HomeDie Horen1795 - Stück 9VI. Homer, ein Günstling der Zeit. [Gottfried Herder]

VI. Homer, ein Günstling der Zeit. [Gottfried Herder]

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Als Thales gefragt ward, was er für das Weiseste in der Welt halte? antwortete er: die Zeit, denn sie hat alles erfunden.

Dem gemäß gaben die Griechen dem Zeit-Gott (Chronos) die größesten und schönsten Namen. Vater der Dinge, Enthüller der Wahrheit, den Prüf- und Schleifstein der Gedanken, den besten Rathgeber der Sterblichen nannten sie ihn, priesen von ihm: daß er alles mildere, richte, polire; er fördre fortwährend Unbekanntes ans Licht, und lasse Bekanntes in Dämmerung sinken. u. f.

Eben so könnte man in einer andern Allegorie sagen, daß die Sterblichen mit diesem alten Gott in einem fortwährenden Streit leben, daß manche seiner Kinder sich anmaßen, was keiner von ihnen, sondern Er allein gethan hat, und thun konnte; endlich daß unter seinem Namen er manche Glückliche oft unerwartet mit dem reichsten Ruhm kröne.

Wem sind nicht jene Fabelnahmen des Alterthums bekannt, deren Einer oft die Erfindungen ganzer Jahrhunderte in sich zu begreifen scheinet? Thaaut, Theut, Thot, Hermes, Orpheus; es ist fast keine Kunst, keine Wissenschaft, die das Leben der Menschen menschlich gemacht hat, deren Anfänge man ihnen nicht zugeschrieben. Wie ihre, so gelten mehrere Namen des Alterthums als vielfaßende Sternbilder am dunkeln Himmel, als große Constellationen der alten Zeit.

Mit Begebenheiten und Unternehmungen ist’s wie mit den Erfindungen; sie, die bloß und allein Geburten der Zeit sind, mögen wir gern einzelnen Unternehmern zuschreiben. Romulus und Numa z. B. sollen mit den Mauern und dem Gottesdienste Roms, bereits alles im Sinne gehabt haben, was innerhalb dieser Mauern nur durch Hülfe der Zeit entstand, was sich aus diesen Mauern nur durch Hülfe der Zeit über die Welt verbreitet. Alexander bei seinem Übergange nach Asien, bei Errichtung Alexandriens, Babylons und anderer Städte soll im Sinne gehabt haben, was in vielen Jahrhunderten, unter Anlässen so verschiedner Umstände erst die vielsinnige Zeit ersann und mit ihren tausend Armen dennoch kaum ausführte. So Julius Cäsar, Muhamed; so manche andre Gesetzgeber, Religionsstifter, Unternehmer, insonderheit wenn sie bei unvollendetem Werk jung starben. Selbst die Kunstwerke der Menschen, die eigensten Geburten ihrer Seele, ihres Fleißes, ihrer Begierde – Doch ich will lieber durch Beispiele reden und über einige glückliche Günstlinge der Zeit meine Gedanken eröfnen. Ich werde dabei selbst dem Gange der Zeit folgen dörfen, in welchem diese Vermuthungen sich bei mir entwickelt haben.

I. Ist die Ilias und Odyssee von demselben Dichter?

Als ich in jungen Jahren den Homer fast völlig noch als ein Mährchen las, fragte ich unbefangen, ob das derselbe Homer sey, der die Ilias und die Odyssee gedichtet? Man gab mir zur Antwort: „Allerdings! nur war er dort jung, hier alt; dort die aufgehende, hier die untergehende Sonne.“ Ich ließ es mir gefallen; nur deutete ich das Bild von der aufgehenden und untergehenden Sonne, (das meines Erachtens von Longin hier etwas unpassend angebracht war,) auf meine Weise. Die Iliade war mir fortan ihrem Gebiet nach eine Morgen- die Odyssee eine Abendwelt. So, sprach ich, gehet es dort zu in Himmel und auf Erden; hier also. Der Ost-Homer und der Homer in Esten; beide sollen in mir friedlich neben einander wohnen. Ich müßte ein kleines Buch schreiben, wenn ich die Verschiedenheit beider Gedichte und der Dinge in ihnen, ihrer innern Beschaffenheit und äussern Construction nach entwickeln wollte. Und doch würde man vielleicht sagen: du träumest! Wie mich dünkt, haben beide Gedichte, jedes seine eigne Luft, seinen Himmel, seine eigne Zusammenfassung der Gestalten in der Ober-Mittel- und Unterwelt. Der Eine ist unser Homer der Ostwelt, (  ,) der andre der Westwelt ( .) wie Homer selbst seine Welt eintheilte.

2. Der grosse Umfang der Dinge in Homers Gedichten.

Als ich den Homer zum zweitenmal las, suchte ich mir, entfernt von allen Theorien und Regeln, seinen Inhalt lebendig vorzubilden; und erstaunte über den Reichthum, über die Ordnung in Vorführung der Gestalten, endlich über die ungeheure Ansicht des Ganzen in seinen kleinsten Theilen. Ich begriff es, warum die griechische Nachwelt den Homer zu einem Gott, und seine beiden Gedichte zu einer Encyklopädie alles menschlichen Wissens habe machen können: denn wahrlich eine Welt von Charaktern und Einsichten über Himmel und Erde liegt in ihm offen da. Welche Seite des menschlichen Wissens ist, die er nicht berührt hätte! Er, Vater der ältesten Weltkunde und Weltgeschichte, der griechischen Geographie, Genealogie, Beredsamkeit, Dichtkunst und mehrerer Wissenschaften. Wie, sprach ich, kam Homer zu dieser weiten Umfassung der Dinge mit ihrer genauesten Bezeichnung? denn nicht etwa auf dem Olymp und im Schattenreiche allein, auch in der Welt, auf Ithaka, in Troja, in jedem Busen und Thal Griechenlandes ist er mit Gegenden, Flüssen, Völkern so bekannt; er charakterisirt mehrere derselben so genau und avtoptisch, daß man wohl siehet, eine gewiße Universalität in Umfassung und Beziehung dieser Dinge im Gesichtskreise der Griechen sei bei der Zusammenordnung seiner Gesänge Absicht gewesen. Auch dies alte Geschlecht sollte nicht übergangen, auch von jenem Volk, jener Stadt, jener Begebenheit und Gegend sollte etwas gesagt werden. Es scheint, Alles für die Griechen Intreßante sollte in diesen beiden Gedichten vorkommen; und wenn es nirgend Raum hatte, so fand es Raum auf dem Schilde Achills, bei den Spielen zu Ehren Patroklus, oder am Rande der Erde. Und zwar fand Jegliches einen so schönen Raum, daß ich den alten Sänger eben so wohl über das, was er im flüchtigsten Vorbeigehen, als was er am ausführlichsten erzählt, beneiden mußte. Man versuche es, und gehe ein dieser Absicht die Iliade und Odyssee durch; man wird über den Reichthum, die Wohlordnung, das Verhältniß dieser Anspielungen erstaunen.

