HomeInhaltsangabeErläuterung: Die Jungfrau von Orleans

»Die Jungfrau von Orleans« von Schiller – Inhaltsangabe und Erläuterung der Handlung

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(Stimmen: 80 Durchschnitt: 4.3)

3. Akt

Wenn es die Aufgabe des dritten Aufzuges ist, uns den Konflikt der einander feindlichen Lager vorzuführen, genügt der Dichter dieser Forderung hier, indem er seine Heldin in Kollision mit sich selbst kommen lässt. Ihre irdisch-menschliche Natur und die hohen Pflichten ihres idealen Berufes, das sind die Mächte, die in ihrer Seele miteinander ringen und den bedenklichen Knoten schnüren, auf dessen Lösung wir gespannt werden sollen.

1.–3. Szene

Wir befinden uns in dem Hoflager des Königs zu Chalons, wo die Feldherren Dunois und La Hire mit einem Gespräch beginnen, das uns von vornherein bedenklich machen muss. Beide lieben die Jungfrau, dieselbe, an die der ihnen wohlbekannte Ruf ergangen ist:

– – – – – Eine reine Jungfrau
Vollbringt jedwedes Herrliche auf Erden,
Wenn sie der irdschen Liebe widersteht.

Jetzt soll diese Liebe in ihrem Herzen erweckt werden. Wird sie, die einen Raimond ausgeschlagen hat, sich durch die Bewerbungen so hochgestellter Männer nicht geschmeichelt fühlen, umso mehr, als man ihr die Entscheidung überlassen will?

Noch ehe sie erfährt, dass zwei Feldherren um sie streiten, soll sie das am Schluss des vorigen Aktes begonnene Werk vollenden: Zwei fürstliche Häupter sollen miteinander vereinigt werden. Die geschichtliche Tatsache der Verbindung des Herzogs von Burgund mit seinem König, die erst nach dem Tode der Jungfrau stattfand, wird hier von Schiller zu einer Versöhnungsszene benutzt. Schiller hielt damit den deutschen Fürsten einen Spiegel vor. Er zeigte ihnen, was sie für Deutschlands Wohl zu tun hatten. Die schönen Worte des Erzbischofs:

Mein Meister rufe, wann er will; dies Herz
Ist freudensatt und ich kann fröhlich scheiden,
Da meine Augen diesen Tag gesehn!

erinnern an den Ausruf des alten Simeon (Luc. 2, 29). Ebenso die begeisterte Prophezeiung:

Ihr seid vereinigt, Fürsten! Frankreich steigt,
Ein neu verjüngter Phönix, aus der Asche;
Uns lächelt eine schöne Zukunft an.

Diese Worte waren eine Mahnung, dem französischen Usurpator gegenüber dasselbe zu tun, was hier Frankreichs Fürsten dem englischen Unterdrücker gegenüber taten, eine Mahnung, die aber leider weniger an die Herzen der Fürsten als an die der Völker drang, die sich erst viel später erhoben, um sich von der Unterdrückung zu befreien.

4. und 5. Szene

Den versöhnten Fürsten gegenüber erscheint nun Johanna als Friedensengel mit einem Kranz geschmückt, um ihrem Werk die Krone aufzusetzen. Sie söhnt auch Du Chatel mit Burgund aus. Gleichzeitig spricht sie zwei bedeutungsvolle Prophezeiungen aus, die dem mit Frankreichs Geschichte Vertrauten leicht verständlich sind. Karls VII. Sohn, Ludwig XI., vereinigte Burgund mit der Krone, und als dessen Nachfolger, Karl VIII., sich mit der Erbin der Bretagne vermählte, fiel ihr auch das letzte große Land zu, so dass gegen Ende des 15. Jahrhunderts ganz Frankreich zu einem Reich vereinigt war.

Weniger günstig lautet die Prophezeiung, die dem Herzog von Burgund zu Teil wird. Die „Hand von oben, die seinem Wachstum schleunig Halt gebietet“ deutet auf den Tod seines Sohnes hin, Karls des Kühnen, der 1477 in der Schlacht bei Nancy gegen die von ihm bekämpften Schweizer fiel. Und „die Jungfrau, in welcher sein Haus glänzend fortlebt“, ist Karls des Kühnen Tochter Maria, die sich mit Maximilian von Oestreich vermählte. Der Sohn der beiden, Philipp der Schöne, heiratete Johanna, die Tochter Ferdinands und Isabellas von Kastilien, aus welcher Ehe Kaiser Karl V. entspross, in dessen Reich die Sonne nicht unterging. Johanna verkündet somit das Fortblühen der burgundischen Dynastie im Haus Habsburg und die Herrschaft des letzteren über die Länder jenseits des Atlantischen Ozeans.

