HomeBriefeBriefwechsel mit Wilhelm v. HumboldtSchiller an Wilhelm v. Humboldt, 4. Januar 1796

Schiller an Wilhelm v. Humboldt, 4. Januar 1796

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Jena den 4. Jenn. [Montag] 96.

Sie haben mir, liebster Freund, in Ihren neuesten Briefen so vielen Stoff zum Nachdenken gegeben, daß ich Ihnen in meinen Antworten kaum in gleichem Verhältniß werde nachkommen können. Besonders ist die Frage: „in wiefern die individuell bestimmte Geistesform sich mit Idealität vertrage“ so wie auch der Satz: „daß die Ausbildung des Individuums nicht sowohl in dem vagen Anstreben zu einem absoluten und allgemeinen Ideal, als vielmehr in der möglichst reinen Darstellung und Entwicklung seiner Individualität bestehe, von äuserster Wichtigkeit. Ich werde darüber nachdenken und, was mir klar wird, Ihnen schreiben. So viel ist mir in Rücksicht auf das erste jetzt schon klar, „daß jede Individualität in dem Grade idealisch ist, als sie selbständig ist, das heißt, als sie innerhalb ihres Kreises ein unendliches Vermögen einschließt und dem Gehalt nach alles zu leisten vermag, was der Gattung möglich ist. Doch ich kann jetzt nicht mehr darüber sagen; denn Göthe, der bey uns ist, macht mir zu viel Lerm, und von einem Aderlasse, das ich heute vorgenommen, ist mir der Kopf eingenommen.“

Sie schrieben mir neulich nicht, welcher Schlegel Ihnen einen Aufsatz zur Kenntniß der Griechen geschickt. Doch wohl der aus Dresden?

Von Michaelis habe ich noch keinen Almanach erhalten und dank es Ihnen deßwegen doppelt, daß Sie mir 3 Exemplare so zeitig geschickt haben.

Heute habe ich auch meinen Aufsatz, die sent. Dichter betreffend, fürs erste Januarstück geendigt und abgeschickt. Ich hätte Ihnen eine Copie davon gesandt aber mein Abschreiber ist diese WeihnachtsFerien abwesend.

Heute nichts mehr. Hier zu Ihrer Unterhaltung einige fremde Sachen. Adieu mein theurer Freund. Ich schreibe d nächsten Posttag. Herzliche Grüße an Li. Ihr

Sch.

Spät Abends.

N. S.

Was Sie mir von dem Almanach schreiben, war mir sehr angenehm; denn daß mit Begierde darnach gegriffen wird, ist alles, was ich verlange. Diese Stimmung des Publikums macht doch die Existenz solcher Werke möglich; auf den innern Charakter der Produkte soll das Urtheil der Majorität hoffe ich bey mir nie einen Einfluß haben. Es ist mein ernstlicher Vorsatz, des Almanachs mich mit allen Kräften anzunehmen, und selbst das was ich in diesen Tagen anfange zu arbeiten, dürfte ihm wahrscheinlich zufallen. In diesem Jahre werde ich außer einigen leichten Anmerkungen zu der Schrift der Frau Staël, welche ich doch nicht so ganz kahl mag abdrucken lassen, und außer der Recension des Meisters, an welche ich etwas wenden will, mich ganz der Poesie ergeben.

Seitdem Goethe hier ist, haben wir angefangen, Epigramme von Einem Distichon im Geschmacke der Xenien des Martial zu machen. In jedem wird nach einer deutschen Schrift geschoßen. Es sind schon seit wenig Tagen über 20 fertig, und wenn wir etliche 100 fertig haben, so soll sortiert und etwa Ein hundert für den Almanach beybehalten werden. Zum Sortieren werde ich Sie und Körnern vorschlagen. Man wird schrecklich darauf schimpfen, aber man wird sehr gierig darnach greifen, und an recht guten Einfällen kann es natürlicher weise unter einer Zahl von hundert nicht fehlen. Ich zweifle ob man mit Einem Bogen Papier, den sie etwa füllen, so viele Menschen zugleich in Bewegung setzen kann, als diese Xenien in Bewegung setzen werden.