Wie? fragte ich, und diesen vielumfassenden, genau ordnenden Geist hatte Ein Sänger? Offenbar ist er hierinn einzig: denn Hesiod und alle übrigen Reste aus diesen uralten Sängerzeiten sind gegen ihn rohe Massen, oder ein zusammengeweheter Vorrath. Und doch ist Homer der älteste Dichter, und diese ärmeren, unvollendeten Sänger haben nach ihm gelebet. Ich las Blackwells vortrefliche Untersuchung, von dem man sagen kann, daß er über den Homer und sein Zeitalter zuerst im Großen gedacht habe; er that mir in Vielem, aber nicht in Allem Gnüge. So auch späterhin Wood nicht, ob er gleich, wenn ich so sagen darf, noch näher an die Geburtsstäte Homers hinandringt. Ich begnügte mich also die Quellen dieser Gedichte, wie die Quellen des Nilstroms, da ich zu ihnen nicht kommen konnte, in heiliger Ferne zu verehren.

3. Homer, als Sänger betrachtet.

Ein andermal galt es die Gesangweise des Dichters; bey Homer das Hauptwerk. Denn gelesen zu werden, sind diese Gesänge ursprünglich nicht gedichtet; sie wurden gesungen; sie sollten gehört werden. Dahin strebt der ganze Bau des Hexameters, der abwechselnde, immer fortschreitende Gang seiner Bilder und Töne. Davon zeugen die oft wiederkommenden Worte und Beiworte, die wiederkehrenden Verse und Halbverse, die leichte Bindung der Gedanken durch eine Menge uns überflüßig-scheinender Partikeln, die dem lebendigen Vortrage Haltung und Schwung gaben, endlich die ganze Art loser Perioden, in der hier alles erscheinet. Für den Sänger war der Hexameter gemacht. Nie konnte, nie dorfte er stocken und ausbleiben; der Gesang zog mit sich fort. Eben jene leichten und eintonigen Ausklänge des Verses luden ohne Mühe zur Fortsetzung des Bildes oder der Geschichte ein; eine Reyhe von wiederkommenden Ausdrücken und Versen gaben dem Sänger Zeit, weiter zu denken, indem sie immer noch das Ohr der Versammlung angenehm füllten. Stellen konnten versetzt, unzählige kleine Züge wieder angebracht werden; so daß wer einige Gesänge der Iliade gesungen hatte, den ganzen Trojanischen Krieg in dieser Manier singen konnte. Der Sänger schwamm und bewegte sich in einem sehr freien Elemente.

Gut für den Homer, der gleichsam erfindend sang und singend erfinden konnte; gut auch für seine Nachsänger, die Homeriden; die Quelle des heroischen Hexameters floss ihnen unversieget. Wie stand es hiebey aber mit der Erhaltung solcher Gesänge im Munde der Rhapsoden? Mochten sie ihren Homer mit der gewissenhaftesten Treue gelernt haben und mit einer Art göttlicher Verehrung wiederholen, die Leichtigkeit des Verses und der Erzählung selbst lud zu Veränderungen ein. Hier konnte dieser, dort jener Vers eingeschaltet werden; bey ähnlichen An- und Ausklängen bot er sich von selbst dar. Überdem war die griechische Sprache auf allen den Küsten und Inseln, in allen den Ländern und Städten, wo Jahrhunderte durch Homer gesungen ward, war und blieb sie dieselbe? In Asien, dem Archipelagus, in Alt- und Groß-Griechenland, mußte nicht der Sänger, wenn er verstanden, wenn er mit Entzücken gefühlt seyn wollte, sich hie und da dem Ohr des Volks bequemen, und also verändern? Jedermann, der es versucht hat, weiß, was die lebendige Gegenwart einer Versammlung dem Sprechenden für Gesetze auflegt; hier kann er nicht alles sagen, was er dort sagen konnte; er kann es nicht auf dieselbe Art sagen. Und da es der Zweck des Rhapsoden war, mit der Versammlung gleichsam ganz Eins zu werden, und aus seiner in ihre Seelen homerische Begeisterung, Vergnügen und Muse hinüber zu strömen, wozu er sogar auch mimische Kunst anwandte; so ist, wenn man sich dabey die griechische Lebhaftigkeit im Vortrage, im Erzählen, im Extemporiren erdichteter Geschichte einigermassen vorstellt, ein steifes Recitiren auswendig gelernter Verse, die unter allen Völkern Griechenlandes Jahrhunderte lang dieselbe geblieben wären, ganz undenkbar. Kaum läßt sich eine Geschichte, zumal im Feuer der Beredsamkeit, zweymal mit denselben Worten erzählen; und obgleich hier der Gesang und das Sylbenmaas dazu da war, daß es den Sänger innerhalb vester Schranken erhalten sollte: so waren diese Schranken doch so weit gesteckt, daß er unmöglich zu einer Sprachmaschine werden konnte, die unabänderlich dieselben Töne wiederholte. Es ist ein Trieb in unsrer Natur, zu dem Gelernten Eignes hinzuzuthun; es ist ein Trieb in ihr, diesen Augenblick, diese Stunde, diesen Kreis mit etwas Eignem zu bezeichnen, wenn es auch mit etwas Ungehörigem und Entbehrlichem wäre. So variiren alle Volkslieder auf der Erde; keine Provinz singt die Ihrigen ohne Veränderung. Selbst unsre langsam-tönenden Kirchenlieder, wenn sie vom Volk auswendig gelernt werden, sind von Zusätzen, Worteinschaltungen und Herzens-Ergiessungen nicht frei. Wer also an einen Urtext Homers, wie er aus seinem Munde floß, glauben kann, der glaubt viel.

4. Villoisons Homer. Studium Homers in Italien.

Unvermuthet zeigete sich mir eine grosse Erscheinung: Villoisons Ilias. Wie staunte ich, diesen Reichthum griechischer Kritik und Urtheile an! Hier fand ich meinen Jugendzweifel, ob die Ilisas und Odyssee von Einem und Demselben Homer sey, im Namen einer ganzen Secte griechischer Kritiker, der Sonderer (,) wieder; diese sagten: die Ilias und Odyssee sey nicht von demselben Dichter.

