Frankfurt am Main d. 19. Juni [Donnerstag] 1783.
Mein liebster Freund
Mein Schiksal hat mich nun hieher geführt. Schon oft wolt ich Dir schreiben, aber da ich unter so mislichen Umständen reise, so traue ich den Posten wegen meiner Briefe nicht, und noch viel weniger in solchen Briefen, die in die Academie gehen. Man hat euch vielerlei Gerüchte von mir vorgeschwazt, wie wir Wieland bei seiner Durchreise in Mannheim erzält hat. Ich hatte die Bekanntschaft eines Engelländers gemacht, der seine Grosmuth an mir zeigen wollte, allein Du weist, daß der Mann dem ich mich ganz überlassen soll, nicht von so gemeinem Schlag seyn darf. Schwazte ich Dir doch nicht immer als wir noch beisammen waren von meinen Schiksalen ohngefehr so, wie sie nun worden sind? Ich kanns nicht mehr so leiden. Überall finde ich zwar immer manche trefliche Leute, und vielleicht könnte ich noch wohl mich an einem Orte niederlassen, aber ich mus fort, ich will nach America und dies soll mein Abschiedsbrief seyn. Ich kenne Deine Freundschaft, und wies, Du wirst mir mehrere Gründe anführen, die mich zurükhalten sollten – aber ich bleibe bei Sterne’s Grundsatz – wo man keinen Rat annehmen will, mus man auch nicht um Rath fragen. Ich habe von einem hiesigen Handelshaus genauen Unterricht von meiner Reise bekommen. Aber, wirst Du fragen, was drinnen thun? Das sollen Zeit und Umstände bestimmen. Ich habe meine Medicin nicht vernachläsigt – auch die Philosophie könnte ich dort vielleicht als Professor lehren – vielleicht auch ins politische mich einlassen – vielleicht auch gar nichts von allem. Aber Trauerspiele werde ich deswegen nicht aufhören zu schreiben – Du weist, daß mein ganzes Ich daran hangt.
Wenns eine Gelegenheit giebt, solst Du Nachricht von mir aus America haben, vielleicht schreib ich Dir noch einmal aus den Niederlanden. Lebewohl theuerster Freund und fahre fort mich zu lieben, wie Dich liebt
Dein ewig treuer Freund
Schiller.
Grüße Petersen, Azel, Abel etc. und wer noch sonst meinem Herzen theuer war.