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Phädra (Racine) – Vierter Aufzug. Zweiter Auftritt.

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Hippolyt.
Mit Recht entrüstet von so schwarzer Lüge,
Sollt’ ich die Wahrheit hier vernehmen lassen;
Doch, Herr, ich unterdrücke ein Geheimnis,
Das dich betrifft, aus Ehrfurcht unterdrück’ ich’s.
Du, billige das Gefühl, das mir den Mund
Verschließt, und, statt dein Leiden selbst zu mehren,
Prüfe mein leben! Denke, wer ich bin!
Vor großen Freveln gehen andre stets
Vorher; wer einmal aus den Schranken trat,
Der kann zuletzt das Heiligste verletzen.
Wie die Tugend, hat das Laster seine Grade;
Nie sah man noch unschuld’ge Schüchternheit
Zu wilder Frechheit plötzlich übergehn.
Ein Tag macht keinen Mörder, keinen Schänder
Es Bluts aus einem tugendhaften Mann.
An einer Heldin keuscher Brust genährt,
Hab’ ich den reinen Ursprung nicht verleugnet;
Aus ihrem Arm hat Pittheus mich empfangen,
Der fromm vor allen Menschen ward geachtet;
Ich möchte mich nicht selbst zu rühmlich schildern;
Doch, ist mir ein’ge Tugend zugefallen,
So denk’ ich, Herr, der Abscheu eben war’s
Vor diesen Gräueln, deren man mich zeiht,
Was ich von je am lautesten bekannt.
Den Ruf hat Hippolyt bei allen Griechen!
Selbst bis zur Rohheit trieb ich diese Tugend;
Man kennt die Härte meines strengen Sinns;
Nicht reiner ist das Licht als meine Seele,
Und ein strafbares Feuer sollt’ ich nähren?

Theseus.
Ja, eben dieser Stolz, o Schändlicher,
Spricht dir das Urteil. Deines Weiberhasses
Verhasste Quelle liegt nunmehr am Tag.
Nur Phädra rührte dein verkehrtes Herz,
Und fühllos war es für erlaubte Liebe.

Hippolyt.
Nein, nein, mein Vater, dieses Herz – nicht länger
Verberg’ ich dir’s – nicht fühllos war dieses Herz
Für keusche Liebe! Hier zu deinen Füßen
Bekenn’ ich meine wahre Schuld – Ich liebe,
Mein Vater, liebe gegen dein Verbot!
Aricia hat meinen Schwur; – sie ist’s,
Pallantes Tochter, die mein Herz besiegte.
Sie bet’ ich an, nur sie, wie sehr ich auch,
Herr, dein Gebot verletze, kann ich lieben.

Theseus.
Du liebst sie! – Nein, der Kunstgriff täuscht mich nicht.
Du gibst dich strafbar, um dich rein zu waschen.

Hippolyt.
Herr, seit sechs Monden meid’ ich – lieb’ ich sie!
Ich kam mit Zittern, dies Geständnis dir
Zu tun –

(Da Theseus sich mit Unwillen abwendet.)

Weh mir! Kann nichts dich überzeugen?
Durch welche grässliche Beteuerungen
Soll ich dein Herz beruhigen – So möge
Der Himmel mich, so mögen mich die Götter –

Theseus.
Mit Meineid hilft sich jeder Bösewicht.
Hör’ auf! Hör’ auf, mit eitelm Wortgepräng
Mir deine Heucheltugend vorzurühmen!

Hippolyt.
Erheuchelt scheint sie dir. Phädra erzeigt mir
In ihrem Herzen mehr Gerechtigkeit.

Theseus.
Schamloser, deine Frechheit geht zu weit!

Hippolyt.
Wie lang soll ich verbannt sein und wohin?

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