In den Anmerkungen über den Homer fand ich die Idee, Homers Gesänge als eine Art Encyklopädie des Wissenswürdigen zu betrachten, so verbreitet, wie sie und das gesammte Alterthum zeiget.

Endlich erschrack ich beynah über die Freyheit, die man sich mit dem Text Homers nehmen zu können, ja nehmen zu müssen lange Jahrhunderte durch geglaubt hat.

Villoisons Homer kam mir in Italien vor, als ich unter Denkmalen der griechischen Kunst, mithin auch in Homer lebte. Denn wie uns der nördliche Herbst zu Ossian treibt, so laden uns die griechischen Alterthümer, ja selbst die Sitten und Gegenden Groß-Griechenlandes zu Homer ein, als ob in ihnen hie und da sein Geist noch schwebe. Dreyerley insonderheit lernte ich an diesen unschätzbaren Resten der alten Zeit, das mir auch für Homer sehr diente:

1. Die Wahrheit, Einfalt und Pracht der griechischen Bilder in ihrer schönen homerischen Fortschreitung.

2. Die mancherlei Epochen der griechischen Kunst und Dichtkunst, in denen Ein Styl sich aus dem andern gleichförmig gebildet.

3. Den Werth und die Wirkungen der griechischen Schule in Wissenschaften und Künsten.

5. Von der Wahrheit, Einfalt und Pracht der griechischen Bilder angewandt auf ihre schöne Homerische Fortschreitung.

Unbeschreiblich ist der Eindruck, den die Wahrheit und Einfalt der griechischen Gedanken in ihrer Kunst anfauns macht. Nie wollten sie zu viel sagen; und deßhalb sagten sie es ganz, anschaulich, vollständig. Wie in der Kunst, so thaten sie dies auch in ihren Gesängen. In Homers lichter Welt steht alles so leibhaft da; Götter und Menschen sind so wahre Wesen, wie diese Statuen, wenn sie sich belebten. Der Wohllaut, der in diesem Gliederbau herrschet, die Wahrheit, die in diese Stellung gegossen ist, hebt auch die Gestalten jener Gesänge; und Winkelmann hat recht gesagt: die Nordländer sprechen in Bildern, da die Griechen allein auch in der Sprache Bilder geben.

Ich genoß das zauberische Vergnügen, die Kunstwerke des Vatikans, des Kapitoliums u. f. unter einer verständigen Fackel-Beleuchtung zu sehen; hier belebeten sich Götter und Helden, und mein Auge sah, wovon so viel geschrieben war, wovon auch ich im Nebel geschrieben hatte, den Gang der Griechischen Epopee, den vesten und sanften Tritt ihrer Erscheinungen und Gestalten. So, sprach ich, schreitet Apoll auch im Homerus einher; so saß Zeus im Olymp, als Thetis zu ihm trat; dies ist das Haupt der königlichen Juno. So ging Diana einher; so die mütterliche Demeter; und also zeigte sich die kriegende Pallas. Dies ist des göttlich-schönen Achilles, jenes des vielgewandten Ulysses Haupt; so blickte Ajax zum Jupiter empor; so rettete er den todten Patroklus.

Auch auf allen erhobnen Arbeiten der griechischen Kunst aus guten Zeiten, herrscht diese schöne Fortschreitung in nüchterner Einfalt, in einer bedeutungsvollen Ruhe und Wahrheit. Allenthalben ist eine daurende Handlung vorgestellt, die etwas hinter sich etwas vor sich hat, und im Fortschreiten den rechten Punkt, gleichsam das Moment eines Epos traf, von der Kunst erfaßt und verewigt.

Hier kam also der Takt der alten griechischen Dichtung in meine Seele; diese sang, sie stellte dar, erzählend. Da dorfte kein Bild, kein Zug des Bildes in der lebendigen Rede länger verweilen, als es der anschauende Sinn des Hörenden wollte; jeder Zug trat auf der Stelle hervor, wie er sich der ganzen Gestalt nach in der Seele des Hörenden mahlte. Nichts dorfte ausgelassen werden, bis dieser Zweck erreicht war; dann aber säumte das Bild auch keinen Augenblick länger; das innere Auge des staunenden Zuhörers eilte und verlangte weiter. Daher der prächtige und gehaltne Gang Homers; daher, daß in ihm bei allen Wiederholungen eigentlich nichts müßig dasteht, obgleich alles so lose erscheinet. Daher auch, daß bei jeder anscheinenden Leichtigkeit übersetzt zu werden, Homer (so wie alle Dichter, die lebendig sangen und nicht schrieben,) in diesem Stück fast unübersetzbar bleibet. Denn nicht die Harmonie des Verses ist eigentlich das Steuer seiner Rede, sondern nur ihr Ruder. Der anschauliche Fortgang der Begebenheit, der wachsende Ganz der Rede, mit jedem neu hinzufliessenden Zuge; Er ist das Hauptwerk, über welchem man selbst die Harmonie des Verses vergißt, und fast unwillig wird, wenn man, unzeitig erinnert, an sie als an etwas Besonderes denket. Bei den alten Sängern dorfte dies der Fall nie seyn, oder die Harmonie selbst hinderte die Wirkung des Epos. Dies nahm sich Zeit, Alles ganz darzustellen, daß, auf dem Flügel der Rede fortgetragen, der Hörer mit Vergnügen eilte und weilte.

6. Vom Fortgange der griechischen Kunst aus Einem Styl in den Andern, auf Homer und die alten Sänger angewendet.

Der sichtbare Formung der griechischen Kunst lehrete mich, wodurch Homer vor so viel andern Sängern vor, neben und nach ihm zu der Höhe gestiegen sey, auf der er den Griechen, als ein Einzelner da stand. Er gelangte zu ihr auch als Künstler, als ein begünstigter Sohn der Zeit.

Viele der Sänger vor ihm hatten Kosmogonieen und Theogonieen, Thaten der Götter, Abentheuer der Titanen und Helden, des Herkules, der Argonauten, des Theseus u. a., wahrscheinlich auch den Trojanischen Krieg und die Rückkehr der griechischen Führer besungen; und gewiß waren darunter trefliche Gesänge. Durch ihn entstand eine Ilias und Odyssee; wie dies zugieng, erkläret uns die griechische Kunst deutlich.

