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Zwölfter Brief

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Es ist nur noch übrig, ein paar Worte über seine Aufopferung zu sagen.

Man hat es nämlich getadelt, daß er sich muthwillig in einen gewaltsamen Tod stürze, den er hätte vermeiden können. Alles, sagt man, war ja noch nicht verloren. Warum hätte er nicht eben so gut fliehen können als sein Freund? War er schärfer bewacht als dieser? Machte es ihm nicht selbst seine Freundschaft für Carlos zur Pflicht, sich diesem zu erhalten? Und konnte er ihm mit seinem Leben nicht weit mehr nützen, als wahrscheinlicherweise mit seinem Tode, selbst wenn alles seinem Plane gemäß eingetroffen wäre? Konnte er nicht – freilich! Was hätte der ruhige Zuschauer nicht gekonnt, und wie viel weiser und klüger würde dieser mit seinem Leben gewirthschaftet haben! Schade nur, daß sich der Marquis weder dieser glücklichen Kaltblütigkeit, noch der Muße zu erfreuen hatte, die zu einer so vernünftigen Berechnung nothwendig war. Aber, wird man sagen, das gezwungene und sogar spitzfindige Mittel, zu welchem er seine Zuflucht nimmt, um zu sterben, konnte sich ihm doch unmöglich aus freier Hand und im ersten Augenblicke anbieten, warum hätte er das Nachdenken und die Zeit, die es ihm kostete, nicht eben so gut anwenden können, einen vernünftigen Rettungsplan auszudenken, oder lieber gleich denjenigen zu ergreifen, der ihm so nahe lag, der auch dem kurzsichtigsten Leser sogleich ins Auge springt? Wenn er nicht sterben wollte, um gestorben zu sein, oder (wie einer meiner Recensenten sich ausdrückt) wenn er nicht des Märtyrthums wegen sterben wollte, so ist es kaum zu begreifen, wie sich ihm die so gesuchten Mittel zum Untergang früher, als die weit natürlichern Mittel zur Rettung haben darbieten können. Es ist viel Schein in diesem Vorwurf, und um so mehr ist es der Mühe werth, ihn auseinander zu setzen.

Die Auflösung ist diese:

Erstlich gründet sich dieser Einwurf auf die falsche und durch das Vorhergehende genugsam widerlegte Voraussetzung, daß der Marquis nur für seinen Freund sterbe, welches nicht wohl mehr statt haben kann, nachdem bewiesen worden, daß er nicht für ihn gelebt, und daß es mit dieser Freundschaft eine ganz andere Bewandtniß habe. Er kann also nicht wohl sterben, um den Prinzen zu retten; dazu dürften sich auch ihm selbst vermuthlich noch andre und weniger gewalttätige Auswege gezeigt haben, als der Tod –»er stirbt, um für sein – in des Prinzen Seele niedergelegtes – Ideal alles zu thun und zu geben, was ein Mensch für etwas thun und geben kann, das ihm das Theuerste ist; um ihm auf die nachdrücklichste Art, die er in seiner Gewalt hat, zu zeigen, wie sehr er an die Wahrheit und Schönheit dieses Entwurfes glaube, und wie wichtig ihm die Erfüllung desselben sei; er stirbt dafür, warum mehrere große Menschen für eine Wahrheit starben, die sie von Vielen befolgt und beherzigt haben wollten, um durch sein Beispiel darzuthun, wie sehr sie es werth sei, daß man alles für sie leide. Als der Gesetzgeber von Sparta sein Werk vollendet sah und das Orakel zu Delphi den Ausspruch gethan hatte, die Republik würde blühen und dauern, so lange sie Lykurgus‘ Gesetze ehrte, rief er das Volk von Sparta zusammen und forderte einen Eid von ihm, die neue Verfassung so lange wenigstens unangefochten zu lassen, bis er von einer Reise, die er eben vorhabe, würde zurückgekehrt sein. Als ihm dieses durch einen feierlichen Eidschwur angelobt worden, verließ Lykurgus das Gebiet von Sparta, hörte von diesem Augenblick an auf, Speise zu nehmen, und die Republik harrte seiner Rückkehr vergebens. Vor seinem Tode verordnete er noch ausdrücklich, seine Asche selbst in das Meer zu streuen, damit auch kein Atom seines Wesens nach Sparta zurückkehren und seine Mitbürger auch nur mit einem Schein von Recht ihres Eides entbinden möchte. Konnte Lykurgus im Ernste geglaubt haben, das lacedämonische Volk durch diese Spitzfindigkeit zu binden und seine Staatsverfassung durch ein solches Spielwerk zu sichern? Ist es auch nur denkbar, daß ein so weiser Mann für einen so romanhaften Einfall ein Leben sollte hingegeben haben, das seinem Vaterlande so wichtig war? Aber sehr denkbar und seiner würdig scheint es mir, daß er es hingab, um durch das Große und Außerordentliche dieses Todes einen unauslöschlichen Eindruck seiner selbst in das Herz seiner Spartaner zu graben und eine höhere Ehrwürdigkeit über das Werk auszugießen, indem er den Schöpfer desselben zu einem Gegenstand der Rührung und Bewunderung machte.

