HomeBriefeBriefwechsel mit Wilhelm v. HumboldtSchiller an Wilhelm v. Humboldt, 25. Dezember 1795

Schiller an Wilhelm v. Humboldt, 25. Dezember 1795

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Jena den 25. Dec. [Freitag] 95.

Wie freut es mich, lieber Freund, daß ich Sie mit meiner Arbeit zufrieden sehe, und daß wir auch hier, nicht bloß im Ganzen, sondern vorzüglich in gewißen einzelnen Parthien so sehr zusammenstimmen. Mir ist diese Arbeit viel näher liegend, als manche andre; sie scheint mir in einem höheren Grade mein zu seyn, sowohl des Gedankens wegen, als wegen seiner Anwendung auf mich selbst. Auch hat sie dadurch etwas wohlthuenderes für den Geist, weil sie zu den Abstractionen auch die Erfahrungen gibt und dadurch subjectiv etwas Ganzes leistet.

Sie wünschen, daß ich der naiven Dichtung eine größere Ausführung gegeben haben möchte. Es wäre auch gewiß geschehen, wenn ich nur vorher selbst gewußt hätte, daß ich die Ausführung der sentim. so weit treiben würde. Aber der erste Aufsatz war schon abgeschickt, ehe ich recht wußte, wieviel Stoff mir der zweyte geben würde. Beyde Aufsätze beziehen sich mehr durch einen natürlichen Instinkt in mir als durch einen absichtlich entworfenen Plan auf einander, zu welchem es mir ganz und gar an Muße fehlte. Indeß werden Sie doch gefunden haben, daß in dem zweyten Aufsatz manches in Rücksicht auf die naive Dichtung nachgehohlt ist, und im dritten wird dieses vielleicht noch mehr d Fall seyn.

Auf Ihr Bedenken habe ich Folgendes zu antworten. Es scheint aus Ihrem Anstoße zu erhellen, daß Sie den Gattungsbegriff der Poesie, der allerdings Individualität mit Idealität vereinigt fodert, zu sehr schon in die Arten legen. Ich betrachte diese letztern mehr als die Grenzen des erstern, Sie scheinen solche mehr wie verschiedene Ausführungen deßelben anzusehen. Soviel ist aber gewiß, daß die naive Poesie einen begrenzteren Gehalt, die sentimentalische eine weniger vollkommene Form hat. Freilich nimmt jede in demselben Grade mehr von dem Vorzug der andern an, als sie dem absoluten Dichtungsbegriff mehr annähert, und den Artcharakter mehr ablegt. Da ich aber diesen gerade streng unterscheiden wollte, so mußte ich das größere Gewicht auf die negative legen, ich mußte mehr von dem abstrahieren, was in einer jeden Art der Gattung angehört, um auf dasjenige aufmerksam zu machen, wodurch sie der Gattung entgegengesetzt ist. Naive Poesie verhält sich zur Sentimentalischen (wie auch gesagt worden) wie naive Menschheit zur sentimentalischen. Nun werden sie aber gewiß nicht in Abrede seyn, daß die bloß naive Menschheit den Gehalt für den Geist nicht hat, welchen die sentimentalische in der Cultur begriffene besitzt, und daß diese in der Form in dem Gehalt für die Darstellung der erstern nicht gleich kommt. Deßwegen ist die letztere, wenn sie sich vollendet hat, soweit über die erstere erhaben. Hat sie sich aber vollendet, so ist sie nicht mehr sentimentalisch, sondern idealisch: welches beydes Sie, vielleicht durch meine eigene Veranlassung, zu sehr für eins nehmen. Die sentimentalische wird von mir nur als nach dem Ideale strebend vorgestellt (dieß ist in der dritten Abhandlung am bestimmtesten aufgeführt), daher ich ihr auch in effectu weniger poetisches zugestehe als der naiven. Sie ist auf dem Wege zu einem höheren poetischen Begriff, aber die naive hat einen nicht so hohen wirklich erreicht, ist also der That nach poetischer.

Wir müssen also hier sorgfältig die Wirklichkeit von dem absoluten Begriffe scheiden. Dem Begriff nach ist die sentimentalische Dichtkunst freilich der Gipfel und die naive kann mit ihr nicht verglichen werden, aber sie kann ihren Begriff nie erfüllen, und erfüllte sie ihn, so würde sie aufhören, eine poetische Art zu seyn. Der Wirklichkeit nach ist es aber eben so gewiß, daß die sentimentalische Poesie, qua Poesie, die naive nicht erreicht.

Ich muß Sie hier an Ihren eigenen Begriff von den Geschlechtern und deren Verhältniß zur geschlechtslosen Menschheit erinnern. Gegen die Frau betrachtet, ist der Mann mehr ein bloß möglicher Mensch, aber ein Mensch in einem höheren Begriff; gegen den Mann gehalten, ist die Frau zwar ein wirklicher, aber ein weniger gehaltreicher Mensch. Weil aber beyde doch in concreto Menschen sind, so sind sie, jedes in seinem vollkommensten Zustande betrachtet, zugleich formaliter und materialiter sich gleicher. Giebt man aber ihre specifischen Unterschiede an, wie ich bey beiden Dichtungsarten thun wollte, so wird man den Mann immer durch einen höhern Gehalt und eine unvollkommenere Form, die Frau durch einen niedrigern Gehalt, aber eine vollkommenere Form unterscheiden.