Auch sie hatte sich nemlich vom Rohesten hinauf durch allerlei Härten, zum Theil in den gewaltsamsten Vorstellungen, zu der Höhe hinbilden müssen, die man erhabnen Götter- und Heldenstyl zu nennen gewohnt ist. Welch einen Weg hatte sie zurückgelegt, seit sie von den Figuren auf dem Kasten des Cypselus zu den Verzierungen der Propyläen, zu Phidias Pallas, oder von Dädalus Gestalten zum Olympischen Jupiter gelangt war! Einen gleichen Weg hatte der Gesang früher zurückgelegt, seit er von der rohesten Götter- und Heldensage zu einem Epos in Homerischem Styl gelangte. Wer dies sehen will, vergleiche den Homer und Hesiodus, oder der Kürze wegen, nur das Schild Achilles bey Homer, und Herkules Schild in der Hesiodischen Sage; ein Unterschied, wie zwischen Phidias, und einem alten Kampanischen Gebilde.

Das Wesen der Kunst nemlich gehet auf Umriß, auf bedeutenden Entzweck, auf Anmuth, Fülle und Einheit. Unvermerkt arbeitet sie dahin, das Überflüssige wegzuschaffen, dem Nothwendigen aber Kraft zu geben, und es in höchster Einfalt darzustellen, göttlich, würdig, angenehm, zierlich. Wie sich aus der Kunst also jene Zähnebleckenden, häßlichen Todes- und Plagegestalten, sammt allen Ungeheuern menschlicher Leidenschaften nothwendig verlieren mußten, so mußten mit Hülfe der Zeit auch die Gesange, der gleichsam im Wettkampf mit der Kunst, und selbst eine hörbare Kunst war, die Ungeheuer der Titanen, wilde Abentheuer in Heldenzügen und Ritterthaten abgethan oder sittlicher geformt werden; und hievon ward uns Homer ein frühes Muster. Auch Er kennet jene rohe Mythologie älterer Zeiten; nur er gebraucht sie äußerst sparsam und zweckmäßig. Kaum vorübergehend legt er sie seinen Göttern oder Helden in den Mund; ins wilde Getümmel der Schlacht, an die Grenzen der Erde hat er sie verleget, oder sie ist ihm nur Redart. Seine eigne Darstellungen sind allesamt von der Unform gesondert, rein göttlich und menschlich.

Lasset uns sehen, wie auf diesem Wege, ohn’ alle Regel und Vorschrift des Aristoteles, der Umriß einer Homerischen Epopee, als Begriff und Werk, entstehen mußte.

Alle Sagen () nemlich, sie betreffen Götter oder Helden, gehen unausgebildet ins Unendliche fort. Sie knüpfen und hangen sich an, oder sie lösen sich von einander, ohne nähern Zweck, in unermeßlichen Weiten. Wahrscheinlich waren die alten griechischen Sagen, die Theogonieen und Kosmogonieen, die Herakliden und Theseiden, die Argonautischen und Cyprischen Gedichte, selbst der Trojanische Krieg, und die Irren der Helden im weiten unendlichen Meer, dergestalt unumschriebene Abentheuer und Sagen. Nothwendig aber mußte es einem glücklichen Sänger (wer der auch gewesen seyn möge,) einfallen, dieser Unendlichkeit Umriß, diesen Begebenheiten Form zu geben, und zwar auf die leichteste Weise; wozu ihn dann mehrere Ursachen und Umstände einluden.

Zuerst. Nicht alle Momente einer Begebenheit oder eines langfortgeführten Abentheuers konnten für den Hörer gleich anziehend und unterhaltend seyn. Um die interessantesten versammlete sich die Menge; sie hielten die Aufmerksamkeit mit wachsendem Vergnügen vest. Also wurden Gesänge dieser Art mehr gesungen; natürlich also der Sänger auch auf die Ausbildung derselben als auf das glückliche Moment einer Haupthandlung geleitet.

Zweitens. Was von Begebenheiten gilt, gilt auch von Helden. Einer war beliebter als der andre; an jenen knüpften sich mehr ineinandergreifende Merkwürdigkeiten. Er ward also der Hauptheld einer beliebteren Sage; sein Leben gab Momente einer Haupthandlung.

Drittens. Dem Sänger selbst war eine Zusammenfügung mehrerer Gesänge zu Einem Ganzen vortheilhaft und angenehm. Ein Gesang wies sodann auf den andern, Einer floß aus dem andern; nach Jenem ward dieser gefodert. Die Einheit einer Haupthandlung war also nicht nur Hülfe für sein Gedächtniß, sondern auch eine wirkliche Erweiterung der Seelenkrafte und der Aufmerksamkeit für den Hörer. Aus Einem anmuthigen Layrinth ward dieser in ein andres Labyrinth, oder von Höhe zu Höhe geführet. War Einmal ein Knote des Gesanges geschürzt, so wollte er den Knoten gelöset sehen; der Sänger mußte ihn lösen, oder er war kein Meister.

Viertens. Auch die Gesänge hielten sich durch diese Verkettung an einander vester. Indem Einer an den andern erinnerte und sich an ihn schloß, konnte jener so wenig, als dieser vergessen werden. Das vorgesteckte Ziel der Handlung war die Achse des sich wälzenden Rades, der Mittelpunkt, () der alle Felder des Schildes an sich bevestigte und mit sich forttrug.

Laßet uns die Erweise davon in Homer, verglichen mit andern Dichtern sehen.

Unter Orpheus Namen haben wir ein Gedicht, die Reise der Argonauten. Der Sänger Orpheus erzählt seinem Schüler Musäus eine berühmte Fahrt, der er mit beigewohnet, und die Erzählung geht fort, wie die Reise. Man kann, wenn uns an der Charte nichts liegt, Glieder auslassen und hinzuthun, am Ende gelangt man doch mit Orpheus zurück in seine Behausung.

Ganz anders ist’s in der Iliade. Neun Jahre des Trojanischen Krieges waren verflossen, an die der Sänger nur episodisch denket. Sein Gedicht leitet sogleich eine Handlung und mit ihr eine Reihe von Handlungen ein, die an einander leise und vester, bis zum Ausgange hinaus geknüpft sind. Ja hinter diesem Ausgange ist man selbst noch das Ende des Helden, das uns an mehreren Orten als nahe verkündigt wird, zu wissen begierig.