Diesen hohen Offenbarungen gegenüber ist König Karl VII. von inniger Dankbarkeit bewegt. Er zieht sein Schwert und erhebt Johanna in den Adelsstand. Wenig vertraut mit der vollen Bedeutung dieses Aktes, nimmt sie das Geschenk der Standeserhöhung ruhig entgegen. Als jedoch Dunois und La Hire mit ihrer Bewerbung hervortreten, weist sie diese Anträge entschieden zurück. Indessen tut sie es mit einer gewissen Heftigkeit, die ihren inneren Kampf verrät. Man sieht, sie ist erzürnt, dass es ihr nicht hat gelingen wollen, die Anwesenden von der Göttlichkeit ihrer Sendung zu überzeugen. Außerdem ist ihr Charakter nicht frei von einer gewissen Arroganz. Schon dem Montgomery gegenüber hat sie sich mit jenen „körperlosen Geistern, die nicht frein“ verglichen. Auch jetzt ist sie unwillig, dass man in ihr nichts als eine Frau erblickt. Mit Recht fangen wir daher an, für sie zu fürchten. Denn, „wenn der Geist, dessen geheiligtes Gefäß sie ist, nur einen Augenblick von ihr weicht, dann wird auch das Weib erwachen und die beleidigte Natur sich furchtbar an ihr rächen“. Auch sie selbst fürchtet für sich und ihre Sendung, denn noch hat sie ihr Werk nicht ganz vollendet. Sie sehnt sich daher nach dem Getöse des Kampfes und der Erfüllung ihres Schicksals.

6.–8. Szene

Ihr Wunsch wird ihr erfüllt. Der Feind hat sich gesammelt. Bei Patay sind neue Lorbeeren zu erwerben. Talbot wird verwundet und stirbt wie er als Atheist gelebt hat. Von ihm bleibt nichts weiter übrig als eine handvoll leichten Staubs. Die Franzosen dringen siegreich vor, aber die Jungfrau fehlt. Wo ist sie? Dies fragen sich auch die französischen Kampfgenossen.

9. Szene

Wir finden die Jungfrau von Orleans in einer vom Schlachtfeld abgelegenen Gegend. Ein Feind hat sie listig bis hierher gelockt, indem er seine Flucht vorgetäuscht hatte. Doch wer ist dieser Feind? Aus dem Prolog hallen die warnenden Worte des alten Thibaut herüber:

Bleib’ nicht allein, denn in der Wüste trat
Der Satansengel selbst zum Herrn des Himmels.

Jetzt ist sie allein, die treuen Freunde stehen ihr nicht zur Seite als „der Versucher“ sich ihr naht. Warum sollte er nicht die Gestalt eines Ritters annehmen, betrachtet sie sich doch selbst als eine unüberwindliche Kriegerin? Und warum nicht die eines schwarzen Ritters? Schien doch in dem Nationalfeind die Schreckgestalt des schwarzen Prinzen immer noch wie ein böser Dämon im Hintergrund zu lauern und in jedem einzelnen Feind sich aufs Neue zu verkörpern.

Wenn A. W. Schlegel die Erscheinung des schwarzen Ritters tadelt und Schillers Absicht dabei eine zweideutige nennt, übersieht er, dass die Jungfrau gleich zu Anfang deutlich genug sagt:

– – – – – – Hätt’ ich
Den kriegerischen Talbot in der Schlacht
Nicht fallen sehn, so sagt’ ich, du wärst Talbot.

Sie kann ihn also unmöglich für Talbot, oder auch nur für dessen Geist halten. Umso mehr, als sie nach dem Verschwinden der Erscheinung eben so deutlich sagt:

Es war nichts Lebendes. Ein trüglich Bild
Der Hölle war’s, ein widerspenst’ger Geist,
Heraufgestiegen aus dem Feuerpfuhl.
Mein edles Herz im Busen zu erschüttern.

Der schwarze Ritter ist die Personifizierung des in ihrer Seele vorgehenden Zwiespalts. Die Erscheinung ist zwar nicht dramatisch, wohl aber psychologisch bedingt. Die Notwendigkeit dieses Vorganges erhellt aus der nachfolgenden Szene, wo Johanna als Frau in ihren rein menschlichen Empfindungen mit der von idealem Streben begeisterten Heldin in Konflikt gerät. Denn unmittelbar nachdem sie die Warnung des schwarzen Ritters erhalten hatte, dass sie in Rheims ihrem Gelübde untreu werden würde, trifft sie mit Lionel zusammen.

10. Szene

Nach einem kurzen Kampf macht sie Lionel wehrlos, indem sie ihm das Schwert aus der Hand schlägt. Hierauf ringt sie mit ihm und reißt ihm den Helm vom Kopf. Jetzt handelt es sich darum, ihn zu töten. Aber in diesem Augenblick, wo sie das Unmenschliche vollbringen und den wehrlosen Feind erschlagen will, erwacht in ihr die Menschlichkeit und steigert sich zur Empfindung von persönlicher Zuneigung als sie ihm ins Antlitz schaut. Noch vor wenigen Augenblicken, als der Versucher sich ihr nahte, hatte die Jungfrau von Orleans im Gefühl der Siegesgewissheit gesprochen:

Nicht aus den Händen leg’ ich dieses Schwert,
Als bis das stolze England niederliegt.

Nun straft sie dieses Wort in ihrem Fall. Wir fühlen es mit ihr. Die Hölle hat gesiegt. Die göttliche Kraft ist von ihr gewichen. Ja selbst das Schwert, das ihr die Mutter Gottes einst gezeigt hat, lässt sie in der Hand des Feindes zurück. So ist sie, die erhabene Heldin, durch ihre eigene Schwäche überwunden und zwar in demselben Augenblick als Dunois und La Hire sich nahen, um ihr den Sieg des Heeres zu verkünden. In dem Augenblick als Rheims dem König seine Tore öffnet.

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