HomeDie Horen1796 - Stück 6IV. Ein Nachtrag zu der Untersuchung über Idealisten und Realisten. [Platon]

IV. Ein Nachtrag zu der Untersuchung über Idealisten und Realisten. [Platon]

Bewertung:
(Stimmen: 0 Durchschnitt: 0)

Aus Platons Theätetus

(S. 113-124. ed. Bip.)

Sokrates. So kommen wir, mein Theodorus, von einem Gegenstande der Untersuchung auf den andern, von dem wichtigen auf den minder wichtigen.

Theodorus. Wir haben ja Muße genug dazu, Socrates.

Socrates. Das ist auch wahr. Ich habe wirklich oft schon, und vorzüglich heute die Bemerkung gemacht, mein Bester, wie sehr es in der Natur der Sache liege, daß diejenigen, welche sich lange mit dem Studium der Philosophie beschäftigen, als Redner in öffentlichen Geschäften eine lächerliche Rolle spielen.

Theodorus. Wie verstehst du das?

Socrates. Die, welche sich von früher Jugend an auf Gerichts- und andern öffentlichen Plätzen herumgetummelt haben, sehen aus, als ob sie wie Sklaven, und die hingegen, welche sich der Philosophie und dergleichen Studien widmeten, als ob sie in Vergleichung mit jenen wie Freygeborne erzogen wären.

Theodorus. In wie ferne?

Socrates. In so ferne, daß die letztern, wie du sagtest, immer Muße haben, und ihre Untersuchungen in Ruhe und mit Bequemlichkeit anstellen können. Gerade wie wir jetzt schon zum drittenmal auf einen neuen Gegenstand der Untersuchung gekommen sind, so machen es auch sie, wenn ihnen, wie jetzt uns, ein neuer Gegenstand besser gefällt als die eigentlich obwaltende Frage, und bekümmern sich nicht, ob sie auf einem längern oder kürzern Wege zum Ziele gelangen, wenn nur Wahrheit dabey herauskömmt. Jene hingegen dürfen sich beym Reden nie keine Zeit lassen, denn das ablaufende Stundenglas nöthigt sie zur Eile, und läßt sie nicht dazu kommen, über das zu reden, worüber sie vielleicht wünschten. Ihr Gegner hat sie ganz in seiner Gewalt, indem er sie beständig auf die vorgelesene Anklageformel zurückweißt, über deren wesentlichen Innhalt sie nie hinausgehen dürfen. Die Reden selbst beziehen sich immer auf einen Mitsklaven und sind an den Gebieter gerichtet, der als Richter dasitzt. Ihr Streit ist nie uninteressiert, sondern geht immer sie selber an; oft steht sogar ihr Leben dabey auf dem Spiele. Das alles macht sie nur hitzig und beissend, und lehrt sie die Kunst, dem Richter durch Worte zu schmeicheln, und sich ihm durch Thaten gefällig zu machen. Kurz, sie werden engherzige, schlechtdenkende Menschen; denn die sklavische Denkungsart, an die sie von Jugend auf gewöhnt sind, hat das Aufstreben des Geistes, den geraden freyen Sinn erstickt, und sie zu Ränken verleitet, indem sie die noch jedem Eindruck offnen Gemüther beständig in Angst und Furcht erhält. Da sie nun nicht im Stande sind, diese durch Gerechtigkeit und Wahrheitsliebe zu bekämpfen, so nehmen sie ihre Zuflucht zum Betruge und zu gegenseitigen Ungerechtigkeiten, und werden auf alle Weise verschroben und verdreht; so, wenn ihre Seele ganz verdorben ist, kommen sie am Ende aus den Jünglings-Jahren ins männliche Alter, und bilden sich nun ein, was recht Grosses und Kluges zu seyn. Das ist der Charakter der Leute von diesem Schlage. Soll ich dir etwa nun auch noch ein Bild der Männer von unserm Orden entwerfen, oder wollen wir lieber zu unserm Hauptgegenstande zurückkehren, damit wir nicht unsre vorhin gerühmte Freyheit abzuschweifen allzu sehr misbrauchen?

Theodorus. O nein! im Gegentheil wollen wir auch diese näher betrachten. Es gefiel mir sehr wohl, was du vorhin sagtest, daß wir in unserm Orden nicht sklavisch an den Gegenstand gebunden seyen, sondern, daß dieser gewissermaasen unser Sklave sey, und daß jede Untersuchung warten müsse, bis es uns gefällt, sie zu vollenden. Denn wir haben weder einen Richter, noch, wie z. B. die Richter, einen Zuschauer vor uns, der uns tadeln und uns gebieten kann.