Wie die Iliade den größesten griechischen Helden vor Troja, und aus seinem Leben die wichtigste Periode emporhob, so wählt die Odyssee unter allen rückkehrenden Helden, den Vielgewandtesten, der das meiste erfahren hat, der also auch am besten erzählen konnte. Von Agamemnon, Menelaus u. a. hören wir hie und da, was wir hören sollen, nur episodisch. Um Ulysses schlingt und windet sich der Kranz aller Erzählungen dieser Abendgegend; und zwar so zierlich ist er geschlungen, so weise, daß es nicht gleichgültig bleibt, ob dies der Dichter oder Ulyß erzählt? ob es Eidothea, Circe, Tiresias sagen? alles ist durch und in einander schlau und verständig geordnet.

7. Von Verknüpfung der Gesänge in Homer.

Bei Homer ist die Verknüpfung mehrerer Gesänge auf die leichteste, loseste Weise, d. i. rhapsodisch bewirkt worden; laßet uns sehen, was in dieser Manier liege.

Der alte griechische Sänger () sang seine Sage unendlich fort; der Rhapsobe verknüpft Gesänge; ( , .) Davon hat er den Namen, dies ist, nebst dem lebendigen Vortrage, () sein Kunstwerk. Hiermit ist in Absicht auf Homer Alles gesaget.

Fragt man nämlich: wo hört Homers Ilias auf? so ist die Antwort: wo man will. Es sind und bleiben lose Gesänge. Willt du aufhören, wo Achilles nicht mehr zürnet, (weil im Anfange nur der Zorn Achills angekündigt worden:) so höre auf. Andre werden eben jetzt entflammt seyn, den Achilles, der zwar gegen Agamemnon nicht mehr, aber gegen Hektor und die Trojaner desto mehr zürnet, in seiner Rache, in seiner Trauer um den Patroklus zu sehen; und zittern für Hektor. Der Textur von Gesängen ( ) die sie wünschen, geht also jetzt erst an. So mit andern Gesängen. Willt du die nächtliche Kundschaft des Ulyßes, die Dolonie nicht lesen; laß sie aus. Scheint mit den Spielen bei Patroklus Grabe dir der Gesang zu lange fortgezogen, so möge Patroklus ohne diese ihm gebührende Ehre, durch die Achilles Herz allein beruhigt werden kann, schlafen. Es kann wohl seyn, daß diesem und jenem Rhapsoden diese und jene Rhapsodie gefehlt habe: denn nach Belieben der Zuhörer sang er bald dieses, bald jenes; die Textur aller dieser Gesänge aber aus Einem Knoten in Einem Geist und Ton bleibt unverkennbar.

So auch bei der Odyssee. Gefällt uns Ithaka, oder Menelaus-Alcinous Hof, die Behausung der Circe, der göttliche Sauhirt, Polyphem, das Todtenreich; alles ist aufgethan; alles steht einzeln vor uns. In der Odyssee aber ist’s, wie in einer Kunstsammlung, schön geordnet.

Fragt man: warum ist die Iliade so leicht und lose angekündigt, daß diese Ankündigung den Inhalt aller Gesänge kaum unter sich begreift? so dient zur Antwort: eben diese leichte Ankündigung war rhapsodisch. Der Sänger nähete und reihete an den Zorn Achills, was aus ihm hervorging oder was an ihn schicklich zu reihen war; den Zorn Achills aber war und blieb der Nabel (. Ombilicus) d. i. der Vereinigungspunkt seiner Gesänge und Sagen. Die Odyssee scheinet genauer angekündigt; und doch sagt die Ankündigung bei weitem nicht alles, was in ihr vorgeht. Selbst des Hauptzweckes der Erzählung, der Ankunft Ulysses auf Ithaka, und dessen, was dort geschah, thut sie fast keine Erwähnung. Zeiten, wenn wir diese zwo leicht und prächtig geschlungene Kränze des Alterthums, die Ilias und Odyssee, nach Regeln richten wollen, die ein neuerer Geschmack für eine Gattung, die Homer ganz und gar nicht kannte, das sogenannte HeldenGedicht (Epopee) erfand, und in der man Werke, die fast nichts miteinander gemein haben, die Äneis, Dante’s göttliche Komödie, Ariost, Tasso, Milton, Klopstock, Wieland, wiederum die Henriade und Arancana mit Einem Maasstabe mißt und richtet! – Homers Ilias und Odyssee sind zwo lebendige Kriegsheere, die sich, jetzt in diesem, jetzt in jenem Trupp einzeln bewegten; aber auch im ganzen Fortrücken sind es wohl gestellete wohlgeordnete Heere.

Ohne alle Rücksicht auf die Umstände, unter denen aus einzelnen Gesängen und Sagen zusammengeordnete Gesänge ( ) entstanden: wie leichter und milder war überhaupt der Geschmack der Griechen in Allem, was die Zusammenordnung () nannten, sey es in Kunst oder in Weisheit. Sehet ihre erhobne Bildwerke, ihre Gruppen, ihre Gemählde. Da drängt sich nichts auf einander, um im Dreieck oder in einem Flammenpunkt gen Himmel zu fahren; friedlich sind die Figuren neben einander. Das Auge des Anschauenden soll sie in Ruhe geniessen, und im Gemüth zusammenordnen. Vom Zugespitzten unsrer Perspectiv wußten sie nichts. Man lese Homers Beschreibung von Achilles Schilde. Pausanias Erzählung vom Amykläischen und Olympischen Thron, ja alle Stellen, wo er von Zusammenordnung eines Vielen zu Einem redet; man lese Philostrats Gemählde, allenthalben wird man gerade eine so leise und lose Zusammenstellung, wie in der Iliade und Odyssee bemerken, ja oft sogar nach unsern Begriffen über Mangel an Einheit klagen, da sich doch die Griechen unter Morgen- und Abendländern in dem, was wahre und schöne Einfalt ist, so einzig ausgezeichnet haben. Diese Einfalt aber war bei ihnen nicht todter Mechanismus, sondern Einheit und Einfalt der Gedanken, eine gehaltene daurende Empfindung. In ihren epischen, lyrischen, dramatischen Gedichten blieben sie auf diesem Wege; selbst ihre Denksprüche, ihre Gespräche, ihre Epigramme lieben dies ruhige Aus- und Nebeneinander. Was die Homerische Schule hierinn für ganz Griechenland auf alle künftige Zeiten für Gutes bewirkt habe, wollen wir jetzt mit Wenigem andeuten.

