HomeText: Wilhelm Tell4. AktWilhelm Tell – Text: 4. Aufzug, 2. Szene

Wilhelm Tell – Text: 4. Aufzug, 2. Szene

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Edelhof zu Attinghausen.

Der Freiherr, in einem Armsessel, sterbend. Walther Fürst, Stauffacher, Melchtal und Baumgarten um ihn beschäftigt. Walther Tell knieend vor dem Sterbenden.

Walther Fürst:
Es ist vorbei mit ihm, er ist hinüber.

Stauffacher:
Er liegt nicht wie ein Toter – Seht, die Feder
Auf seinen Lippen regt sich! Ruhig ist
Sein Schlaf und friedlich lächeln seine Züge.

Baumgarten geht an die Türe und spricht mit jemand.

Walther Fürst zu Baumgarten:
Wer ist’s?

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Baumgarten kommt zurück:
Es ist Frau Hedwig, Eure Tochter,
Sie will Euch sprechen, will den Knaben sehn.

Walther Tell richtet sich auf.

Walther Fürst:
Kann ich sie trösten? Hab ich selber Trost?
Häuft alles Leiden sich auf meinem Haupt?

Hedwig hereindringend:
Wo ist mein Kind? Lasst mich, ich muss es sehn –

Stauffacher:
Fasst Euch, bedenkt, dass Ihr im Haus des Todes –

Hedwig stürzt auf den Knaben:
Mein Wälti! O er lebt mir.

Walther Tell hängt an ihr:
Arme Mutter!

Hedwig:
Ist’s auch gewiss? Bist du mir unverletzt?

Betrachtet ihn mit ängstlicher Sorgfalt.

Und ist es möglich? Konnt er auf dich zielen?
Wie konnt er’s? O er hat kein Herz – Er konnte
Den Pfeil abdrücken auf sein eignes Kind!

Walther Fürst:
Er tat’s mit Angst, mit schmerzzerrissner Seele,
Gezwungen tat er’s, denn es galt das Leben.

Hedwig:
O hätt er eines Vaters Herz, eh er’s
Getan, er wäre tausendmal gestorben!

Stauffacher:
Ihr solltet Gottes gnäd’ge Schickung preisen,
Die es so gut gelenkt –

Hedwig:
Kann ich vergessen,
Wie’s hätte kommen können – Gott des Himmels!
Und lebt‘ ich achtzig Jahr – Ich seh den Knaben ewig
Gebunden stehn, den Vater auf ihn zielen,
Und ewig fliegt der Pfeil mir in das Herz.

Melchtal:
Frau, wüsstet Ihr, wie ihn der Vogt gereizt!

Hedwig:
O rohes Herz der Männer! Wenn ihr Stolz
Beleidigt wird, dann achten sie nichts mehr,
Sie setzen in der blinden Wut des Spiels
Das Haupt des Kindes und das Herz der Mutter!

Baumgarten:
Ist Eures Mannes Los nicht hart genug,
Dass Ihr mit schwerem Tadel ihn noch kränkt?
Für seine Leiden habt Ihr kein Gefühl?

Hedwig kehrt sich nach ihm um und sieht ihn mit einem großen Blick an:
Hast du nur Tränen für des Freundes Unglück?
– Wo waret ihr, da man den Trefflichen
In Bande schlug? Wo war da eure Hülfe?
Ihr sahet zu, ihr ließt das Gräßliche geschehn,
Geduldig littet ihr’s daß man den Freund
Aus eurer Mitte führte – Hat der Tell
Auch so an euch gehandelt? Stand er auch
Bedauernd da, als hinter dir die Reiter
Des Landvogts drangen, als der wüt’ge See
Vor dir erbrauste? Nicht mit müß’gen Tränen
Beklagt‘ er dich, in den Nachen sprang er, Weib
Und Kind vergaß er und befreite dich –

Walther Fürst:
Was konnten wir zu seiner Rettung wagen,
Die kleine Zahl, die unbewaffnet war!

Hedwig wirft sich an seine Brust:
O Vater! Und auch du hast ihn verloren!
Das Land, wir alle haben ihn verloren!
Uns allen fehlt er, ach! wir fehlen ihm!
Gott rette seine Seele vor Verzweiflung.
Zu ihm hinab ins öde Burgverlies
Dringt keines Freundes Trost – Wenn er erkrankte!
Ach, in des Kerkers feuchter Finsternis
Muss er erkranken – Wie die Alpenrose
Bleicht und verkümmert in der Sumpfesluft,
So ist für ihn kein Leben als im Licht
Der Sonne, in dem Balsamstrom der Lüfte.
Gefangen! Er! Sein Atem ist die Freiheit,
Er kann nicht leben in dem Hauch der Grüfte.

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