seyn als sie wolle, es helfe dem Staate nichts, wenn die ausführende nicht mächtig sey.

Luise sprang ans Fenster, denn sie hörte Friedrichen zum Hofe hereinreiten. Sie gieng ihm entgegen und führte ihn ins Zimmer. Er schien heiter, ob er gleich von Scenen des Jammers und der Verwüstung kam, und anstatt sich in eine genaue Erzählung des Brandes einzulassen, der das Haus ihrer Tante betroffen, versicherte er, daß es ausgemacht sey, daß der Schreibtisch zu eben der Stunde dort verbrannt sey, da der ihrige hier so heftige Sprünge bekommen hatte.

In eben dem Augenblicke, sagte er, als der Brand sich schon dem Zimmer näherte rettete der Verwalter noch eine Uhr, die auf eben diesem Schreibtische stand. Im Hinaustragen mochte sich etwas am Werk verrücken und sie blieb auf halb zwölfe stehen. Wir haben also, wenigstens was die Zeit betrifft, eine völlige Übereinstimmung. Die Baroneß lächelte, der Hofmeister behauptete, daß wenn zwey Dinge zusammenträfen, man deswegen noch nicht auf ihren Zusammenhang schließen könne! Luisen gefiel es dagegen diese beiden Vorfälle zu verknüpfen, besonders da sie von dem Wohlbefinden ihres Bräutigams Nachricht erhalten hatte; und man ließ der Einbildungskraft abermals vollkommen freyen Lauf.

Wissen Sie nicht, sagte Karl zum Alten, uns irgend ein Mährchen zu erzählen? Die Einbildungskraft ist ein schönes Vermögen; nur mag ich nicht gern, wenn sie das, was wirklich geschehen ist, verarbeiten will; die lustigen Gestalten, die sie erschaft, sind uns als Wesen einer eigenen Gattung sehr willkommen; verbunden mit der Wahrheit bringt sie meist nur Ungeheuer hervor und scheint mir alsdann gewöhnlich mit dem Verstand und der Vernunft im Widerspruche zu stehen. Sie muß sich, deucht mich, an keinen Gegenstand hängen, sie muß uns keinen Gegenstand aufdringen wollen, sie soll, wenn sie Kunstwerke hervorbringt, nur wie eine Musik auf uns selbst spielen, uns in uns selbst bewegen und zwar so daß wir vergessen, daß etwas ausser uns sey, das diese Bewegung hervorbringt.

Fahren Sie nicht fort, sagte der Alte, Ihre Anforderungen an ein Product der Einbildungskraft umständlicher auszuführen. Auch das gehört zum Genuß an solchen Werken, daß wir ohne Forderungen genießen; denn sie selbst kann nicht fordern, sie muß erwarten was ihr geschenkt wird. Sie macht keine Plane, nimmt sich keinen Weg vor, sondern sie wird von ihren eigenen Flügeln getragen und geführt, und indem sie sich hin und her schwingt, bezeichnet sie die wunderlichsten Bahnen, die sich in ihrer Richtung stets verändern und wenden. Lassen Sie auf meinem gewöhnlichen Spaziergange erst die sonderbaren Bilder wieder in meiner Seele lebendig werden, die mich in frühern Jahren oft unterhielten. Diesen Abend verspreche ich Ihnen ein Mährchen, durch das Sie an nichts und an alles erinnert werden sollen.

Man entließ den Alten gern, um so mehr, da jedes von Friedrichen Neuigkeiten und Nachrichten von dem was indessen geschehen war, einzuziehen hoffte.

(Die Fortsetzung folgt.)

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