Socrates. Nun so laß uns denn, weil es dir einmal so gut dünkt, von den ersten Meistern unsrer Kunst sprechen, denn was wollten wir uns um die gemeinen Philosophen bekümmern.

Der wahre Philosoph weiß vielleicht schon von Jugend an nicht einmal den Weg auf den Volksplatz. Er kennt weder den Gerichtshof noch das Rathhaus, noch sonst irgend einen andern öffentlichen Versammlungsort in der Stadt. Von den geschriebenen oder öffentlich ausgerufenen Gesetzen und Volksschlüssen hört und sieht er nichts. Jene intriguanten Bewerbungen der Cameradschaften um die ersten Stellen, jene heimlichen Zusammenkünfte, jene Gastgebote und Tänze mit Flötenspielerinnen wird er nie auch nur im Träume anstellen. Ob etwas Glückliches oder Unglückliches in der Stadt vorgefallen, oder ob einer ein Unglück seinen Voreltern von väterlicher oder mütterlicher Seite zuzuschreiben habe, darum bekümmert er sich so wenig als wie man im Sprüchworte sagt, um die Zahl des Sandes am Meere. Und von dem allem weiß er nicht einmal, daß er es nicht weiß. Denn es geschieht gar nicht aus Eitelkeit, wenn er von allem diesem keine Notiz nimmt, sondern eigentlich wohnt und liegt nur sein Körper in der Stadt; sein Geist hingegen hält alle diese Dinge für gering, verachtet sie sogar als nichtig „und schweift allenthalben umher, wie Pindarus sagt, durchmisst, was unter und über der Erde ist, berechnet die Sterne über dem Himmel, durchforscht allenthalben die ganze Natur eines jeden einzelnen Wesens, und läßt sich zu keinem der ihm nahe liegenden Dinge herab.“

Theodorus. Wie meinst du das?

Socrates. Man erzählt vom Thales, daß er, ganz in Betrachtung des Himmels vertieft, in eine Grube fiel, und ihn eine Thrazische Sklavin, ein munteres und witziges Mädchen, ausgelacht habe, weil er sich alle Mühe gebe, das was im Himmel sey zu sehen, und hingegen das, was ihm ganznahe und so zu sagen vor der Nase liege, nicht merke. Der nemliche Spott ist auf alle, die sich mit der Philosophie beschäftigen, anwendbar. Denn eigentlich weiß so ein Mensch nichts von seinem nächsten Nachbar, nicht einmal wie es ihm gehe, ja kaum ob er ein Mensch sey oder irgend ein andres zahmes Hausthier. Was hingegen der Mensch sey, und was ein solches Wesen ausschliessend vor andern zu thun oder zu leiden habe, das untersucht er genau und giebt sich Mühe, es zu erforschen. Begreifst du, Theodorus, was ich sage oder nicht?

Theodorus. Warum nicht; es ist wie du sagst.

