Jena, den 4. November [Mittwoch] 1795.
Die gute Aufnahme meiner Gedichte, gnädige Gräfin, hat mich lebhaft erfreut, so sehr die Umstände, unter welchen sie von Ihnen gelesen wurden, mich betrübten. Den Verlust der theuern Person, den Sie damals befürchteten, fühle ich mit Ihnen; gewiß muß es eine würdige, treffliche Mutter seyn, die ein so rührendes, schönes Zeugniß des Herzens von Ihnen verdienen konnte. Aber ich hoffe, der Himmel hat sie Ihnen wiedergeschenkt, und ich darf Ihnen zu dieser Freude Glük wünschen.
Sie wünschen in Ihrem Briefe, daß ich auf dem poetischen Pfade, den ich betreten, fortfahren möchte. Warum sollte ich nicht, wenn Sie es der Mühe werth halten, mich dazu aufzumuntern. Ich gebe auch bloß dem freiwiligen Zuge meines Herzens nach, indem ich Ihren Rath befolge. Von jeher war Poesie die höchste Angelegenheit meiner Seele, und ich trennte mich eine Zeit lang bloß von ihr, um reicher und würdiger zu ihr zurückzukehren. In der Poesie endigen alle Bahnen des menschlichen Geistes und desto schlimmer für ihn, wenn er sie nicht bis zu diesem Ziele zu führen den Muth hat.
Die höchste Filosofie endigt in einer poetischen Idee, so die höchste Moralität, die höchste Politik. Der dichterische Geist ist es, der allen dreien das Ideal vorzeichnet, welchem sich anzunähern ihre höchste Vollkommenheit ist.
Möchte Ihnen die Elegie, die in dem zehnten Stüke der Horen abgedruckt ist, die Gefühle zu überliefern im Stande seyn, die mich erfüllten, als ich sie niederschrieb. Ich fühlte mich glüklich in ihrer Verfertigung, aber der Buchstabe kann das Herz nie erreichen.
In wenigen Wochen habe ich die Freude, Ihnen meinen Musenalmanach zu übersenden, der die Früchte einiger fröhlichen Stunden enthält. Wie wünschte ich, daß er auch Ihnen einige gewähren möchte. Lassen Sie, vortreffliche Gräfin, mein Andenken unter Ihnen leben. Das Ihrige begleitet mich wie ein schöner Genius und erheitert mein Leben.
Schiller.