Zweitens kommt es hier, wie man leicht einsieht, nicht darauf an, wie nothwendig, wie natürlich und wie nützlich diese Auskunft in der That war, sondern wie sie Demjenigen vorkam, der sie zu ergreifen hatte, und wie leicht oder schwer er darauf verfiel. Es ist also weit weniger die Lage der Dinge, als die Gemütsverfassung Dessen, auf den diese Dinge wirken, was hier in Betrachtung kommen muß. Sind die Ideen, welche den Marquis zu diesem Heldenentschluß führen, ihm geläufig, und bieten sie sich ihm leicht und mit Lebhaftigkeit dar, so ist der Entschluß auch weder gesucht, noch gezwungen; sind diese Ideen in seiner Seele gar die vordringenden und herrschenden, und stehen diejenigen dagegen im Schatten, die ihn auf einen gelindern Ausweg führen könnten, so ist der Entschluß, den er faßt, nothwendig; haben diejenigen Empfindungen, welche diesen Entschluß bei jedem Andern bekämpfen würden, wenig Macht über ihn, so kann ihm auch die Ausführung desselben so gar viel nicht kosten. Und dies ist es, was wir nun untersuchen müssen.

Zuerst: Unter welchen Umständen schreitet er zu diesem Entschluß? – In der drangvollsten Lage, worin je ein Mensch sich befunden, wo Schrecken, Zweifel, Unwille über sich selbst, Schmerz und Verzweiflung zugleich seine Seele bestürmen. Schrecken: er sieht seinen Freund im Begriffe, derjenigen Person, die er als dessen fürchterlichste Feindin kennt, ein Geheimniß zu offenbaren, woran sein Leben hängt. Zweifel: er weiß nicht, ob dieses Geheimniß heraus ist oder nicht? Weiß es die Prinzessin, so muß er gegen sie als eine Mitwisserin verfahren; weiß sie es noch nicht, so kann ihn eine einzige Sylbe zum Verräther, zum Mörder seines Freundes machen. Unwille über sich selbst: er allein hat durch seine unglückliche Zurückhaltung den Prinzen zu dieser Uebereilung hingerissen. Schmerz und Verzweiflung: er sieht seinen Freund verloren, er sieht in seinem Freund alle Hoffnungen verloren, die er auf denselben gegründet hat.

»Verlassen von dem Einzigen wirfst du
»Der Fürstin Eboli dich in die Arme,
»Unglücklicher! in eines Teufels Arme,
»Denn diese war’s, die dich verrieth – Ich sehe
»Dich dahin eilen. Eine schlimme Ahnung
»Fliegt durch mein Herz. Ich folge dir. Zu spät.
»Du liegst zu ihren Füßen. Das Geständniß
»Floh über deine Lippen schon. Für dich
»Ist keine Rettung mehr – Da wird es Nacht vor meinen Sinnen!
»Nichts! Nichts! Kein Ausweg! Keine Hilfe! Keine
»Im ganzen Umkreis der Natur! –«

In diesem Augenblicke nun, wo so verschieden Gemüthsbewegungen in seiner Seele stürmen, soll er aus dem Stegreif ein Rettungsmittel für seinen Freund erdenken. Welches wird es sein? Er hat den richtigen Gebrauch seiner Urtheilskraft verloren und mit diesem den Faden der Dinge, den nur die ruhige Vernunft zu verfolgen im Stande ist. Er ist nicht mehr Meister seiner Gedankenreihe – er ist also in die Gewalt derjenigen Ideen gegeben, die das meiste Licht und die größte Geläufigkeit bei ihm erlangt haben.