Socrates. Wenn nun, mein Lieber, so ein Mann, sey es zu Hause oder öffentlich, mit irgend jemand Geschäfte hat, oder wenn er, wie ich schon vorhin sagte, vor Gericht oder anderswo in die Nothwendigkeit versetzt wird, über Dinge zu sprechen, die ihm so zu sagen vor der Nase und unter den Augen liegen, so wird er nicht nur den Thrazischen Sklavinnen, sondern auch den übrigen Pöbel zum Gelächter, und fällt aus Ungeschicklichkeit in Gruben, und geräth in alle nur mögliche Verlegenheiten. Auch macht sein erstaunend unbehülfliches Wesen, daß man ihn für blödsinnig hält. Wenn er geschimpft wird, kann er keinem ein treffendes Schimpfwort zurückgeben, in dem er von Niemand irgend etwas böses weiß, weil er sich nie darum bekümmert hat. Da ist er denn nun wieder in Verlegenheit, und wird lächerlich. Wenn man aber bey Lobes-Erhebungen und Prahlereyen anderer bemerkt, daß er nicht zum Scheine, sondern im Ernste darüber lacht, so hält man ihn für aberwitzig. Denn wenn man ihm einen Tyrannen oder König rühmt, so glaubt er irgend einen Hirten, z. B. einen Schwein- oder Schaaf- oder Rinderhirten glücklich preisen zu hören, der sich gut auf’s Melken versteht. Indessen meint er, daß jene ein edleres und heimtückischeres Thier zu weiden haben, als diese; daß sie aber nothwendig eben so roh und unwissend werden müssen, wie die Hirten, weil sie auf ihrer Burg mit der Mauer, wie jene auf ihrem Berge mit dem Pferche eingeschlossen seyen. Wenn man ihm sagt, daß jemand erstaunend reich sey, weil er tausend oder mehr Hufen Landes besitze; so hält er das eben für nichts grosses, weil er immer die ganze Erde im Auge hat! Wenn man ferner eines Mannes Geschlecht erhebt: er sey von gutem Hause, und könne sieben reiche Ahnen herzählen, so hält er diese Lobredner für sehr kurzsichtig und kleindenkend, weil sie aus Unwissenheit nicht im Stande sind, ihre Blicke immer auf das Ganze zu richten, und nicht einmal vernünftiger Weise schliessen können, daß jeder unzählige Myriaden von Ahnen und Voreltern gehabt haben müsse, unter denen Reiche und Bettler, Könige und Sklaven, Griechen und Ausländer oftmals bey tausenden gewesen seyn können. Ja wenn’s ich einer gar mit fünf und zwanzig wohlgezählten Ahnen brüstet, und bis an Herkules den Sohn des Amphitrüo hinaufrechnet, so hält der Philosoph das für eine lächerliche Pedanterey. Und weil dieser fünf und zwanzigste in absteigender Linie von Amphitrüo gerade das ist, wozu das Glück ihn machte, und wenn er auch der fünfzigste gewesen wäre, so muß er über solche Leute lachen, weil sie ihre Vernunft nicht brauchen, und dummen Stolz nicht aus ihrem leeren Kopfe herausbringen können. In allen diesen Fällen macht sich der Pöbel über den Philosophen lustig, weil er auf der einen Seite alles zu verachten scheint, und auf der andern, das was ihm vor den Augen liegt, nicht sieht, und allenthalben in Verlegenheit kömmt.

Theodorus. Du redest völlig der Erfahrung gemäß, Socrates.

Socrates. Wenn nun im Gegentheile der Philosoph selbst einen andern auf einen höhern Standpunkt bringen, und wenn so ein Mensch von der gerichtlichen Untersuchung über geschehenes Unrecht zur philosophischen Betrachtung der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zurückgehen will, worinn sie sich von einander selbst, und worinn von allem andern unterschieden oder von der Frage, ob ein König, der z. B. viel Gold besitzt, glücklich sey, zur Betrachtung der königlichen, und überhaupt der menschlichen Glückseligkeit oder Unglückseligkeit, und in wie ferne es von menschlichen Kräften abhänge, jene sich zu erwerben, und diese zu vermeiden – wenn nun wieder jener engherzige und zänkische Rabulist von dem allen Rechenschaft geben soll, so wird er hier das Gegenstück zu unserm Philosophen spielen. Denn ihm schwindelt, wenn er auf einer solchen Höhe schwebt, er sieht, weil er’s gar nicht gewohnt ist, mit irrendem Blicke niederwärts, er quält sich und schwankt und stottert, und wenn gleich weder Thrazische Sklavinnen, noch sonst ungelehrte Leute (denn die merken es nicht) darüber lachen, so werden es doch alle diejenigen thun, die auf eine freye, jenem Sklaven-Sinne ganz entgegengesetzte Weise erzogen sind.

Das ist mir das Bild des einen und des Andern. Der erste, den du Philosoph nennst, ist in Freyheit und Muße erzogen. Ihm macht es keine Schande, für einen einfältigen und unbrauchbaren Menschen gehalten zu werden, wenn er Sklavendienste verrichten soll, z. B. ein Tischpolster ordentlich hinzulegen, oder ein Gerücht durch Würtze oder seine Worte durch Schmeicheleyen zu versüssen. Der andere hingegen weiß dieses Alles mit Behendigkeit und Genauigkeit zu thun, aber er kann nicht wie ein freyer Mann die Laute spielen, er hat kein Ohr für den Wohllaut der Rede, und nie wird sein Gesang das wahre Leben der Götter und seligen Helden würdig preisen.

Theodorus. Wenn du Jedermann, wie mich, von dem was du sagst überzeugen könntest, so würde mehr Friede und weniger Unglück unter den Menschen herrschen.