Sie selbst sagen in einem Ihrer Aufsätze „Die Frau könne innerhalb ihres Geschlechtes der Mann nur mit Aufopferung seines Geschlechts wahrer Mensch werden.“ Dasselbe sage ich auch in Rücksicht auf beyde Dichtungsarten. Die sentimentalische Poesie ist zwar Conditio sine qua non von dem poetischen Ideale, aber sie ist auch eine ewige Hinderniß desselben. Die naive Poesie hingegen stellt die Gattung reiner, obgleich auf einer niedrigern Stuffe dar.

Um endlich auch die Erfahrung zu befragen, so werden Sie mir eingestehen, daß kein griechisches Trauerspiel dem Gehalt nach sich mit demjenigen messen kann, was in dieser Rücksicht von Neuern geleistet werden kann. Eine gewisse Armuth und Leerheit wird man immer daran zu tadeln finden, wenigstens ist dieß mein immer gleichförmig wiederkehrendes Gefühl. Homers Werke haben zwar einen hohen subjectiven Gehalt (sie geben dem Geist eine reiche Beschäftigung), aber keinen so hohen objectiven (sie erweitern den Geist ganz und gar nicht, sondern bewegen nur die Kräfte, wie sie wirklich sind). Seine Dichtung haben eine unendliche Fläche, aber keine solche Tiefe. Was sie an Tiefe haben, das ist ein Effect des Ganzen, nicht des einzelnen; die Natur im Ganzen ist immer unendlich und grundlos. Ich weiß nicht, ob wir hier von den Antiken reden dürfen, welche freilich ideal, aber sinnlich ideal sind, welches ich sehr von dem absoluten Ideal unterscheide, das in keiner Erfahrung kann gegeben werden, und nach welchem der sentimentale Dichter strebt. Die Poesie geht dem Gehalt nach unendlich weiter als die bildende Kunst. Auch möchte ich die Ideale der letztern in Vergleichung mit den Idealen jener mehr formale als materiale nennen. Das Unendliche in der Form ist ihr Gehalt, und so gehören die plastischen Ideale noch ganz in das naive Gebiet, denn das sentimentalische liegt völlig außerhalb der Sinnenwelt.

So wenig ich in der Erfahrung naive Poesien finden kann, die dem Gehalte nach ein unendliches wären, so wenig kann ich sentimentalische auffinden, die es der Form nach wären und ist es überhaupt nur ohne Widerspruch möglich? Kann das sinnlich Erscheinende unendlich seyn, kann das unendliche erscheinen? Nur indem sie den Gedanken von der Empfindung trennt, kann die Vernunft jenen ins Absolute hinüberführen, nur indem die Vernunft alles empirische verläßt, kann sie als Vernunft sich äusern. Das Ideal entsteht ja auch, logischer Weise, nur durch Abstraction von aller Erfahrung, und mit dieser wird ja der Naive Character aufgehoben. Ist aber die Erzeugung des Ideals nur durch Abstraction von aller Erfahrung möglich, wie soll es Erfahrung werden? Das griechische plastische Ideal ist zwar auch durch eine Abstraction erzeugt, aber nur durch eine Abstraction von bestimmten Erfahrungen, nicht von aller Erfahrung, und das ist ein unendlicher Unterschied. Jenes hat auch Homer in seinen Dichtungen ausgeübt, aber nicht dieses. Er hat Verstandes-, aber keine Vernunftideale.

Abends.

Der Kopf ist mir durch ein strenges Hinsehen auf meine Arbeit so angespannt, daß ich es dem Zufall überlassen muß, ob das hier Gesagte Ihnen meine Gedanken klar machen wird. Zu Auflösung von Zweifeln ist der Dialog fast unentbehrlich; eine Viertelstunde würde uns wahrscheinlich im Gespräch verständigen. Vielleicht lößt mein dritter Aufsatz Ihre Bedenklichkeiten ganz: wenigstens will ich erst erwarten, was dieser für eine Wirkung haben wird.

Eine Deduction beider Dichtungsweisen aus dem Begriff der Poesie, und die Deduction dieses Begriffs selbst würde mich doch zu lang in dem Felde meiner jetzig Untersuchung verweilen, und es ließe sich, da Alles mit allem zusammenhängt, nicht voraus berechnen, wie weit sie mich führen würde. Dem Innhalte nach, ist sie sowohl in meinen Briefen über aesthet. Erziehung als in den gegenwärtig 3 Aufsätzen gegeben.

Was auf die Aufsätze öffentlich erfolgen wird, bin ich wirklich begierig. Stille gehen sie nicht durch die Welt, und ihre größere Deutlichkeit erlaubt auch, daß man sich mehr darauf einläßt. Für die Horen ist es schon genug, wenn sie Aufsehen erregen, von welcher Art dieß auch seyn mag.

