HomeText: Die Jungfrau von Orleans1. AktDie Jungfrau von Orleans – 1. Aufzug, 10. Auftritt

Die Jungfrau von Orleans – 1. Aufzug, 10. Auftritt

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Die Vorigen. Johanna begleitet von den Ratsherren und vielen Rittern, welche den Hintergrund der Szene anfüllen; mit edelm Anstand tritt sie vorwärts, und schaut die Umstehenden der Reihe nach an

Dunois (nach einer tiefen feierlichen Stille).
Bist du es, wunderbares Mädchen –

Johanna (unterbricht ihn, mit Klarheit und Hoheit ihn anschauend).
Bastard von Orleans! Du willst Gott versuchen!
Steh auf von diesem Platz, der dir nicht ziemt,
An diesen Größeren bin ich gesendet.

(Sie geht mit entschiedenem Schritt auf den König zu, beugt ein Knie vor ihm und steht sogleich wieder auf, zurücktretend. Alle Anwesenden drücken ihr Erstaunen aus. Dunois verläßt seinen Sitz und es wird Raum vor dem König)

Karl. Du siehst mein Antlitz heut zum erstenmal,
Von wannen kommt dir diese Wissenschaft?

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Johanna.
Ich sah dich, wo dich niemand sah als Gott.
(Sie nähert sich dem König und spricht geheimnisvoll)
In jüngst verwichner Nacht, besinne dich!
Als alles um dich her in tiefem Schlaf
Begraben lag, da standst du auf von deinem Lager,
Und tatst ein brünstiges Gebet zu Gott.
Laß die hinausgehn und ich nenne dir
Den Inhalt des Gebets.

Karl.
Was ich dem Himmel
Vertraut, brauch ich vor Menschen nicht zu bergen.
Entdecke mir den Inhalt meines Flehns,
So zweifl ich nicht mehr, daß dich Gott begeistert.

Johanna.
Es waren drei Gebete, die du tatst,
Gib wohl acht, Dauphin, ob ich dir sie nenne!
Zum ersten flehtest du den Himmel an,
Wenn unrecht Gut an dieser Krone hafte,
Wenn eine andre schwere Schuld, noch nicht
Gebüßt, von deiner Väter Zeiten her,
Diesen tränenvollen Krieg herbeigerufen,
Dich zum Opfer anzunehmen für dein Volk,
Und auszugießen auf dein einzig Haupt
Die ganze Schale seines Zorns.

Karl (tritt mit Schrecken zurück).
Wer bist du, mächtig Wesen?
Woher kommst du?

(Alle zeigen ihr Erstaunen)

Johanna.
Du tatst dem Himmel diese zweite Bitte.
Wenn es sein hoher Schluß und Wille sei,
Das Szepter deinem Stamme zu entwinden,
Dir alles zu entziehn, was deine Väter,
Die Könige in diesem Reich besaßen,
Drei einzge Güter flehtest du ihn an
Dir zu bewahren, die zufriedne Brust,
Des Freundes Herz und deiner Agnes Liebe.
(König verbirgt das Gesicht heftig weinend, große Bewegung des Erstaunens unter den Anwesenden. Nach einer Pause)
Soll ich dein dritt Gebet dir nun noch nennen?

Karl.
Genug! Ich glaube dir! Soviel vermag
Kein Mensch! Dich hat der höchste Gott gesendet.

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