Socrates. Freylich! Aber, mein Lieber, es ist eben so wenig möglich, das Böse ganz zu vertilgen, weil dem Guten ja immer etwas entgegengesetzt seyn muß, als es unter die Götter zu versetzen. Es sucht immer nothgedrungen die menschliche Natur und diese untern Regionen heim. Darum muß man suchen, sobald als möglich von hier dorthin zu entfliehen. Dieses Entfliehen ist Annäherung zur göttlichen Vollkommenheit, und diese Annäherung gründet sich auf wohlverstandene Frömmigkeit und Gerechtigkeitsliebe. Indessen, mein Bester, ist es gar nichts leichtes, die Menschen zu überzeugen, daß man nicht, nach der bey dem grosen Haufen geltenden Maxime, nur zur Vermeidung des bösen und zur Erhaltung des guten Rufes das Laster verabscheuen und nach der Tugend streben müsse, denn das liefe, wie mir dünkt, am Ende auf altes Weibergewäsche hinaus. Das Wesentliche von der Sache aber beruht auf folgendem:

Gott ist niemals auf irgend eine Weise ungerecht, sondern im höchsten Grade gerecht, und nichts kömmt ihm so nahe, als wer unter uns wieder die höchste Stufe der Gerechtigkeit erreicht hat. Darinn besteht die wahre Grösse und Veredlung, und mithin in dem Gegentheile die wahre Erniedrigung und Ausartung der Menschheit. Denn die Erkenntniß dessen was Recht ist, macht die wahre Weisheit und Tugend aus, und die Nichterkenntniß desselben ist entschiedene Unwissenheit und Verdorbenheit. Jede andre so geheissene Grösse und Weisheit ist in der Staats-Regierung lästiges Gepränge, und in den Künsten Ziererey. Man würde also weit besser daran thun, den, welcher Ungerechtigkeiten begeht, und Pflichtvergessen redet oder handelt, um seiner Verschlagenheit willen gar nicht für einen so wichtigen Mann gelten zu lassen. Denn solche Leute freuen sich ihrer Schande, und bilden sich ein, man halte sie doch für keine verächtliche Menschen oder für unnütze Erdenlasten, sondern für Männer, deren Erhaltung dem Staate wichtig seyn müsse. Aber, die Wahrheit zu gestehen, sind sie desto mehr solche Leute, wie sie nicht zu seyn glauben, je weniger sie es glauben. Denn sie wissen nicht, was sie doch am ehesten wissen sollten, welche Strafe die Ungerechtigkeit nach sich ziehe. Diese besteht nemlich gar nicht, wie sie etwa wähnen, in Züchtigung und Hinrichtung, der bisweilen auch ganz Unschuldige ausgesetzt sind, aber sie können ihr unmöglich entfliehen.

Theodorus. Was meinst du denn für eine?

Socrates. Ungeachtet in der Natur zwey Urbilder aufgestellt sind, das eine göttlich und höchst glückselig, das andere ungöttlich und höchst unglücklich, so können sie dieses Verhältniß nicht einsehen, und merken also in ihrem Wahnsinne und ihrer äussersten Verblendung auch nicht, daß sie durch ihre schlechten Handlungen sich dem letztern ähnlich und dem erstern unähnlich machen, und dafür werden sie nun gestraft, indem sie ein Leben wie ihr Urbild führen müssen. Vergebens stellt man ihnen vor, daß sie nach ihrem Tode, wenn sie ihrer falschen Grösse nicht entsagen, nie an jenen von Bösen reinen Ort gelangen können, und schon in diesem Leben immer das Ebenbild ihres Lebens vor sich haben, indem sie selbst als schlechte Leute nur mit schlechten Leuten umgehen müssen. Das würden sie als grosse Schlauköpfe und Genies für thörichtes Geschwätz halten.

Theodorus. Unstreitig Socrates.

Socrates. Ich hab’ es erfahren, mein Freund – Doch das einzige begegnet ihnen zuweilen, wenn sie in einer Privat-Unterredung Gründe und Gegengründe über das was sie tadeln vorbringen müssen, und nun herzhaft und lange aushalten und nicht feige sich ergeben wollen, daß sie dann am Ende sich nicht mehr zu helfen wissen, und mit ihren eignen Worten nicht zufrieden sind. Ihre Beredtsamkeit ist dann gewissermassen dahin, und sie stehn da wie die Kinder.

Doch laß uns dieses, da es sonst schon ausser unserm Wege liegt, aufgeben, sonst würden die sich immer mehr darbietenden neuen Gegenstände die Haupt-Untersuchung, von der wir ausgiengen, verdrängen. Laß uns also, wenn es dir gefällt, zum vorigen zurückkehren.

Theodorus. Ich höre zwar dieses eben so gerne; in meinem Alter faßt man so etwas leichter, doch wenn es dir gutdünkt, so kehren wir wieder zurücke.

"]"]