Göthe schreibt mir, er höre von mehrern Orten her, daß die Subscription auf die Horen zunehme. Seine Quellen sind aber nicht immer die reinsten. Cotta hat mir vor 8 oder 10 Tagen geschrieben, aber weder Gutes noch schlimmes den Debüt betreffend. Binnen 6 Wochen muß es sich ausweisen. Daß die letztere Hälfte mehr Glück gemacht hat als die erstere, ist wohl zu glauben.

So eben ist Schütz von mir gegangen, und was er mir von der unter Händen habenden Recension der Horen sagte, befreyt mich und vermuthlich auch Sie von einem großen Theil unserer Besorgnisse. Fürs erste hat Schlegel nicht nur alle Gedichte, sondern auch alle aesthetischen Aufsätze, (den Rhodischen Genius und las Casas mit eingerechnet) zur Recension bekommen, die er auch schon seit 8 Tagen eingeschickt hat, und so, daß Schütz mir einen recht schönen heiligen Christ damit zu bescheeren sich einbildet. Fürs zweyte hat er mir versichert, daß der Hallischen Annalen nicht erwähnt werden solle, und daß er sowohl die Würde der Horen als der litt. Zeitung zu sehr respectierte, um sich ihrer gegen den Hallischen Recensenten anzunehmen. Allgemeiner sarcastischer Winke, wie er sagt, habe er sich wohl bedient, und dieses Vergnügen wollen wir ihm auch gönnen, da es dazu dienen wird, die Feindschaft zwischen beyden Tribunalen offen zu halten. Da ich ihn nicht gespannt oder verlegen, sondern ziemlich degagiert und fidel fand, so schließe ich auch, daß er in Rücksicht auf unsere philos. Aufsätze ein gutes Gewissen haben muß, obgleich er mir darüber nichts sagte. Er spricht auch von einer großen Länge der Recension, und mich freut, daß er hierinn einigen Muth beweist, da man gerade die Länge der ersten so wenig hat verzeyhen können. Er offerierte mir, ob ich die Schlegelsche Recension erst im Mscrpt sehen wolle, welches ich nicht nöthig fand: sein eigenes Machwerk hat er mir nicht zu zeigen offeriert, und ich wollte durch eine solche Motion ihm kein Mistrauen zeigen. Vielleicht schickt er mir es aber doch noch zu, denn es erscheint erst auf dem zweyten Zeitungsbogen, wie ich vermuthe; da er die Aufsätze nicht nach den Monathstücken, sondern unter den 3 Rubriken, poetische, philos. und historische Aufsätze durchgeht. Ich habe in meinem Gewissen einige Torts gegen ihn, welches mich etwas milder gegen ihn macht, als ich sonst seyn würde. Ich glaubte nehmlich, als er sich weigerte, Schlegeln den ich ihm einmal vorschlug den poetischen Theil der Recension zu überlassen, daß er keinen rech guten Willen für uns habe, und ihn als einen zu partheyischen Freund verwerfe: daher hat mich die Nachricht wirklich angenehm überrascht. Auch Schlegel hat mir gestern selbst davon geschrieben, der ganz voll Feuer für die Horen ist. Die Recension selbst erscheint auf einigen SupplementBlättern, deren in diesem Jahre mehrere vorkommen sollen, weil die ordentlichen SupplementBände nicht zu Stande kommen. In spätestens 14 Tagen werden wir sie lesen.

Ich habe mir immer vorgenommen gehabt, Ihnen den Empfang der 50 Ldors zu melden, aber über andern Artikeln vergaß ich es immer. Ich danke Ihnen also hiemit schönstens für diese Besorgung 15 Ldors habe ich davon an Göthe u. 10 an Herder gegeben, welche beyde, besonders Göthe, sehr gut damit zufrieden schienen; 5 werde ich noch an die Mereau und an Woltmann vertheilen. Den Almanach habe ich noch nicht, obgleich es gerade nun ein Monat ist, daß Michaelis mir schrieb, er sollte mit der nächsten Post folgen und es liege bloß an dem Glätten, daß ich ihn noch nicht habe.

Heute schickte mir Woltmann endlich seine Oper und seine Tragödie; jene heißt der Gerichtshof der Liebe, diese Cecilie von der Tiver und ist eine Bremische Geschichte. Gleich die erste Scene ist auf dem Kirchhof zwischen einem Todtengräber und seiner Mutter. Soweit ich beym durchblättern sehe, ist redlich aus andern Schauspielen ausgeschrieben. Die letzten Worte der sterbenden Heldin sind: Freiheit! Freiheit! und damit endigt auch das Stück. Weiter habe noch nichts gelesen.

In der Oper finde ich beim Aufschlagen folgenden Vers:

Höher, als die Kraft, die sieget,
Wann das Feld von Lanzen starrt,
Die zum hohen Ziele flieget,
Wo der Dichtkunst Palme harrt,
Ist die Macht, die überwindet,
Was im Busen unsrer Pflicht
Ungewissen Kampf verkündet,
Und das Wort: Ich will es! spricht.

Leben Sie wohl l. Freund. An die Li von uns herzliche Grüße. Ihr

Sch.