8. Werth und Wirkung der Homerischen Schule auf Griechenland.

Ich bemerkte von der griechischen Kunst, daß sie den Werth und die Wirkung dessen was Schule ist, zeige. Oft ist ein Denkmal des Alterthums mittelmäßig gearbeitet; indessen ist seine Idee groß; mithin auch seine Wirkung. Die Regel Polyklets ist in ihm sichtbar; man kann ihm seine Aufmerksamkeit nicht versagen. Daß die Griechen dieser Kunstregel so treu blieben, sicherte sie; sie schweiften nicht wie die neuern umher, die sich alles für erlaubt halten.

Homer stiftete mit seiner Gesangsweise die wahre Schule Griechenlands, die sich bis auf sehr späte Zeiten in Blüthe erhielt. Der griechische Geschmack in Kunst, Dichtkunst und Weisheit ist dem Homer und seinen Homeriden fast alles schuldig.

Es gab einen Orphischen Geschmack, der sich in den Geheimnißen der Eingeweiheten lange erhielt. Wir haben davon späte Proben in Fragmenten auch Hymnen; wahrscheinlich aber wird niemand unter uns diesen Orphischen mit dem Homerischen Geschmack vertauschen wollen und jenem die Allgemeinheit wünschen.

In Hesiodus haben wir andre Proben mehrerer uralter griechischer Denkarten; die wenigsten davon werden wir gegen Homers reine Gestalten, gegen seine heitere, weise Denkart verwechseln.

Homer nämlich änderte den alten Geschmack, dadurch, daß er gleichsam den Himmel auf die Erde zog, und, indem er jene ungeheuren abgelebten Fabeln der Vorwelt an ihrem Ort ließ, alle seine Gestalten rein menschlich machte. Von Heldenbegebenheiten wählte er die jüngste unter den alten, die ganz Griechenland intereßirte. Von Helden die Blume der Helden, den tapfersten, und den schlauesten. Hiedurch legte er in seine Gedichte Keime zu einer grossen, blühenden Pflanzung; ganz im Kreise der Menschheit. Um seinen Achill vereinigte sich Griechenland und Troja mit tausend Schicksalen und Menschencharakteren; durch seinen Ulyß ward uns in den vielfachsten Ansichten eine Charte der westlichen Welt, und in ihr die verschiedensten Verfassungen und Situationen des häuslichen und bürgerlichen Lebens, wohl aneinander geordnet, sichtbar.

Fragte man mich: sang das alles schon Homer? stehest du für jeden Zug jedes Verses, daß auch Er vom großen Altvater sey? so wüßte ich auf solche Frage keine Antwort, als etwa diese: wenn er sie nicht selbst sang, so war er Vater dieser Gesänge. Wo eine Epigenese, d. i. ein lebendiger Zuwachs in regelmäßiger Gestalt an Kräften und Gliedern stattfinden soll, da muß, wie die ganze Natur zeigt, ein lebendiger Keim, ein Natur- und Kunstgebilde da seyn, dessen Wachsthum jetzt alle Elemente freudig fördern. Homer pflanzte einen solchen Keim, ein Episches Kunstgebilde. Seine Familie, die Schule der Homeriden erzog diesen Baum; allenthalben umher wurden durch lebendigen Gesang seine Sprossen verpflanzet, und durch Wind und Wetter unter mancherlei Händen, die ihn bearbeiteten, die ihn vielleicht einimpften, ihn beschnitten und an ihm feilten, gedieh der Baum zu der Gestalt, in der er jetzt vor uns stehet und wahrscheinlich, (wenige Verbesserungen ausgenommen,) stehen wird, so lange menschliche Cultur dauret.

9. Vom Homerischen Gedankenkreise.

Daß es in der Schule der Homeriden auf einen Cyklus d. i. auf eine Art Encyklopädie des Wissenswürdigen göttlicher und menschlicher Dinge im Gesichtskreise damaliger Zeiten angelegt gewesen, wird jedem eindrücklich werden, der sich vom Inhalt unsrer Ilias und Odyssee ein reines Bild macht, zugleich aber auch mit ihnen die andern dem Homer zugeschriebenen Werke in Betracht nimmt. Margites z. B. ist das Erste derselben: denn, wie späterhin in Athen, hinter vier Trauerspielen heroischen Inhalts eine Komödie zum Schluß gegeben ward: so sollte wahrscheinlich Margites das auch im Hochfrölichen und Komischen seyn, was die Ilias und Odyssee, jene im Königlichen, diese im Bürgerlichen Geschmack waren; Margites ründete gleichsam die cyklische Tafel. Das Schicksal hat uns um dieses äusserst wünschenswerthe Gedicht, dessen auch Aristoteles oft erwähnt, beneidet; die Ursache des Unterganges lässet sich aber bald einsehn. Das Komische menschlicher Sitten nemlich verändert sich schneller als sich die Gegenstände der Odyssee oder Ilias verändern; Götter- und HeldenCharaktere, Gegenden, Inseln, Wunder der Natur, Königreiche, Geschlechter, dauren, wenn das Lächerliche eines Zeitgeschmacks mit der Zeit vorübergegangen ist, und künftige Geschlechter weniger reitzet.

Ob uns also gleich ein Haupttheil dessen, was zum Homerischen Kreise des Wissenswürdigen gehöret, entwandt ist: so darf man dennoch nur die Ilias und Odyssee selbst, sogar in dem, was uns das Entbehrlichste scheint, mit Aufmerksamkeit ansehn, um an der Idee eines solchen Kreises von dem, was dem damaligen Griechenlande wissenswürdig schien, nicht zu zweifeln. Man gehe zu diesem Zweck das Verzeichniß der griechischen Schiffe, Länder, und Familien, die Felder auf dem Schilde Achilles, die ganze Umfassung der Odyssee durch; man verfolge beide Gedichte in ihren Gleichnissen, Charakteren, Sitten, Situationen, Regierungsarten in der Ost- und Westwelt; sodann gehe man muthmaassend den Inhalt andrer Gesänge der berühmtesten Cyklischen Dichter durch, die dem Homer, was in ihm zu mangeln schien, jeder nach seinen Kräften beifügte: mich dünkt, so wird man die Idee, daß die fortbildende Zeit es bei einer Reihe verehrter Gesänge, die man für die vollkommensten hielt, und die es auch waren, immer mehr auf eine Art Encyklopädie, d. i. auf einen Umriß des Wissenswürdigen in der damaligen Sphäre der Menschheit anlegen, und darinn fortarbeiten mußte, der Natur der Sache gemäß finden. Gesänge (Epos) und zwar Gesang in dieser Form war damals das einzige, und ein so angenehmes Mittel der Unterweisung, in welches man daher alles brachte, was man wußte oder was man wissenswerth fand. Hätten wir die sämmtlichen Cyklischen Dichter der Griechen, von denen wir jetzt keinen haben, so könnten wir selbst die Arten des Geschmacks bestimmen, in denen man, in Homers Schule sowohl, als ausser seiner Schule dies Wissenswürdige aneinander gereihet und fortgebildet; jetzt kennen wir unter Homers Namen, oder aus seiner Schule, nur wenige, aber sehr schätzbare Stücke und Fragmente, die uns eben auch dahin weisen.

