2. Akt
Der zweite Aufzug macht uns genauer mit der Situation bekannt, die die einzelnen Helden des Dramas zu den bestimmenden Teilen der Handlung einnehmen. Die Jungfrau hat den ersten Teil ihres Versprechens erfüllt, Orleans ist besetzt. Wir lernen nunmehr die Persönlichkeiten im englischen Lager kennen.
1. Szene
Die Hauptrolle im englischen Lager spielt der eiserne, unbeugsame Talbot. Seine energische Natur offenbart sich in einer gewaltigen Kraft des Ausdrucks. Er ist der Repräsentant des Unglaubens in einer Zeit, wo die Welt ausschließlich unter der Herrschaft des Glaubens und des Aberglaubens stand. Zornig über die abergläubische Furcht seines Heeres, vermag er die Jungfrau weder als eine Gottgesandte, noch als eine Zauberin zu betrachten. Ihm ist sie nichts anderes als eine gemeine Gauklerin. Von einer solchen betrogen zu sein, das empört ihn ebenso wie den edlen und tapferen Lionel, der ihm zur Seite steht.
Auch dieser will nur mit guten Waffen siegen, denn die Ehre seines Vaterlandes liegt ihm am Herzen. Daher gefällt ihm freies, selbständiges Handeln besser als jedes Bündnis. Schnell entschlossen hofft er, ohne zu ahnen, was seinem Herzen bevorsteht, die Jungfrau lebendig zu fangen und sie auf seinen Armen ins englische Lager herüberzubringen.
Der dritte Feldherr auf dieser Seite ist Philipp der Gute, der Herzog von Burgund. Um den blutigen Mord an seinem Vater zu rächen, hat er die Fahnen seines Königs verlassen, den Engländern den Weg in das Land gebahnt und somit den Namen eines Verräters auf sich geladen. So finden sich zwei streitende Elemente in seinem Innern: die fromme Sohnespflicht, die seine Waffen heiligt, und der Ruf des Vaterlandes, das seinen Arm begehrt. Diesen inneren Zwist auszugleichen, das bleibt der Jungfrau vorbehalten.
2. Szene
Aber zunächst herrscht noch ein äußerer Zwist, die Uneinigkeit zwischen dem Herzog von Burgund und den englischen Heerführern, der beizulegen ist. Hierzu erbietet sich Isabeau, die es gleichfalls mit den Feinden Frankreichs hält, weil ihr Sohn, der Dauphin, sich zum Richter ihrer Sitten aufgemacht und sie vom Hofe verbannt hat. Ihr sittlicher Charakter hat hierbei einen so gefährlichen Schiffbruch erlitten, dass jeder, der noch Schamgefühl in seinem Herzen trägt, vor ihr erschrecken muss. Ist sie schamlos genug, den zur Beratung vereinigten Feldherrn gegenüber offen zu bekennen, dass sie Leidenschaften und „heißes Blut“ habe, dass sie um ihres wahnsinnigen Gatten willen der Freude nicht habe absterben wollen. Lionel will ihr daher „die schönsten Frankenknaben, / Die wir erbeuten“ schicken. Doch ihre innere Entartung steigert sich bis zur Frechheit, indem sie dem jugendlich-schönen Lionel ohne alle Scheu ihr Begehren nach ihm zu erkennen gibt. Und diese Isabeau, von niedrigem Hass ergriffen, wagt es, sich dem englischen Heer als eine Anführerin anzubieten. Sie ist nichts anderes ist als eine widerwärtige Parodie zur Jungfrau Johanna. Schiller zeichnet die Züge der Isabeau absichtlich in abschreckenden Zügen, um den Glanz der Heldin seines Stückes in umso reinerem Licht strahlen zu lassen.
Dass die Feldherren den Worten einer solchen Friedensstifterin keine weitere Bedeutung beilegen können, liegt auf der Hand. Sie fordern sie daher einfach auf, sich zurückzuziehen, und treten zu neuer Beratung zusammen.
3. Auftritt
Nicht ohne Widerstreben willigt der Herzog von Burgund in Lionels und Talbots Plan, noch einmal eine Schlacht mit den Franzosen zu schlagen.
4. und 5. Auftritt
Aber die Jungfrau von Orleans kommt ihnen zuvor. Ehe die englischen Feldherren es vermuten, erscheint sie im englischen Lager, wo sie Verwirrung und Entsetzen anrichtet. Während das Lager in Flammen aufgeht, wütet der mörderische Kampf außerhalb desselben.
6.–8. Szene
Nun erblicken wir die Jungfrau von Orleans selbst in der vielbesprochenen Szene mit Montgomery. Sein unmännliches Zagen repräsentiert die Furcht des ganzen Heeres der Engländer. Mehrere Kritiker, wie Schlegel und Hegel, haben diese Szene ihres epischen Charakters wegen getadelt. Schiller war sich dessen wohl bewusst. Den Homer hatte er sorgfältig studiert. Er wählt hier den mehr gedehnten, feierlicher einherschreitenden Trimeter als Ausdrucksform. Seine Jungfrau erscheint hier im Gegensatz zu der historischen als eine kämpfende, blutvergießende. Diese besondere Art ihres Auftretens motivierte wohl Schiller zur gewählten Form. Ähnliche Szenen finden sich so auch in Homer.
Johanna bezeichnet sich hier als ein Gespenst des Schreckens, das dazu bestimmt sei, den Tod zu verbreiten, um schließlich selbst sein Opfer zu werden. Nun verleugnet sie auch in diesem blutigen Geschäft ihre zartere weibliche Natur. Durch die Ruhe und Besonnenheit, mit der sie den Montgomery ermahnt, sich in das Unvermeidliche zu fügen, wird das Abstoßende ihrer Tat gemildert. Ungeachtet dessen, dass sie nicht davor zurückschreckt, ihren kriegerischen Beruf aufs strengste zu führen und mit Montgomery in den Kampf zu treten und ihn zu töten, empfinden wir mit ihr, dass sie deshalb nicht aufgehört hat, Frau zu sein.
9. und 10. Szene
Neben dem blanken Schwert, das die heiligsten Bande zertrennt, ist auch das Wort in Johannas Munde eine wirksame Waffe. Hiermit vermag sie starrsinnige Gemüter zu besiegen und bereits gelöste Bande aufs Neue zu verknüpfen. Als Burgund heranstürmt und ihr Leben bedroht, Dunois und La Hire Johanna helfend herbeieilen, da hemmt sie den Kampf, mahnt den Herzog an die Pflichten gegen seine Stammesgenossen und wird im Gegensatz zur hasserfüllten Isabeau eine Friedensstifterin. Ihr kindlich frommer Sinn ist hier im Stande, einen zornentbrannten Helden zu überwinden.