Und von welcher Art sind nun diese? Wer entdeckt nicht in dem ganzen Zusammenhang seines Lebens, wie er es hier in dem Stücke vor unsern Augen lebt, daß seine ganze Phantasie von Bildern romantischer Größe angefüllt und durchdrungen ist, daß die Helden des Plutarch in seiner Seele leben, und daß sich also unter zwei Auswegen immer der heroische zuerst und zunächst ihm darbieten muß? Zeigte uns nicht sein vorhergegangener Auftritt mit dem Könige, was und wie viel dieser Mensch für das, was ihm wahr, schön und vortrefflich dünkt, zu wagen im Stande sei?– Was ist wiederum natürlicher, als daß der Unwille, den er in diesem Augenblick über sich selbst empfindet, ihn unter denjenigen Rettungsmitteln zuerst suchen läßt, die ihm etwas kosten; daß er es der Gerechtigkeit gewissermaßen schuldig zu sein glaubt, die Rettung seines Freundes auf seine Unkosten zu bewirken, weil seine Unbesonnenheit es war, die jenen in diese Gefahr stürzte? Bringen Sie dabei in Betrachtung, daß er nicht genug eilen kann, sich aus diesem leidenden Zustand zu reißen, sich den freien Genuß seines Wesens und die Herrschaft über seine Empfindungen wieder zu verschaffen. Ein Geist, wie dieser aber, werden Sie mir eingestehen, sucht in sich, nicht außer sich, Hilfe; und wenn der bloß kluge Mensch sein Erstes hätte sein lassen, die Lage, in der er sich befindet, von allen Seiten zu prüfen, bis er ihr endlich einen Vorteil abgewonnen: so ist es im Gegentheil ganz im Charakter des heldenmütigen Schwärmers gegründet, sich diesen Weg zu verkürzen, sich durch irgend eine außerordentliche That, durch eine augenblickliche Erhöhung seines Wesens bei sich selbst wieder in Achtung zu setzen. So wäre denn der Entschluß des Marquis gewissermaßen schon als ein heroisches Palliativ erklärbar, wodurch er sich einem augenblicklichen Gefühl von Dumpfheit und Verzagung, dem schrecklichsten Zustand für einen solchen Geist, zu entreißen sucht. Setzen Sie dann noch hinzu, daß schon seit seinem Knabenalter, schon von dem Tage an, da sich Carlos freiwillig für ihn einer schmerzhaften Strafe darbot, das Verlangen, ihm diese großmüthige That zu erstatten, seine Seele beunruhigte, ihn gleich einer unbezahlten Schuld marterte und das Gewicht der vorhergehenden Gründe in diesem Augenblick also nicht wenig verstärken muß. Daß ihm diese Erinnerung wirklich vorgeschwebt, beweist eine Stelle, wo sie ihm unwillkürlich entwischte. Carlos dringt darauf, daß er fliehen soll, ehe die Folgen seiner kecken That eintreffen. »War ich auch so gewissenhaft, Carlos,« gibt er ihm zur Antwort, »da du, ein Knabe, für mich geblutet hast?« Die Königin, von ihrem Schmerze hingerissen, beschuldigt ihn sogar, daß er diesen Entschluß längst schon mit sich herumgetragen –

»Sie stürzten sich in diese That, die Sie
»Erhaben nennen. Leugnen Sie nur nicht.
»Ich kenne Sie. Sie haben längst darnach
»Gedürstet!«

Endlich will ich ja den Marquis von Schwärmerei durchaus nicht freigesprochen haben. Schwärmerei und Enthusiasmus berühren einander so nahe, ihre Unterscheidungslinie ist so fein, daß sie im Zustande leidenschaftlicher Erhitzung nur allzuleicht überschritten werden kann. Und der Marquis hat nur wenige Augenblicke zu dieser Wahl. Dieselbe Stellung des Gemüths, worin er die That beschließt, ist auch dieselbe, worin er den unwiderruflichen Schritt zu ihrer Ausführung thut. Es wird ihm nicht so gut, seinen Entschluß in einer andern Seelenlage noch einmal anzuschauen, ehe er ihn in Erfüllung bringt – wer weiß, ob er ihn dann nicht anders gefaßt hätte! Eine solche andere Seelenlage z. B. ist die, worin er von der Königin geht. O! ruft er aus, das Leben ist doch schön! – Aber diese Entdeckung macht er zu spät. Er hüllt sich in die Größe seiner That, um keine Reue darüber zu empfinden.