Unter Homers Namen haben wir z. B. einen Frosch-Mäusekrieg. Von wem er auch sey, er erinnert uns sogleich nicht nur an so manche Spiele und Scherze () die man dem guten Altvater zuschreibt: sondern auch an die ganze Manier, in der er Götter und Menschen betrachtet; sie ist leicht und frölich. Zur Iliade und Odyssee war also in der Homerischen Schule der Frosch-Mäusekrieg ein vortrefliches Drittes; eine Sehart menschlicher Dinge, die nicht weniger als die Ilias und Odyssee im Geschmack Homers seyn konnte. Sie hatte mehrere Nachahmungen in der Homerischen Manier, den Krieg der Spinnen, der Kraniche, die Cicaden, die Ziege; (die man daher auch dem Homer zuschrieb:) und es wird ihr hoffentlich nie an frölichen Nachahmern fehlen. Überhaupt ist in beiden Gedichten Homers eine Summe ruhiger Vernunft und des unbefangenen frölichen Selbstgenusses merkbar; wie in keinem andern Dichter. Dieser fröliche Selbstgenuß scheint das Erbtheil gewesen zu seyn, das der Vater der Homeriden seiner Familie nachließ; daher aus Homers Gedichten und aus seiner Denkart, der gesunde Verstand und fröliche Sinn der Griechen nicht nur ausgehn sondern auch fortwährend schöpfen konnte.

Auch die Hymnen Homers sind davon Zeugen. Welche Frage, ob Einer derselben von Homer sey? Vielleicht keiner: sie stammen aber alle von ihm her; denn alle sind in seiner Denkart. Gebt uns statt dieser 32 oder 35 Hymnen der Homeriden, die offenbar freie Eingänge zum Gesange waren, noch einmal soviel aus dieser Schule: (die orphische Schule hat 86.) so würden wir auch hier einen Hymnenkreis der Homeriden sehen, schöner und wirksamer als der Cyklus orphischer Hymnen.

Es war Natur der Sache, daß sich nicht alle, selbst Hauptwerke der homerischen Schule in immer-frischer Blüthe des Andenkens erhalten konnten; Vielleicht waren ihrer zu viele: oder die Ilias und Odyssee verdrängten die andern. Diese gingen unter, wie ehmals die Gesänge der ältern roheren Dichter durch sie untergegangen waren. Die Tafel des Gedächtnisses der Menschen ist eine enge Tafel; vor ihr sitzet die Zeit, unaufhörlich beschäftiget mit Hinzuschreiben, Ändern und Wegthun. Nur das Wissenswürdigste, das Vortreflichste soll diese Tafel aufbewahren; Dank ihr, daß von Homer sie uns die Ilias und Odyssee erhalten. Wir können zufrieden seyn, daß wir neben ihnen aus dieser Schule noch einige Hymnen, aus Hesiodus und Orpheus Schule kleine Reste, (aus der letzten vielleicht nur das Echo des Echo) besitzen: wir können vergleichen, und durch Vergleichung zu dem Urtheil kommen, daß die Homerische Schule für alle Zeiten den wahren, guten und sichern Geschmack gegründet.

10. Verdienst Lykurgus, Solons und der Pisistratiden um Homer.

Ohne Zweifel ist man dem Lykurg und Solon, den beiden größesten Gesetzgebern Griechenlands vielen Dank schuldig, daß sie von ihrer Seite dazu beitrugen, uns den Homer zu erhalten; sie thaten es aber nicht für uns, es erforderte solches ihre eigne Gesinnung, und der Zweck ihrer Gesetzgebung. Kein Fürst und Weiser Griechenlandes wollte muthwillig ein Barbar seyn, noch weniger glaubte er, barbarische Völker könnten besser als gebildete regiert werden; auf dem Boden der Cultur sprosste der Ruhm der Griechen; sich von Barbaren zu unterscheiden, war und blieb ihr wachsender Nachruhm.

Eben so gereicht es dem Pisistratus und Hipparch zur Ehre, daß sie auf Solons Wege fortgingen und den Gesang Homers an den Panathenäen einführten; nur lasse man auch dieser grosser Männer Lykurgus und Solons, Pististratus und Hipparchus Verdienst bestehn in seinen Gränzen.

Lykurg brachte Homers Gedichte aus Asien in seine Stadt; man weiß nicht, wie? ob in Schrift oder im Munde lebender Sänger? wenigstens hat die Homerische Dichtkunst in Lacedämon nie geblühet.

Drei Jahrhunderte später führte Solon seine Gedichte in Athen ein; und befahl sie, Reihab, also daß Ein Sänger den andern ablösete, zu singen. (  .) Wenn keine Zusammen-Ordnung () in den Gedichten Homers gewesen wäre, so hätte sie ihnen Solon, den wir aus seinen eigenen Gedichten kennen, schwerlich geben können. Also glaube man nicht, Er habe die Iliade und Odyssee geschaffen; er ordnete etwa die Rhapsodieen, (soviel ihrer damals waren,) wie sie im öffentlichen Vortrage folgen sollten, und traf dazu von Seiten der Sänger Vorkehrung. Sein Verdienst um die Erhaltung Homers war politisch.

So auch das erdienst Pisistratus und Hipparchus. Ich zweifle, ob diese, übrigens verdiente Männer Dichter-Verdienst um den Homer haben, und in ihn bringen konnten, was nicht da war. Als Fürsten ordneten sie, sie regulierten. Hätten sie dabei auch alle Weisen der damaligen Zeit in einer Reguati-Synode zu hüfe genommen; wir kennen ja den Simonides, Anakreon, Onomakritus u. f. aus eignen Gedichten. Zu ihren Zeiten war jener Geist, der die Iliade und Odyssee schuf, längst entwichen; sie konnten schwerlich hervorbringen, was nicht da war, aber was da war, konnten sie übersehen, redigiren und revidiren, ordnen. (.)

Wie wenig man sich nachher an diese Redaction gekehret, zeigt die Geschichte der Auslegung Homers in den folgenden Zeiten; indessen bleibt den grossen Namen Solons, Pisistratus und Hipparchus das unsterbliche Verdienst, daß sie die Gedichte Homers, wie sie sich ihnen gaben, auf ewig vom Untergange errettet haben, und in der Pallas Schleier gleichsam bargen. Fortan wurden sie nicht nur alle fünf Jahre in den Panathenäen abgesungen, sondern in Athen, der Mutter der Schriften kamen sie als Schrift in die Hände der Dichter, der Sophisten, der Redner, Staatsmänner und Philosophen; sie wurden ein classisches Buch der Schulen, (so wenige Schulen damals waren,) noch mehr aber ein classisches Buch aller gebildeten Menschen, die sich auf Vortrag in Poesie oder Prose legten.

11. Schluß.

Irre ich nicht, so hing Homers Glück von drei Dingen ab, die alle unter dem Gebiet der Zeit standen. Wir wollen sie mit drei Worten, Epos, Gesang, Rhapsodie uns wiederholen.

Epos war das lebendige Wort, die Stimme der Vorwelt. Sie brachte aus dem grauen Alterthum Gestalten und Sagen herab, die auf dem Flügel der Zeit sich gleichsam höher schwangen und fortwuchsen. Was Virgil von seiner Fama singt:

Mobilitate viget, viresque adquirit eundo;
Parva quidem primo; mox sese attollit in auras
Ingredliurque folo et caput inter nubila condit;

gilt edler von jener göttlichen Stimme, (, ) die wie ein weissagender, lehrender Ton aus der Vorzeit hinabkam und sich auf künftige Zieten forterbte. Die Muse des Gedächtnisses weihte ihren Sänger, daß er sich diese Stimme eigen machte, sie veredelte, und den Menschen menschlicher zuhauchte. Würden Achill und Ulyßes sich wieder erkennen in Homers Gedichten? Schwerlich. Auf dem Flügel der Zeit, auf der Schwinge des lebendigen Worts und Gesanges sind ihre Gestalten so heroisch, göttlich und groß worden, daß sie hier andre Wesen sind, als sie im sterblichen Leben waren.

Das Epos gehört in die Kindheit der Welt. Da horcht das abergläubische Ohr auf Stimmen der Vorwelt, und erträumt sich gern wunderbare, höhere Gestalten. Was das Auge nüchtern sieht, wird durch die Rede, zumal durch die von Geschlecht zu Geschlecht forttönende Rede, wie in trunkener Begeisterung fortgebildet und erhebt sich wachsend. Da traf nun Homer den rechten Punct; ein Bote der Vorwelt, der aber weise für seine Zeit war, und in allem die Umrisse traf, die, wohlgedacht, leicht übersehbar, geschlank und frölich, das Auge künftiger Geschlechter mit Anmuth und Würde ewig vesthielten. Dazu half ihm sein Gesang, ein einfacher Strom, in den alle Belehrung floß, der in lyrische und dramatische Ströme, wie in bunte Mäander noch nicht vertheilt war. Gesang und Drama, Redekunst und Weisheit blühen in ihm noch auf Einem Baume; erst spätere Zeiten kamen und pflanzten jede besonders. Denn aus Homers Kunst, die aus dem Munde der Muse Gesänge reihet und ordnet, aus diesem einfachen Kunstwerk, in welchem sich Vieles zu Einem auf die leichteste Weise fügte, entsprang eben unter den Händen der Zeit jede andre Kunst und Dichtung, die beide immer ein Eins in Mehrerem, mithin Handlung, Knote, Fortleitung und Auflösung lieben. Nur Er schlang dies Band der Gesänge mit fast unmerklicher leiser Hand; die holde, günstige Zeit wars, die diesem alten Propheten eine Familie, d. i. Kinder gewährte, die das von ihm geschlungene Band weiter zogen und fortknüpften. Das liebliche Jonien, die Mutter aller Künste, gebahr Homer; die griechischen Inseln bis zur westlichen Welt hin haben seine Gesänge erzogen; Athen nahm sie auf, bildete sie im Drama und sonst vielfach aus und sprach darüber. In Alexandrien endlich gelangten sie, nach vielen Fragen und Zweifeln, mit Obelisken und Asterisken geschmückt, zu der Gestalt, in der sie uns die Zeit übergehen.

Als ich in Rom das berühmte Denkmal der Apotheose Homers sah: „Jupiter, Apollo, Mnemosyne und die Musen sind über ihm vom Gipfel herab in höherem Gegenden des Felsen; Er sitzet da wie ein Gott: die Ilias und Odyssee knieen an seinem Stuhl und stützen denselben. Ihn, der darauf sitzt, krönen die geflügelte Zeit und die bewohnte Erde (.) Vor ihm stehet ein Altar, bei dem der Mythus als Knabe dienet, auf dem die Geschichte Weihrauch opfert; die Poesie, das Trauer- und Lustspiel stimmen den Opfergesang an; die Natur als ein Kind, die männliche Tugend, das aufbewahrende Gedächtniß, die Treue, die Weisheit wohnen dem Fest bei;“ da erinnerte ich mich ganz des Glückes dieses ruhmvollen Sohnes der Zeiten. Er stand auf seiner Stelle, empfing von seinen Vorfahren einen reichen Schatz dessen, was er durch Geschmack, und zwar den wahren Geschmack eines reinen Menschengefühls zu veredeln wußte; und stiftete damit eine ewige Schule seiner fortarbeitenden Verehrer. Dichter sangen nach ihm weiter; Gesetzgeber ehreten ihn und führten seine Gesänge ein, Äschylus nährte sich von Brosamen seiner Tafel; die Genossen desselben, mit ihnen die Dichter jeder andern Gattung schöpften aus seiner Quelle; nach ihm bildete sich der erste Geschichtschreiber; die Kunst wetteiferte mit ihm; und er gab dem Phidias seinen Jupiter, seine Pallas Athene; die Philosophen sprachen über ihn; die Redner aus ihm – bis endlich eine Literatur und Cultur sich unter die Völker verbreitete, der Er der erste große Beförderer gewesen. Sein lebendiges Wort, () das die Zeit auf ihren Flügeln umher getragen, war zu Athen, im Tempel der Pallas festliche, ewige Schrift worden, und tönt vom Cecropischen Felsen noch fort in die Seelen der Menschen. Von ihm kann man sagen: er habe den Flug der Zeit durch Kunst der Rede gefesselt; willig nahm sie die Blumenfessel an und hat ihn dafür mit ewigem Ruhm gekränzet.

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